Verschollen in Ostfriesland

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3

Rathaus Diekenhörn, Störtebeker-Platz

Das Rathaus von Diekenhörn verbarg sich hinter zwei großen Platanen, die auf einem begrünten Vorplatz standen. Nur der hohe Turm inmitten des roten, modernen und dreistöckigen Backsteinbaus mit den großflächigen Glasfronten und der weit sichtbaren Turmuhr lugte zwischen den Bäumen hervor. Auf dem Vorplatz flatterten die Fahnen von Europa und Deutschland, gegenüber die Fahne Niedersachsens und die Fahne der Stadt, zwei gekreuzte Schwerter und darunter der friesische Adler. Die Fahne war in Schwarz und Weiß gehalten.

Das Rathaus stand in Deichhagen, dem größten Teilort der Samtgemeinde. Diekenhörn selbst gab es als einzelnen Ort nicht. So etwas kam hier oben im Norden öfter vor.

Rund um den Platz lagen die Geschäfte, darunter ein kleiner Einkaufsmarkt, eine Apotheke, zwei Modegeschäfte und ein Schuhladen, daneben gab es zwei Cafés, deren Außenbestuhlung nur durch die unterschiedlichen Farben der Sonnenschirme zu unterscheiden war. Die Cafés waren im Begriff zu schließen, und der Parkplatz war nahezu leer. Die Sonne stand bereits tief im Westen, dennoch war es recht warm.

Monika und Trevisan betraten das Rathaus über die grauen Gehwegpflastersteine und das große Portal mit der Drehtür. Im Foyer war es überraschenderweise angenehm kühl. Hinter einem Empfangspult, an dem allerlei Prospekte und Kartenmaterial aus der Umgebung auslagen, saß ein älterer Herr im schwarzen Sakko und mit ergrauten Haaren.

»Zu Frau Haferkamp«, sagte Trevisan zu dem Mann und nickte ihm freundlich zu.

Der Mann zeigte hinter sich zur Wand, an der eine große weiße Uhr mit dem Emblem der Seenotrettung aufgehängt war. »Wir schließen in fünf Minuten.«

Trevisan fasste in die Hosentasche und zog seine Kripomarke hervor. »Ich denke, Frau Haferkamp hat sicherlich noch für uns Zeit.«

Der bärbeißige Pförtner griff zum Telefon.

»Da sind ein Herr und eine Dame von der Polizei«, sagte er.

Es dauerte ein klein wenig, bis er nickte. »Ja, zu Ihnen.«

Nachdem der Pförtner aufgelegt hatte, wies er zur Treppe. »Dritter Stock, Zimmer 303, nach der Treppe rechts. Sie können aber auch den Fahrstuhl nehmen.«

Trevisan bedankte sich bei dem Mann. Sie nahmen die Treppe, denn Bewegung tat gut. Vor dem Zimmer 303 blieben sie stehen.

»Vorzimmer – Bürgermeister«, stand auf dem Türschild und darunter der Name der Sekretärin. Der Bürgermeister residierte im Raum 301, das Zimmer mit der Nummer 302 lag dazwischen. Trevisan klopfte.

Frau Haferkamp öffnete mit gespannter Miene die Tür. Trevisan schätzte die Frau auf Mitte 60. Ihr ergrautes, zum Zopf gebundenes Haar lag eng am Kopf an. Mit dem dunklen Rock, der hochgeschlossenen weißen Bluse und der schwarzen Strickjacke darüber wirkte sie wie eine Nonne aus einem Kloster. Ihre Züge waren hart und streng.

»Guten Tag, gibt es etwas Neues von Herrn Ollmert?«, fragte sie und ging einen Schritt zur Seite.

Trevisan zeigte seine Dienstmarke. »Martin Trevisan und meine Kollegin Monika Sander. Wir sind vom 1. Fachkommissariat in Wilhelmshaven und haben den Fall übernommen.«

Die Frau wies auf die Stuhlreihe an der Wand, an dem wohl normalerweise die Bittsteller Platz nahmen, die einen Termin mit dem Bürgermeister hatten oder anstrebten. Wie eine Sünderbank, dachte sich Trevisan, als er sich setzte. Monika nahm daneben Platz, während sich die Sekretärin hinter ihren Schreibtisch zurückzog.

»Sie sind von der Mordkommission, richtig«, feuerte sie ihre erste Feststellung ab.

