Das Haus in den Dünen

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7

Trevisan saß in seinem Büro und beobachtete die Regentropfen, die in feinen Rinnsalen am Fenster entlangliefen. Die Birken vor der Dienststelle wiegten sich im Wind. Die Gewitterfront hatte Wilhelmshaven erreicht, und es wurde mitten am Tag so finster, dass man die Neonleuchten einschalten musste, wollte man in den Akten lesen oder Bilder vom Tatort betrachten. Seine leichte Sommerjacke hatte er über dem Waschbecken zum Trocknen aufgehängt. Auf dem Weg von Miriam Kleeses Haus zurück zu seinem Wagen war er in einen Wolkenbruch geraten.

Schon als er seinen Audi in der Garage abgestellt hatte, war ihm aufgefallen, dass der Opel und auch der VW Passat fehlten. So war er nicht verwundert gewesen, dass alle Büros verwaist waren, als er durch den langen Gang des Dienstgebäudes in sein Büro gegangen war. Lediglich Frau Reupsch, die Schreibzimmerdame, saß vor ihrer Tastatur und hackte ellenlange Berichte in den Computer. Sie trug einen Kopfhörer und hatte Trevisan nicht bemerkt.

Hans Kropp war regelrecht hingerichtet worden. Wie viel Hass und Verachtung musste jemand für einen anderen Menschen empfinden, wenn er ihn zunächst fluchtunfähig machte, um ihm anschließend aus nächster Nähe in den Kopf zu schießen. Nach allem, was er von Kropps Halbschwester Miriam Kleese erfahren hatte, war das Mordopfer ein Mensch, dem es nichts ausmachte, wenn andere unter ihm litten. Im Gegenteil, er hatte es offenbar genossen. Hatte sein Mörder auch Kropps Tod genossen?

Auf jeden Fall war das Motiv für die Tat offensichtlich, denn schon die Tatausführung sprach für sich: grenzenloser Hass.

Trevisans Gedanken schweiften ab, er dachte an Griechenland, an das warme Wasser, das Rauschen der Wellen und an Angela. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis ihn der Alltag vollends wiederhatte und er seine volle Konzentration seiner Arbeit widmen konnte. Und ausgerechnet jetzt hatte sein Kommissariat zwei Todesfälle zu bearbeiten. Ein Glück nur, dass alle Kollegen bereits aus dem Urlaub zurückgekehrt waren.

Der Regen draußen ließ nach. Trevisan wandte sich wieder der Akte Kropp zu. Die Brüder der Exfrau standen ganz oben auf der Liste der Verdächtigen.

Die Sache mit dem Brandstifter war da weitaus verzwickter. In diesem Fall standen sie noch immer mit leeren Händen da. Er vertraute Monika und wusste, wie viel Energie sie in ihre Arbeit steckte. Überhaupt war ihm, seit er dem Wangerlandmörder das Handwerk gelegt hatte, klar geworden, dass er sich uneingeschränkt auf seine Kollegen verlassen konnte. Sogar der manchmal ein bisschen naive und schrullige Dietmar war zu einem ganz brauchbaren und verlässlichen Mitarbeiter geworden, auch wenn es gelegentlich ein paar Reibungspunkte gab.

Am meisten fehlte ihm Johannes Hagemann, sein alter väterlicher Kollege, der vor zwei Jahren gestorben war. In letzter Zeit war er nur wenig dazu gekommen, Johannes’ Grab auf dem Friedhof hinter dem Villenviertel zu besuchen.

Es klopfte.

»Herein!«, rief Trevisan.

Till Schreier steckte seinen Kopf durch die Tür. »Ah, da bist du ja endlich«, sagte er.

»Ich dachte, ihr seid alle ausgeflogen«, antwortete Trevisan.

»Dietmar, die Neue und Monika sind unterwegs und überprüfen Feuerwehrmänner, und Alex ist mit Tina nach Heppens gefahren«, erklärte Till. »Ich war oben im Computerraum und habe im Internet recherchiert.«

»Setz dich!«, forderte ihn Trevisan auf. »Wo drückt der Schuh?«

Till ließ sich mit einem Seufzer in den Stuhl vor Trevisans Schreibtisch fallen. »Ich habe die Bibelzitate überprüft, die der Brandstifter an den Tatorten hinterlassen hat. Ich glaube, ich bin da auf etwas gestoßen.«