Trevisan nickte. »Unter anderem bearbeiten wir Mordfälle.«

»Ich kenne Sie aus dem Fernsehen, damals, vor einem Jahr, als dieser Fernfahrer ermordet wurde, da gab es eine Pressekonferenz.«

»Kann sein«, bestätigte Trevisan. »Aber heute sind wir wegen Enno Ollmert hier. Er gilt noch immer als vermisst.«

»Ja, der Arme, wer weiß, was da passiert ist.«

»Wie lange arbeiten Sie schon im Rathaus?«, fragte Monika.

Die Frau lächelte. »Schon mein ganzes Leben«, entgegnete sie. »Ich fing ganz unten an der Pforte an. Damals gab es das neue Rathaus noch nicht, da waren wir in Basdorf. Später dann beim Einwohnermeldeamt, und dann fragte mich Ollmerts Vorgänger, Bürgermeister Heese, ob ich mir vorstellen könnte, das Vorzimmer zu machen. Das mache ich nun seit elf Jahren.«

»Wie war Ihr Verhältnis zu Herrn Ollmert?«

Die Frau wackelte mit dem Kopf hin und her und blies die Wangen auf. »Na, was soll ich sagen. Er war immer korrekt zu mir, und er konnte sich auf mich verlassen.«

Trevisan richtete sich auf. »Er soll manchmal ein klein wenig sorglos gewesen sein, hört man.«

Wiederum plusterte sich die Frau auf. »Sorglos, na ja, er hatte manchmal nicht den richtigen Draht, mit den Dingen umzugehen. Hin und wieder verbummelte er einen Termin, aber sonst war alles in Ordnung.«

»Und Herr Heese, sein Vorgänger?«, fragte Trevisan, der aus der Wortwahl der Frau erkannte, dass sich Ollmert wohl nicht immer so verhalten hatte, wie es sich Frau Haferkamp wünschte.

Diesmal wuchs sie in ihrem Stuhl. »Gut, Herr Bürgermeister Heese war natürlich von ganz anderer Natur. Er kam ja aus der Verwaltung und kannte sich aus. Als er damals verkündete, dass er nicht mehr zu Wahl antreten wird, da dachten alle, eine Welt bricht zusammen. Aber gut, irgendwie musste es ja weitergehen.«

»Ollmert wurde gewählt«, vervollständigte Monika den Gedanken der Frau.

Sie wiegte den Kopf hin und her. »Sogar im ersten Wahlgang.«

»Wer war der Konkurrent?«

Frau Haferkamp winkte ab. »Ach so ein Rechtsanwalt aus dem Ruhrpott, da war es schon besser, dass ein Friese das Rennen macht. Schließlich gehören wir zu einer großen Gemeinschaft und haben gute Verbindungen untereinander. Nach Dornum oder Norden oder auch nach Westerholt. Hier hilft man sich. Wenn mal ein Baum auf der Straße liegt und wir sind in der Nähe, dann räumen wir ihn weg, auch wenn er bei denen aus Dornum liegt. Und die von Dornum sehen es genauso. Nein, war schon besser so.«

»Ich verstehe«, entgegnete Monika. »Also ist er beliebt bei den Leuten.«

Die Sekretärin griff zu einem Kugelschreiber, der auf dem Schreibtisch lag, und ließ ihn durch die Finger gleiten. »Zu Anfang schon, ich meine, er kam vom Fernsehen, ist sogar prominent, sieht gut aus, stellt etwas dar und kann sehr gut reden, aber er hätte sich manchmal auch an seine Worte halten sollen. Die Leute merken sehr schnell, wenn da nichts vorwärtsgeht.«

»Das heißt, er redet viel und tut wenig?«

»Manchmal ist eben Schweigen Gold«, entgegnete die Frau geheimnisvoll.

»Ist deswegen seine Wiederwahl nicht sicher?«

Wiederum wiegte Frau Haferkamp abschätzend den Kopf hin und her. »Na, sagen wir, es könnte knapp werden, denn es gibt einige aus dem Stadtrat, die meinen, wir wären besser ohne ihn dran.«

»Und was meinen Sie?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, ich halte mich da raus.«

Trevisan räusperte sich. »Noch einmal die Frage: Wie ist Ihr Verhältnis zu ihm? Würden Sie sagen, es ist freundschaftlich?«

Sie legte den Kugelschreiber wieder aus der Hand. »Ich arbeite für ihn, und er war stets korrekt. Überhaupt meine ich, dass eine Freundschaft mit der Arbeit nicht gut zusammenpasst. Wir gehen höflich und korrekt miteinander um. Wenn es zu freundschaftlich wird, dann hat man am Ende schnell eine Klüngelei – und das will ich nicht. Ich arbeite hier und erfülle meine Pflicht, alles andere hat nichts am Arbeitsplatz verloren.«

Trevisan war mit dieser Antwort zufrieden. Damit war ihm klar, dass das Band der Sympathie zwischen Ollmert und der Sekretärin offenbar nicht besonders stark verknüpft war. Es machte keinen Sinn, diesen Punkt zu vertiefen. Er wechselte das Thema. »Hatte er denn Feinde?«

»Das will ich wohl meinen, es gab sogar Drohbriefe, aber das wissen Sie bestimmt. Da gab es schon welche, denen ich durchaus zutraue, dass sie ihm schaden wollten.«

»Und umbringen?«

Die Frau zuckte mit der Schulter. »Das weiß man heutzutage ja nie.«

»Können Sie konkrete Namen nennen?«, fragte Monika.

Die Frau hob abwehrend die Hand. »Ich will niemanden beschuldigen.«

Monika nickte verständig. »Das ist uns klar, aber wir versuchen herauszufinden, ob jemand hinter seinem Verschwinden stecken könnte, und dazu sollten wir ein paar Details kennen.«

Sie zögerte.

»Es ist sehr wichtig«, fügte Trevisan hinzu.

»Den ein oder anderen genarrten Ehemann gibt es schon. Hoferland zum Beispiel, der hat ihn vor einem halben Jahr sogar geschlagen, sodass er ein blaues Auge hatte.«

»Wo war das?«

Frau Haferkamp zeigte auf die Tür zum anderen Zimmer, in der Bürgermeister Ollmert normalerweise residierte.

»Das haben Sie gesehen?«

»Gehört, habe ich das, gehört. Und als Hoferland aus dem Zimmer stürmte, hatte der Bürgermeister ein blaues Auge und einen blutigen Kratzer auf der Wange.«

»Hat er Anzeige erstattet?«, fragte Monika.

Frau Haferkamp lächelte spöttisch. »Nein, nein, wo denken Sie hin. Sogar zu mir sagte er, dass er ausgerutscht und gegen den Schrank gefallen sei. Aber ich sage, gehört ist gehört, und ich weiß, was ich sage.«

»Hoferland?«

»Der Bierkönig aus Hage«, erklärte die Sekretärin. »Hagermarscher Pils, Sie kennen das sicher, das mit dem blauen Pferd.«

»Wissen Sie, weshalb Hoferland mit dem Bürgermeister gestritten hat?«

»Na, weswegen schon, wegen Bente, der Frau von Hoferland. Die ist 20 Jahre jünger und war mal Model.«

»In der Modebranche?«, fragte Monika.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, wenn die Weilandt ihre Kollektion auf dem Platz draußen vorführt, beim Sommerfest.«

 

»›Weilandt‹?«

»Das Modehaus gegenüber dem Café ›Ehrlich‹.«

Trevisan runzelte die Stirn. »Sonst noch jemand?«

»Da gibt es schon noch einige«, erklärte Frau Haferkamp. »Man kann es eben nicht jedem recht machen, wenn man Bürgermeister ist.«

»Das glaube ich, aber wie wäre es mit Namen?«

Die Frau wiegte den Kopf hin und her. Dies war wohl ihre Geste, um zu signalisieren, dass sie eigentlich nicht darüber reden wollte, es andererseits aber durchaus gerne tat.

»Ich habe mir da meine Gedanken gemacht, als ich hörte, dass da Blut auf dem Boot war«, holte sie aus. »Aber ich will wie gesagt niemanden beschuldigen.«

»Die Namen«, forderte Trevisan.

»Na ja, da gibt es den Wilko Klaasen, der ist Großbauer in Jakobsiel. Der wollte eine Genehmigung für so eine Stinkeranlage auf seinem Grund, so eine, die Strom produziert, und das hat ihm Ollmert ganz schön versaut. Dann ist da noch der Thees, der heißt Geritt mit Nachnamen und ist der zweite Vorsitzende des Bürgerparkvereins Salzwiesen. Der läuft unserem Bürgermeister seit Wochen hinterher und will Klarheit über ein paar Details zur Planung der Windkraftanlagen. Der Bürgermeister ist Geschäftsführer, aber er weicht ihm ständig aus. Ein paar Mal ließ er sich sogar verleugnen.«

»Das müssen Sie mir näher erklären«, hakte Trevisan nach.