Trevisan nickte. »Dann schieß mal los!«

»Ich glaube, der Täter geht chronologisch vor. Er verwendet ausschließlich Sprüche aus den Büchern Mose, beginnt bei Genesis und geht über Exodus zu den anderen Büchern. Der jüngste Spruch stammt aus dem Buch Levitikus.«

Trevisan hatte den Kopf auf seine Hände gestützt. »Bevor du mir einen langen Vortrag über Bibelkunde hältst: Ergibt sich aus deinen Recherchen ein neuer Ansatzpunkt?«

»Ich glaube schon«, antwortete Till. »Er ist bibelfest, hat es mit Schuld und Sühne, und das Alte Testament spielt im evangelischen Glauben eine untergeordnete Rolle.«

»Also könnte der Brandstifter Katholik sein«, folgerte Trevisan.

»Katholik oder Jude«, entgegnete Till. »Die katholische Kirche ist dem zeitgeistlichen Wandel unterworfen und hat mit der Verehrung Jesu als Gottes Sohn und seiner Mutter, der heiligen Maria, mittlerweile ebenfalls die neutestamentlichen Lehren in den Mittelpunkt gerückt. Der jüdische Glaube ist trotz seiner zweitausendjährigen Geschichte noch immer stark in den Traditionen des Tanach verwurzelt. Die Thora, beziehungsweise der Tanach hat für das Judentum zentrale Bedeutung. Die Bücher Mose stehen am Anfang. Sie heißen Bereschir, Schemar, Wajikra, Bemidbar und Debarim und entsprechen in etwa dem ersten Kapitel des Alten Testaments. Der einzige Unterschied ist, dass die Juden Gott als Jhwh oder Jahwe oder Jehova bezeichnen.«

»Und auf den Hinterlassenschaften des Brandstifters ist von Gott die Rede«, schob Trevisan ein.

»Ja, aber das kann auch daran liegen, dass sich bei den hier lebenden Juden das Sprachverständnis gewandelt hat.«

Trevisan kratzte sich an der Nase. »Du meinst also, dass unser gesuchter Brandstifter Jude sein könnte. Gibt es denn bei uns noch jüdische Gemeinden?«

»Die nächste aktive jüdische Gemeinde gibt es in Oldenburg«, entgegnete Till. »Aber das muss ja nicht zwangsläufig bedeuten, dass unser Täter in Oldenburg wohnt. Es gibt zum Beispiel in Neustadtgödens eine Synagoge, auch wenn das heute eine Galerie ist. Bestimmt wohnen auch in unserem Zuständigkeitsbereich noch oder wieder Menschen, die jüdischen Glaubens sind.«

»Da hast du recht«, stimmte Trevisan zögernd zu. »Ich hatte mal einen Bekannten in Sande, der sich um den Jüdischen Friedhof kümmerte. Ich glaube, er musste zum Gottesdienst eine längere Strecke fahren, obwohl es doch auch bei uns Synagogen gibt.«

»Die meisten Synagogen auf der ostfriesischen Halbinsel sind in der Pogromnacht zerstört worden, bis auf zwei oder drei. An die anderen erinnern bestenfalls Gedenktafeln.«

»Das heißt, es gibt bei uns Menschen jüdischen Glaubens, die nach Oldenburg zu ihren Gottesdiensten fahren müssen.«

»So ist es«, bestätigte Till. »Wenn wir über die Standesämter gehen, dann erfahren wir auch die Religionszugehörigkeit. Wir haben zwar bislang noch keine großartigen Anhaltspunkte, aber mit dem Kleinwagen und der vagen Beschreibung könnten wir den möglichen Täterkreis ganz gehörig einengen. Zumindest blieben erheblich weniger Überprüfungen hängen, wenn wir das Raster enger fassen könnten, als wenn man sich ausschließlich auf Feuerwehrmänner versteift.«

»Du solltest das mit Monika besprechen«, antwortete Trevisan. »Es könnte etwas dran sein. Aber vergiss nicht, es ist nur eine Annahme. Wenn wir uns zu schnell verrennen, dann stehen wir am Ende mit leeren Händen da.«

»Ich wollte ja mit Monika darüber sprechen, aber sie hat mich zu dir geschickt. Ich glaube, sie ist in letzter Zeit schlecht drauf.«

Trevisan überlegte. Eigentlich hatte er die Ermittlungsarbeit an den beiden Fällen unter den Kollegen aufgeteilt.

»Monika ist davon überzeugt, dass wir es mit einem Feuerwehrmann zu tun haben«, warf Till ein. »Ich glaube nicht, dass sie meine Theorie ernst nimmt.«

»Und jetzt soll ich mit ihr sprechen?«

»Ich dachte nur, schließlich bist du Kommissariatsleiter.«

Trevisan fuhr sich über das Kinn. »Wie lange wirst du für die Überprüfung brauchen?«

»Ein, zwei Tage, bis ich alle Standesämter abtelefoniert habe.«

Trevisan räusperte sich. »Also gut, leg los! Ich werde mit Monika reden. Vielleicht finden wir auf deiner Liste sogar einen Feuerwehrmann. Warum sollten wir nicht ein bisschen Glück haben.«

Es pochte an der Tür.

»Ja«, rief Trevisan.

Alex stürmte in das Büro. »Wer sollte ein bisschen Glück haben?«, fragte er mit einem Lächeln. Tina folgte im Schlepptau und legte einen Packen Briefe auf Trevisans Schreibtisch.

»Was ist das?«, fragte er verdutzt.

»Ein kleines bisschen Glück, würde ich sagen«, antwortete Alex.

*

Er bereitete sich vor. Es war alles ganz einfach. Das Benzin entnahm er mit einem langen Schlauch dem Tank seines Wagens. Er hatte sein neues Ziel ausgewählt.

Und du wirst tappen am Mittag, wie ein Blinder tappt im Dunkeln, und wirst auf deinem Wege kein Glück haben und wirst Gewalt und Unrecht leiden müssen dein Leben lang, und niemand wird dir helfen.

Das Wochenende stand bevor. In der Gegend fand der all­jähr­liche Bockhorner Markt statt. Vielleicht würde er morgen ein paar Stunden dort zubringen, das ein oder andere Bier trinken und dazu frische Krabbenbrötchen essen. Aber zuerst musste er alles für den morgigen Tag vorbereiten.

Ob Swantje auch auf den Bockhorner Markt gehen würde? Vielleicht würde er sie sogar treffen und ein paar Worte mit ihr wechseln. Bockhorn war zwar nicht Amerika, aber immer­hin war es jedes Jahr ein schöner, gemütlicher Markt, der sich rund um die Straßen und Plätze der Stadt formierte.

Du sollst fröhlich sein über alles Gut, das der Herr, dein Gott, dir und deinem Hause gegeben hat.

»Hast du die Scheune aufgeräumt?«, riss ihn die Frage seiner Mutter aus den Gedanken. »Den ganzen Tag schraubst du an deiner alten Karre herum und alles andere bleibt liegen. Wenn doch noch Vater hier wäre, der würde dir die Hammelbeine schon lang ziehen. Aber ich alte, schwache Frau …«

»Ich mache es gleich, wenn ich hier fertig bin«, beeilte er sich zu sagen. »Es dauert nur noch ein paar Minuten.«

 

Den Benzinkanister schob er mit dem Fuß zur Seite, so dass er hinter dem Wagen aus dem Blickfeld der Mutter verschwand.

»Das will ich auch hoffen«, antwortete sie. »In ein paar Stunden kommt Hilko und will seinen Wohnwagen unterstellen. Ich habe es ihm versprochen. Also sieh zu, dass du endlich fertig wirst.«

Er nickte eifrig, bevor die Mutter hinter dem Haus verschwand. Innerlich zerbiss er einen Fluch. Den ganzen Tag nörgelte sie an ihm herum. Kaum war er aufgestanden, schon erteilte sie ihm Aufträge. Tu dies, tu das, mach schnell, werde endlich fertig, sei nicht so lahm, beeil dich, er hatte es satt, gründlich satt. Bald würde der Tag kommen, an dem dieses andauernde Kommandieren ein Ende hätte. Schließlich war Mutter schon vierundsiebzig. Aber sie hatte ein starkes Herz und eine Konstitution wie ein Ochse. Ihr Leben in Arbeit, jahraus, jahrein an der frischen Luft, hatte sie gestählt. Damals, als Vater Geld dazuverdienen musste und in einem Betrieb arbeitete, hatte sie alleine den Hof bewirtschaftet.

In den vergangenen Jahren hatte sich viel verändert. Auf einem Drittel der Felder standen jetzt Windkrafträder und mit jeder Umdrehung floss Geld in die heimische Kasse. Kein Vermögen, aber genug für ein sorgenfreies Leben. Dennoch, es gab immer etwas zu tun. Aber das war nicht das Problem. Nein, es war diese verdammte Einsamkeit.

Er schraubte den Kanister zu und legte ihn in den Wagen.

Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen …

*

Monika Sander war an diesem Freitag spät auf die Dienststelle zurückgekehrt. Ihre Ermittlungen waren wieder einmal nicht vorangekommen. Unterdessen hatte sich Trevisan mit Alex und Tina abgesprochen. Sie konzentrierten sich auf die Brüder der Exfrau von Hans Kropp. Die hatten über zwanzig Briefe geschrieben, in denen sie Hans Kropp drohten, von ihm Geld forderten und ihm Prügel, ja sogar den Tod in Aussicht stellten. Ein besserer Ansatz für ein Motiv war schwerlich zu finden. Trevisan hoffte, am Ende der nächsten Woche zwei Verhaftungen vornehmen und den Fall abschließen zu können.

Aber damit war Monika nur wenig geholfen. Sie trat auf der Stelle. Noch immer suchte sie vergeblich nach Hinweisen und jedem war klar: Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Brandstifter wieder zuschlagen würde. Würde es diesmal wieder einen Toten geben? Hatte der Feuerteufel inzwischen Gefallen am Töten gefunden?

Als Trevisan sie mit verschränkten Armen und starrem Blick an ihrem Schreibtisch sitzen sah, betrat er leise das Büro, stellte sich hinter sie und massierte ihr den Rücken. Monika seufzte.

»Und, bist du weitergekommen?«, fragte er leise.

Monika richtete sich auf. »Sinnlose Befragungen, unendliche Listen von Verdächtigen«, klagte sie. »Wir sind noch genauso schlau wie zuvor. Und Schneider ist ein überhebliches und arrogantes Arschloch. Er hat gar nichts getan. Nun reibt er sich die Hände und ich kann mir die Hacken ablaufen.«

»Ich habe von deinem Disput mit Schneider schon gehört«, erwiderte Trevisan. »Er war vor Jahren einmal der Karrierebeamte innerhalb unserer Direktion. Immer präsent, wenn es darauf ankam, und in aller Munde. Wusste alles, schaffte alles und war sich für nichts zu schade. Damals hätte ich darauf gewettet, dass er der neue Inspektionsleiter wird.«

Monika schaute verwundert. »Und warum ist er heute nur Leiter des FK 3?«

»Der Suff«, antwortete Trevisan. »Sein Erfolg war ihm wohl zu Kopf gestiegen. Da ein kleines Bierchen im Dienst, dort ein Likörchen. Am Ende stolpert der Hochmut über seine eigenen Beine.«

»Er wurde erwischt?«

»Er fuhr nach Hause und erwischte an der ersten Kreuzung den Ampelmast«, erklärte Trevisan. »Er ist weitergefahren, allerdings auf der Felge. Die Kollegen von der Streifenpolizei haben ihn im Jadeviertel gestellt. Man erzählt, er sei großkotzig ausgestiegen und habe sich gleich als neuer Inspektionsleiter präsentiert. Als das nichts nutzte, bot er ihnen Geld. Es gab ein großes Verfahren. Er bekam eine saftige Geldstrafe und war zehn Monate seinen Führerschein los.«

»Aber er blieb im Dienst und ist jetzt Leiter des FK 3.«

»Die Zeit verging und irgendwann ist jeder einmal dran. Und jetzt macht er nur noch seinen Job. Karriere ade.«

»Er ruht sich im Büro aus«, widersprach Monika kratzbürstig. »Das nennst du seinen Job machen?«

»Er macht seinen Job«, wiederholte Trevisan. »Ich habe nicht gesagt, dass er ihn gut oder engagiert macht. Er macht ihn halt, weil er hier sein Geld verdient. Er hat nichts anderes gelernt.«

»So wie es viele machen«, resignierte Monika. »Sie eröffnen ein Verfahren, sie ermitteln, wie sie gerade lustig sind, und schließen es irgendwann ab. Und ihnen ist scheißegal, ob sie einen Täter ermitteln oder die Sache im Sande verläuft. Hauptsache, das Gehalt fließt und sie haben ihre Ruhe.«

»Genau, deswegen brauchen wir das Leistungsprinzip im Berufsbeamtentum«, antwortete Trevisan spöttisch. »Beurteilungen, Beförderungen, Stellenbesetzung. Alles wird jetzt besser, wir arbeiten nach den Methoden der freien Wirtschaft.«

»Und daran glaubst du wirklich?«

»Hat schon einmal jemand beim Pferderennen versucht, mit einem Maulesel den Großen Preis von Bahrenfeld zu gewinnen?«

Monika lächelte und schüttelte den Kopf.