Die Frau wies aus dem Fenster in Richtung Westen. »Draußen, hinter Jakobsiel, da sind die Salzwiesen. Ein großes Gebiet, etliche Hektar groß. Dort war früher der Deichhof von Bauer Harms. Als der starb, alleine und ohne Verwandte, wie er war, vererbte er das Land der Stadt. Und da sollen in den nächsten Monaten Windräder gebaut werden. Da gibt es einen Verein zur Finanzierung, auch eine Bank ist dabei. Der Strom wird dann verkauft und alle profitieren davon, auch die Gemeinde.«

»Und da stimmte was nicht?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Quatsch, das macht doch alles das Planungsbüro aus Bremerhaven, die haben schon mehrere solcher Parks gebaut. Der Thees ist nur nervös, weil sich das mit dem Bau verzögert, und da macht er sich eben in die Hosen.«

»Woher stammt dieser Thees Geritt?«

»Der wohnt in Deichhagen.«

Draußen tauchte die untergehende Sonne die Landschaft in ein rötliches Licht, und im Büro wurde es langsam düster.

»Sie sagten, es gäbe eine ganze Menge Leute, die nicht gut auf den Bürgermeister zu sprechen sind. Das waren schon alle?«

Frau Haferkamp schüttelte den Kopf. »Die Rose, Rose Sielmann aus Wiesenstede, würde ihm Gift geben, wenn sie könnte.«

»Und weshalb?«

»Die waren kurz zusammen, direkt nach seiner Wahl. Die wollte ihm einen Teil ihrer Ferienhäuser überschreiben, aber dann hat er sie einfach sitzen lassen und sich was Jüngeres gesucht. Dann noch die Bäuerin von Davidshörn, Hanna Schmidt, die ist so eine Grüne. Die meint, der Bürgermeister tut nichts für den Umweltschutz, und die Salzwiesen sollten eher Biotope werden, anstatt sie mit Windkraftanlagen vollzustellen. Da ist die ganz eigen, wissen Sie.«

Monika Sander schrieb alle Namen und stichpunktartig die Gründe für die Verstimmung zwischen den Genannten und dem Bürgermeister in ihren kleinen Notizblock.

»Dieser Schneider, der Rechtsanwalt der ›Nordostbank‹, ist auch hinter dem Bürgermeister her, aber da glaube ich, der bringt niemanden um. Und da ist noch der Johann Beeke, ebenfalls aus Davidshörn, der ist im Stadtrat sein größter Widersacher. Die konnten sich von Anfang an nicht ausstehen. Wollte damals selbst Bürgermeister werden, bekam aber im Vorfeld keine Unterstützung aus der Gemeinde und trat erst gar nicht an.«

»Sonst noch jemand?«

»Jesko Holders fällt mir noch ein«, fuhr die Sekretärin fort. »Ein junger Kerl. Vorsitzender vom Motorsportklub. Die hatten ein Klubheim, eine Scheune auf einem alten Hof bei Wiesenstede, da hat sie Ollmert rausgeschmissen, jetzt sind die ohne Vereinsheim. Dem würde ich es zuallererst zutrauen, dass er dem Bürgermeister was antut, der hat ihm auch gedroht, da draußen im Flur, als die das Klubheim räumen mussten.«

Trevisan wurde hellhörig. »Gedroht, sagen Sie. Was hat er denn gesagt?«

Frau Haferkamp kratzte sich am Kinn. »Der sagte so was wie, wenn ich dir draußen begegne, dann hau ich dich zu Brei, oder so ähnlich.«

»Wissen Sie auch, warum der Klub an die Luft gesetzt wurde?«

Sie zuckte mit der Schulter. »Die haben da draußen alles dreckig gemacht und an ihren Karren herumgeschraubt, sogar Ölwechsel haben die auf der Wiese gemacht, und Rennen sind die gefahren, sagte Ollmert. Da hat er sie rausgeworfen.«

»Und was ist jetzt dort im Schuppen?«, fragte Monika.

Erneut zuckte sie mit der Schulter. »Da sind Sachen und Gerätschaften vom Bürgerverein drinnen. Später, wenn gebaut wird, sollen da die Leute von der Baustelle in Containern wohnen. Deshalb behauptet Holders ja auch, dass das Ganze ein abgekartetes Spiel war, damit man sie an die Luft setzen konnte, um diese Container dort aufzustellen.«

Trevisan warf Monika Sander einen kurzen Blick zu. »Danke für Ihre Offenheit, Frau Haferkamp. Wenn es noch Fragen gibt, kommen wir noch einmal auf Sie zu.«

»Dann rufen Sie aber bitte vorher an. Es ist bald 19 Uhr, und diese Zeit bekomme ich nicht bezahlt.«

Trevisan nickte, ehe er sich erhob. Er verabschiedete sich von der Frau und ging zur Tür. Monika folgte ihm. »Ach ja, da wäre noch eine Frage«, wandte sich Trevisan zu ihr um. »Hatte er Verwandtschaft in der Gegend oder Bekannte, jemanden, mit dem er sehr gut befreundet ist, oder eine Beziehung?«

Frau Haferkamp schüttelte den Kopf. »Nein, soviel ich weiß, gibt es eine Tante in Amerika, seine Eltern sind bereits verstorben. Und Freunde oder enge Bekannte, da wüsste ich niemanden. Sein Privatleben geht mich ja auch nichts an. Er ist allerdings öfter rüber nach Bremerhaven gefahren, hörte ich. Was er dort tat, kann ich nicht sagen. Ich bin seine Sekretärin und nicht seine Gouvernante, verstehen Sie?«

Trevisan verstand. »Noch eines«, sagte er. »Besaß Ollmert ein Fahrrad?«

Die Frau blies die Wangen auf. »Da fragen Sie mich was. Gesehen habe ich keines, er kam immer mit seinem Wagen. Aber möglich wäre es schon.«

»Wie geht es eigentlich weiter?«, fragte Monika. »Ich meine, wer führt die Amtsgeschäfte, solange der Bürgermeister nicht hier ist?«

»Erste Stellvertreterin ist Frau Gutjahn«, antwortete die Sekretärin.

Trevisan wurde hellhörig. »Hatten Sie auch Probleme mit …«

Frau Haferkamp winkte ab. »Nein, wo denken Sie hin. Das meiste bleibt sowieso an mir hängen. Frau Gutjahn ist über 70. Sie war einmal Gemeindereferentin bei der evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde und hält sich gerne aus allem heraus. Sie hat das Amt damals nur übernommen, weil es eben im Stadtrat nicht ganz so gut lief nach Ollmerts Wahl. Da hat man sich auf sie geeinigt, das wurde von allen Seiten akzeptiert. Mit dem Verschwinden des Bürgermeisters hat sie sicher nichts zu tun.«

Als Trevisan neben Monika im Wagen saß und sie nach Wilhelmshaven zurückfuhren, versteckte sich die Sonne hinter dichten Wolken.

4

Kriminalkommissariat Wilhelmshaven, Mozart­straße

Als Monika und Trevisan die Dienststelle erreichten, war es bereits dunkel. Es war kurz nach 21 Uhr.

»Heute werde ich den kleinen Ayk wohl nicht mehr zu Gesicht bekommen«, seufzte Trevisan, als sie über den Parkplatz zum Hintereingang der Dienststelle liefen. Fünf Autos standen noch auf den markierten Parkreihen des 1. Fachkommissariats, eines davon gehörte Trevisan, eines Monika und die anderen gehörten zu Lentje, Lisa und Eike.

»Die sind alle noch oben«, bemerkte Monika.

Über das Treppenhaus gingen sie nach oben in den Soko-Raum. Eike und Lisa saßen am großen Besprechungstisch. An der Pinnwand auf der einen Seite des Raumes prangte das Bild von Enno Ollmert. Es war eine Aufnahme, auf der er einen sportlichen, blauen Einreiher trug und das weiße Hemd am Kragen locker geöffnet hatte. Auf eine Krawatte hatte er verzichtet. Ollmert lächelte verschmitzt. Ein Hochglanzfoto, das von seiner Wahlwerbekampagne stammte und vier Jahre alt war.

»Wird ja Zeit, dass ihr endlich kommt«, grüßte Eike die beiden.

»Seid ihr weitergekommen?«

Lisa lümmelte am Tisch und hatte ihren Kopf auf den Armen aufgestützt, sie räkelte und streckte sich. »Dank Google und Co kennen wir beinahe seinen gesamten Lebenslauf«, sagte sie.