»Und ebenso wenig wird das Berufsbeamtentum die vorderen Plätze in der Wirtschaftswoche belegen. Und jetzt lass uns gehen. Genieß das Wochenende, wir machen am Montag weiter.«

Monika seufzte, schließlich nickte sie und erhob sich.

»Ach, bevor ich es vergesse«, sagte Trevisan, als sie gemeinsam die Dienststelle verließen. »Till ist da auf etwas gestoßen. Er hat, glaube ich, schon mit dir darüber zu reden versucht. Du hast ihn zu mir geschickt.«

»Stimmt«, antwortete Monika. »Er hat mir auf dem Gang etwas über die Bibelzitate gesagt, aber ich kam gerade von Schneider und war noch geladen.«

»Ich habe ihm zwei Tage gegeben. Mal sehen, was dabei herauskommt. Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast. Schließlich gehört er zu deinem Team.«

»Schon okay«, sagte Monika. »Bis Montag dann.«

»Wir sehen uns.«

8

Trevisan stand vor dem Spiegel im Badezimmer und betrachtete sein müdes Gesicht. An den neu hinzugekommenen Falten war unschwer zu erkennen, dass die Jahre unbarmherzig ins Land zogen. Dabei fühlte er sich überhaupt nicht alt. Vierundvierzig war ja auch kein Alter, obwohl natürlich in seiner Jugendzeit ein Vierzigjähriger schon fast als Opa gegolten hatte. Nein, er fühlte sich noch immer jung.

Er dachte an seinen ersten Tag im Polizeidienst, an die Ausbildung, an die vielen Freundschaften, die er geschlossen hatte und die leider im Laufe der Jahre in Vergessenheit geraten waren, weil sich die Wege trennten. Er dachte an Grit, seine Exfrau, die ihm vor zwei Jahren davongelaufen war und Paula zurückgelassen hatte, um Karriere zu machen. Er erinnerte sich an den Tag, als er Angela kennengelernt hatte. Er erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen.

Er grinste sein Spiegelbild an. Es war schön, nach Hause zu kommen, wenn jemand auf einen wartete. Angela war gestern Abend aus Hamburg zurückgekehrt und betätigte sich gerade als Hausfrau. Er wünschte, es würde ewig so bleiben, doch irgendwie hatte er dabei ein komisches Gefühl. Erst vorgestern, als sie miteinander telefoniert hatten, hatte er ihr gesagt, wie wundervoll die Wochen für ihn gewesen waren, als sie beinahe wie eine richtige Familie zusammengelebt hatten. Angela hatte nur gelacht und geantwortet, dass sie sich ein Leben als Hausfrau überhaupt nicht vorstellen könne, ihr würde bestimmt schon nach kurzer Zeit die Decke auf den Kopf fallen. Er hatte schnell das Thema gewechselt. Es war müßig, darüber nachzudenken, wie das Leben aussehen könnte. Es war nun einmal, wie es war, und damit musste er sich zufriedengeben.

Er legte die Haarbürste zurück auf den Schrank und verließ das Badezimmer.

»Hast du Hunger?«, empfing ihn Angela im Flur.

»Wo ist Paula?«, erwiderte er.

Angela deutete nach oben. »In ihrem Zimmer, ihre Freundin Anja ist bei ihr. Sie will hier schlafen. Ihre Mutter hat nichts dagegen. Morgen wollen sie mit dem Zug nach Oldenburg zum Shoppen.«

Trevisan verzog das Gesicht. »Das geht wieder ganz schön ins Geld.«

»Lass sie. Man ist nur einmal jung. Was ist jetzt, hast du Hunger?«

Trevisan lächelte. »Wie ein Wolf.«

»Dann kannst du dir aussuchen, ob wir zum Italiener gehen oder thailändisch speisen.«

»Und Paula?«

Monika lächelte. »Sie haben schon eine Pizza verdrückt.«

Trevisan zuckte die Schulter. »Na, wenn das so ist. Ich hätte Lust auf etwas Antipasti von mediterranem Gemüse in Olivenöl-Balsamico-Marinade mit gebratenen Gambas in frischem Basilikumpesto …«

»Schon gut, also zum Italiener«, unterbrach Angela Trevisans Schwärmerei. »Ins Vesuvio oder zu Fazios?«

Trevisan überlegte. »Lass uns in die Ebertstraße gehen, ich hätte heute Lust darauf.«

Das Fazios lag unmittelbar neben der Nordseepassage im City Hotel Valois. Das Lokal war gut besucht, dennoch fanden Angela und Trevisan einen Tisch für zwei Personen in einer kuscheligen Ecke. Trevisan trug seinen leichten Sommeranzug und ein weißes T-Shirt, während Angela ein schwar­zes Trägerkleid angezogen und die Haare hochgesteckt hatte. Das Fazios war ein Restaurant von gehobenem Ambiente. Trevisan bestellte ein Carpaccio vom Rind mit Zitrone als Vorspeise, dazu eine Flasche Amarone Della Valpolicella. Der Kellner nickte freundlich.