Trevisan zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Monika tat es ihm nach.

»Also«, eröffnete Lisa den Monolog. »Er wurde am 7.12.1978 in Emden geboren. Sein Vater war ein angesehener Anwalt, seine Mutter arbeitete in der Kanzlei des Vaters. Er wuchs in Emden auf, besuchte das Max-Windmüller-Gymnasium und machte im zweiten Versuch sein Abi. Anschließend studierte er wohl auf Geheiß seines Vaters Jura an der Uni in Hamburg und brach nach einem Jahr ab. Anschließend war er zehn Monate im Ausland unterwegs. Als er zurückkam, schrieb er sich erneut an der Uni ein, diesmal für Medienwissenschaften. Da machte er einen Abschluss in Medieninformatik.«

»Deshalb wohl der Weg zum Fernsehen«, bemerkte Monika.

Lisa schüttelte den Kopf. »Offenbar war der Vater mit dem neuen Studiengang nicht so ganz einverstanden und kappte die Versorgungsleitung.«

»Der Vater war wohl ein strenger Herr«, unkte Trevisan.

»Ollmert hat es trotzdem durchgezogen mit Hilfe einer Freundin, die zwei Boutiquen in Hamburg besaß und 15 Jahre älter war als er.«

»Die hat ihn ausgehalten?«, fragte Trevisan.

Lisa winkte ab. »So kann man sagen, er sah gut aus und startete eine Modelkarriere. Irgendwie hatte er schon immer einen Schlag bei Frauen. So kam es, dass er bei dem Privatsender 1-2-3-TV landete und dort über den Bildschirm Modeschmuck verkaufte. Beim NDR landete er erst ein paar Jahre später. Aber auch da schien er gut anzukommen und moderierte die Nachtausgabe von ›NDR-Heute Nacht‹.«

»Wie kam es dann, dass er sich als Bürgermeister bewarb?«, wandte Trevisan ein.

Lisa lächelte. »Die Frauen geben es, und die Frauen nehmen es«, scherzte sie. »Wir sind im Internet auf einen kleinen Skandal gestoßen, er hatte wohl was mit der Tochter des Programmdirektors, und der fand es gar nicht spaßig. Um seiner Kündigung zuvorzukommen, suchte er den Ausweg in die Politik.«

Monika Sander schüttelte den Kopf. »War er eigentlich jemals länger mit einer Frau zusammen?«

»Ja, fünf Jahre sogar. Er lebte mit einer Nachrichtensprecherin zusammen. Doreen Pleitgen, die macht inzwischen Nachrichten bei der ARD.«

»Seine Eltern?«, fragte Monika.

»Der Vater starb 2010, seine Mutter vor vier Jahren, Brüder und Schwestern gibt es nicht, er war ein Einzelkind. Die einzige Verwandte, die wir ausgemacht haben, ist eine Tante, die Schwester seiner Mutter, aber die lebt seit 30 Jahren in Washington. Ansonsten sind keine weiteren Verwandten bekannt.«

»Wer weiß, wozu das gut ist«, murmelte Trevisan. »Sonst noch was?«

Lisa schüttelte den Kopf. »Mehr konnten wir auf die Schnelle nicht herausfinden. Die Bankenanfrage läuft, der Rest folgt morgen, wenn die Behörden wieder besetzt sind.«

Trevisan nickte und blickte sich um. »Wo ist eigentlich Lentje?«

»Die ist mit Krog am Hafen«, erklärte Eike. »Die Spurensuche auf dem Boot nimmt mehr Zeit in Anspruch als gedacht. Krog sagt, die Wohnung und das Büro nehmen sie sich morgen vor.«

Trevisan klatschte in die Hände. »Alles klar, dann machen wir Feierabend. Morgen früh um 9 Uhr treffen wir uns hier im Raum, pünktlich, wenn es geht. Gebt bitte Krog und Lentje Bescheid.«

*

Wilhelmshaven, Großer Hafen

»Und das könnte tatsächlich der Baum gewesen sein?«, fragte Lentje und folgte Krogs Fingerzeig an den Schiffsmasten der kleinen Segeljacht vom Typ Bavaria.

»Wenn der Lümmelbeschlag schnell dreht, dann schlägt der Baum in alle Richtungen. Normalerweise macht man ihn fest. Vielleicht hat er es ja vergessen. Manchmal reißt die Leine im Sturm, aber das können wir ausschließen, in den letzten Tagen herrschte gutes Wetter.«

»Dann also ein Fehler des Skippers«, folgerte Lentje.