»Hast du heute etwas zu feiern?«, fragte Angela, als der Kellner um die Ecke verschwunden war.

»Wie kommst du darauf?«

»Das Fazios, Vorspeise, ein Rotwein um die dreißig Mark. Bist du befördert worden?«

»Ich hätte es zumindest bald verdient«, entgegnete Trevisan.

Angela lächelte.

»Was hast du heute gemacht?«, wechselte er das Thema.

»Ich habe heute lange geschlafen. Das Telefon hat mich geweckt.«

»Du Arme.«

Angela schüttelte den Kopf. »Es war ein wichtiger Anruf.«

»Unser Versicherungsagent, die Lottogesellschaft oder eine Meinungsumfrage?«, scherzte Trevisan.

»Weder noch«, erklärte Angela. »Du erinnerst dich doch, dass ich dir von diesem Verlag aus München erzählt habe.«

Trevisans Lächeln erfror. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber es gelang ihm nicht.

»Was hast du?«, fragte Angela besorgt.

»Nichts«, erwiderte Trevisan eilig. »Was war mit dem Anruf?«

»Ich habe gute Chancen, den Job zu kriegen«, fuhr Angela fort. »Die Chefredaktion, verstehst du?«

Trevisan schaute aus dem Fenster.

»Ich weiß genau, was du jetzt denkst«, holte ihn Angela aus seinen düsteren Gedanken zurück. »Ich bin keine Hausfrau, das habe ich dir immer gesagt. Schon, als wir das erste Mal zusammen waren.«

»Aber München«, wandte Trevisan ein.

»Hamburg, Westerwerde, München, wo ist der Unterschied?«, fragte Angela irritiert.

»Sagen wir, rund achthundert Kilometer«, entgegnete Trevisan trocken.

»Du hast immer gewusst, dass ich meinen Beruf sehr ernst nehme. Ich sagte dir ständig, die Karriere ist mir wichtig. Ich würde sie nie aufgeben.«

»Ich dachte, dir gefällt es, wenn wir zusammen sind, du und ich und Paula …«

»Das hat damit gar nichts zu tun«, erwiderte Angela streng. »Kündige doch deinen Job und geh mit mir nach München. Der Mann hat nicht automatisch mehr Rechte, nur weil er in der Steinzeit für die Verköstigung der Familie sorgte. Wir leben im 21. Jahrhundert. Und es gibt Flugzeuge und einen ICE, der fast stündlich verkehrt. Es würde sich nichts ändern.«

Trevisan nickte. »Eben, es würde sich nichts ändern.«

»Du kennst doch meine Devise, die eigene Zukunft …«

»… finden, heißt auch, auf eigenen Beinen zu stehen«, vervollständigte Trevisan. Er hatte diesen Ausspruch schon oft gehört, dennoch versetzte er ihm immer wieder einen Stich mitten ins Herz. »Angela, ich liebe dich. Ich möchte mit dir zusammen sein. Ich will nicht, dass du nach München gehst.«

Der Kellner näherte sich.

»Ich liebe dich ebenso, aber ich kann kein Leben in einem goldenen Käfig führen«, erwiderte Angela. »Ich will all meine freie Zeit mit dir und Paula verbringen. Aber das Leben besteht aus mehr als aus Liebe und Gemeinsamkeit. Wenn ich keine Aufgabe hätte, keine Herausforderung mehr spüre, kein Ziel mehr verfolgen dürfte, ich würde … ich wüsste nicht … Bitte zwing mich nicht, zwischen dir und meinem Beruf eine Entscheidung zu treffen. Es wäre, als wenn du mich zwingst, ein Teil von mir herauszuschneiden. Und egal, wie ich mich entscheiden würde, zurückbleiben würde nur der Schmerz und ich wüsste genau, irgendetwas würde mir fehlen. Entweder das eine oder das andere. Es geht nicht darum, was mir wichtiger im Leben ist, es geht nur darum, dass man sich nicht selbst innerlich zerreißt, das habe ich schon einmal durchgemacht und es hat unendlich wehgetan, verstehst du?«

 

Angelas flehendes Flüstern verstummte, als der Kellner den Wein auf dem Tisch platzierte.

Trevisan wusste genau, was sie meinte. Nur seine Gefühlswelt kam damit nicht klar.

Der Kellner servierte das Carpaccio.

Angela schwieg, bis der Kellner wieder verschwand.

»Lass uns morgen darüber reden«, sagte sie. »Wir sind hierher gekommen, um zu essen. Ich …«

»Schon gut, ich verstehe, was du mir sagen willst«, entgegnete Trevisan. »Es ist nur nicht leicht für mich, es zu akzeptieren. Ich brauche Zeit, um damit klarzukommen.«

Trevisan aß, aber der Appetit war ihm vergangen.

*

Der flackernde Schein des Feuers erhellte die Nacht. Er hatte sich auf einen Baumstumpf in der Nähe niedergesetzt und genoss den züngelnden Tanz der Flammen. Immer höher schoss die Flammensäule in den Nachthimmel. Funken stoben hervor und verglühten nach einem kurzen Flug in der Dunkelheit. Eine graue Rauchsäule wuchs in den Himmel. Zufrieden seufzte er. Noch war der Brand in seiner Ausbreitungsphase, noch hatten die Flammen nicht jeden Punkt des Gebäudes erreicht. Dennoch wusste er, der Lichtschein war weit hinaus zu sehen. Am liebsten würde er bleiben, bis das letzte Leben in seinem Kind erloschen war, doch er wusste, dass er gehen musste. Er erhob sich, und verstaute seine Utensilien im Rucksack. Niemand durfte ihn in der Nähe sehen, niemand durfte sich auch nur einen vagen Eindruck von ihm verschaffen. Dennoch würde er in der Nähe bleiben, bis das letzte Licht erlosch.

Irgendwie war es gespenstisch. Im flackernden Licht erschien es, als ob die Bäume rund herum zum Leben erwacht wären. Er griff nach dem schwarzen Kanister, dann machte er sich auf den Weg. Der kleine, ausgetretene Trampelpfad führte durch den Wald. Niemand war um diese Zeit hier unterwegs. Er warf einen letzten Blick zurück. Das Feuer hatte nun das ganze Gebäude erfasst. Kurz blieb er stehen. Seine Augen glänzten. Schließlich stürzte das Dach unter lautem Donnern ein. Der Höhepunkt war erreicht. Er ging weiter. Auch wenn es bereits nach Mitternacht war, konnte er nicht ausschließen, dass jemand das Feuer entdeckt hatte. Es gab immer ein paar Augenpaare, die keine Ruhe in der Nacht fanden, egal wie spät es war.

Er beeilte sich, aber er rannte nicht, er hatte sein Tempo gefunden. Es nutzte nichts, wenn er über einen Baumstumpf stolperte und sich ein Bein brach. Seine Aufgabe hier in dieser Welt war längst noch nicht erfüllt. Für den Rest des Pfades, der durch eine kleine Schonung mit Jährlingen führte, nahm er sich Zeit. Hier war das Gelände noch unwegsamer als zuvor.

Dahinter lag die Straße. Dort hatte er verdeckt auf einem Waldparkplatz seinen Wagen abgestellt. Er überwand mit traumwandlerischer Sicherheit die letzte Hürde. Als er sich ins Auto setzte, atmete er erst einmal durch. Dann ließ er den Motor an, legte den ersten Gang ein und fuhr langsam hinaus auf die Landstraße nach Friedeburg. Zuvor schaute er sich noch einmal um, weit und breit war niemand zu sehen. Und das Feuer des Herrn brach mitten unter ihnen aus und griff am Rande des Lagers um sich. In ihrer Angst wandten sie sich an den Propheten und er betete für sie. Siehe da, das Feuer erlosch und von nun an hieß dieser Ort Tabera. Und er ward ihnen heilig.

*

02.37 Uhr zeigten die roten Ziffern des Radioweckers, als das Klingeln des Telefons Monika aus dem Schlaf schreckte.

Der Feuerteufel hatte wieder zugeschlagen. Er hatte eine Waldhütte bei Schoost angesteckt. Monika war sofort hellwach. »Wurde jemand getötet?«

»Bislang wissen wir es noch nicht«, erwiderte der Kollege vom Bereitschaftsdienst. »Die Feuerwehr ist noch zugange.«

»Ich komme«, beeilte sie sich zu sagen und legte auf.