Krog zuckte mit der Schulter. »Dazu hätte er das Ruder freigeben müssen, sodass sich abrupt die Fahrtrichtung ändert, dann kann es schon sein, dass der Baum umschlägt. Wenn er gebückt stand, trifft er ihn genau am Kopf, und das mit großer Wucht.«

 

»Doch ein Unfall?«

Krog runzelte die Stirn. »Kann man nicht ausschließen, aber welcher Skipper, der alleine segelt, gibt sein Ruder frei?«

Lentje hob ihr Handy in die Höhe und fotografierte die Blutlache, die sich an Deck unmittelbar neben dem Mast befand.

»Wir haben schon Bilder gemacht«, sagte Krog.

Lentje nickte.

»Das ist mindestens ein halber Liter Blut«, bemerkte Krog.

Lentje hielt sich an der Reling fest und stellte den Fuß auf den oberen Rand des Kabinendachs. »Er könnte hier gestanden haben, als der Baum umschlug. Er stürzt auf die Planken …«

»… und bleibt am Relingdurchstieg liegen. Das Boot ist führerlos und neigt sich, weil es quer zum Wind kommt, dann rutscht er ins Wasser – und aus die Maus.«

Lentje fuhr sich über das Kinn. »So könnte es gewesen sein.«

»Ja, so könnte es gewesen sein«, bestätigte Krog. »Mich wundert nur, dass wir am Baum keine Spuren finden. Außerdem hatte er kaum Sprit für den Motor im Tank, und Vorräte sind auch keine an Bord. Wenn er tatsächlich vor drei Tagen gestartet ist, dann hätte man das Boot früher aufbringen müssen, denn dort draußen ist die Fahrrinne, und da fahren jeden Tag 30 bis 40 Schiffe lang.«

»Er muss vor drei Tagen gestartet sein«, stellte Lentje klar. »Die Jacht lag am Sonntag noch am Pier, und am Montag war sie weg, sagt der Hafenmeister von Neßmersiel. Niemand hat ihn gesehen, als er auslief, aber er hatte einen Schlüssel zum Jachthafen und hätte auch mitten in der Nacht aufbrechen können.«

Krog schüttelte den Kopf. »Frühestens um 4 Uhr mit der Flut, zuvor hätte er das Boot durchs Watt tragen müssen.«

»Um 4 Uhr, da ist es ja noch stockdunkel«, entgegnete Lentje.

»Die Fischer mit ihren Kuttern stört das nicht.«

»Er war kein Fischer. Er war Hobbysegler.«

Krog tauchte den Pinsel in das Fläschchen mit Spurensicherungsmittel.

Lentje wiegte den Kopf hin und her. »Sonst noch was?«

»Ja, jede Menge Fingerabdrücke. Teils überlagert. Hier an Bord wurde nur selten gewischt.«

Lentje atmete tief ein. »Dann fasse ich mal zusammen: Für einen großen Törn war das Boot nicht ausgestattet, und es könnte auch jemand mit an Bord gewesen sein. Er hat sich möglicherweise den Kopf aufgeschlagen und eine ganze Menge Blut verloren, ein Unfall vielleicht oder jemand hat ihm eine verpasst und ihn über Bord geworfen, bevor er das Boot verließ.«

»Klamotten oder Koffer gibt es keine an Bord«, fuhr Krog fort. »Trevisan fragte danach.«

»Dann haben wir also gar nichts, das wird dem Boss überhaupt nicht gefallen.«

Sanfte Wellen liefen auf der Bootsrampe aus, das Wasser gluckste und plätscherte.

»Das glaube ich auch, so wie ich ihn kenne«, bestätigte Krog.

Einer der großen und starken Scheinwerfer, die das Schiff in helles Licht tauchten, begann zu flackern.

Lentjes Handy piepste. Sie fischte es aus ihrer Hosentasche und warf einen Blick auf das Display.

»Trevisan erwartet uns morgen früh um 9 Uhr«, sagte sie.

»Okay, machen wir Schluss«, seufzte Krog und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wir wissen mehr, wenn wir einen DNA-Abgleich haben.«

Lentje nickte. »Dann bis morgen«, sagte sie, bevor sie sich umwandte und über die Planken die Jacht verließ.