Kleinschmidt schimpfte wie ein Rohrspatz, als Monika zusammen mit Dietmar Petermann am Brandort eintraf.

»Schöne Scheiße, das hier! Eine einfache Waldhütte und kein Mensch weit und breit. Dafür holt man mich aus dem Bett und ich kann mir hier die Nacht um die Ohren schlagen. Dabei feiert meine Schwester heute ihren Sechzigsten. Wir sind alle eingeladen. Um zehn treffen wir uns bei ihr, dann gehen wir in ein Gasthaus zum Essen. Aber das kann ich jetzt vergessen.«

»Es ist erst vier Uhr«, antwortete Dietmar Petermann sarkastisch. »Wenn du dich beeilst, dann kommst du zumindest rechtzeitig zum Geburtstagsmenü.«

Kleinschmidt winkte ab. »Die Feuerwehr braucht noch etwas Zeit, bevor wir ran können.«

»Wie sieht es aus?«, fragte Monika und schaute auf den qualmenden Schuttberg, der sich vor ihr im Licht einiger Scheinwerfer zeigte. Zwei Tanklöschwagen standen auf dem Feldweg und mindestens zwanzig Feuerwehrleute waren mit Löscharbeiten beschäftigt.

»Er hat sich diesmal ein ganz entlegenes Objekt ausgesucht«, entgegnete Kleinschmidt. »Ich denke nicht, dass wir eine Leiche finden werden. Es ist eine Hütte der Forstbehörde. Ein Lagerraum für Werkzeug.«

»Und woher weißt du, dass es der Feuerteufel war?«

Kleinschmidt ging zum Wagen, den er auf dem Feldweg abgestellt hatte. Als er zurückkehrte, streckte er Monika eine Tüte entgegen. »Das lag auf dem Baumstumpf dort hinten.«

Es war ein Din-A4-Blatt. Monika las laut: »Und das Feuer des Herrn brach mitten unter ihnen aus und griff am Rande des Lagers um sich. In ihrer Angst wandten sie sich an den Propheten und er betete für sie. Siehe da, das Feuer erlosch und von nun an hieß dieser Ort Tabera. Und er ward ihnen heilig.«

Ein Feuerwehrmann kam auf die Gruppe Kriminalbeamter zu. »Wir sind jetzt durch. Ich kann definitiv sagen, dass da keiner drinnen war.«

»Dann war die Sache am Hafen wohl doch nur Zufall«, mutmaßte Dietmar.

»Wir machen uns jetzt an die Spurensicherung«, erklärte Kleinschmidt. »Die Feuerwehr unterstützt uns. Aber ich sehe nicht viel Hoffnung. Den äußeren Bereich haben wir schon oberflächlich abgesucht und falls es Reifenspuren auf dem Weg gab, haben die schweren Laster sie überrollt.«

»Dann könnten wir ja praktisch wieder nach Hause«, sagte Dietmar.

»Wir bleiben hier«, entschied Monika. »Horst wird bei der Spurensuche jede Hilfe gebrauchen können.«

Dietmar verzog das Gesicht. »Na gut, und wo fangen wir an?«

Kleinschmidt deutete in Richtung des südlichen Waldstückes. »Du nimmst vier Mann und suchst das Wäldchen dort unten ab. Die Feuerwehrmänner haben Taschenlampen und starke Scheinwerfer dabei.«

»Sollten wir nicht warten, bis es hell geworden ist?«, fragte Dietmar.

Kleinschmidt schaute in den sternenlosen Himmel. »Es ist bewölkt, wir können nicht ausschließen, dass es regnet. Erinnere dich an die goldenen Regeln der Spurensicherung, oder liegt dein Lehrgang schon zu lange zurück?«

Dietmar schniefte. »Schon gut.«

»Ich werde mich mit Hanselmann um den Brandort kümmern, nehmt ihr euch die Umgebung vor. Es sind zwei Wehrleute aus Schoost dabei, die kennen sich hier gut aus. Ich werde sie zu euch schicken.«

Monika warf einen Blick auf ihre Schuhe.

Kleinschmidt bemerkte es. »Ich habe Gummistiefel im Wagen, die müssten dir passen.«

»Also los, dann an die Arbeit, Dietmar. Vielleicht reicht es dann wirklich noch zum Geburtstagsessen«, entgegnete Monika.