Der Sohn des Apothekers

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8

Trevisan hatte bis acht Uhr geschlafen und war nach der Morgentoilette und einem ausgedehnten Frühstück ins Büro gefahren. Ein schwerer Gang lag heute vor ihm, er hatte einen Termin bei den Reubolds in Minden ausgemacht. Der Vater der verschwundenen Melanie war nicht begeistert gewesen, als Trevisan angerufen und um ein Gespräch gebeten hatte.

»Na ja, dann kommen Sie eben, es ändert ja sowieso nichts«, hatte Robert Reubold schließlich eingelenkt.

Trevisan hatte die Mutlosigkeit und die Verzweiflung aus seiner Stimme herausgehört. Er dachte an damals, als er erfahren hatte, dass seine Tochter Paula entführt worden war, das Gefühl war ihm nicht unbekannt.

Im Büro schaute er noch bei Lisa vorbei, die vor ihrem Computer saß und die Pressemeldung für die örtlichen und überregionalen Zeitungen schrieb. Trevisan setzte sich kurz zu ihr und kritzelte auf einen Notizzettel, welche Fragen sie ausformulieren sollte und welche Details von Nutzen waren und der Presse bekannt gegeben werden konnten.

»Wenn du fertig bist, dann schicke alles gleich an die Pressestelle«, sagte Trevisan.

»Willst du nicht vorher noch mal drüberschauen?«, fragte Lisa ungläubig.

»Du hast mehr Erfahrung in solchen Sachen«, antwortete Trevisan. »Oder hast du damit ein Problem?«

»Smisek wollte alles sehen und abzeichnen. Nichts verließ die Abteilung, bevor er nicht seinen Haken darunter gemacht hatte. Und meistens war er mit nichts zufrieden und wir bekamen die Berichte rot gefärbt wieder zurück.«

Trevisan lächelte. »Hatte wohl den falschen Beruf, hätte Lehrer werden sollen.« Er klopfte Lisa auf die Schulter. »Ich geh dann mal, Robert Reubold wartet auf mich.«

Er fuhr mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage und schnappte sich den Dienstwagen des Dezernats, einen blauen VW Passat. Die Fahrt nach Minden über die Bundesstraße dauerte länger als angenommen. Mit dichtem Verkehr hatte Trevisan an diesem Samstagvormittag nicht gerechnet.

In Minden suchte er die Goethestraße auf dem Ortsplan, den er sich ausgedruckt und entsprechend markiert hatte. Vor dem Mehrfamilienhaus parkte er am Straßenrand. Die Reubolds wohnten in dritten Stock. Einen Aufzug gab es nicht, so dass Trevisan erst einmal durchatmete, als er an der Wohnungstür ankam. Er klingelte und wartete geduldig, bis ein Mann öffnete, unrasiert und in Jogginghose und Unterhemd. Die nackenlangen, grauen und ungepflegten Haare hingen ihm wirr ins Gesicht.

»Robert Reubold?«, fragte Trevisan.

»Ja, das bin ich.«

Trevisan schätzte ihn auf Anfang fünfzig. »Ich bin Martin Trevisan vom Landeskriminalamt wir haben miteinander telefoniert.«

Robert Reubold nickte nur, ließ die Wohnungstür offen und verschwand im dunklen Gang. Trevisan folgte ihm. Schuhe standen kreuz und quer und Kleidungsstücke lagen herum. Staub hatte sich auf der kleinen Kommode abgesetzt. Trevisan folgte dem Mann in die Küche, wo sich schmutziges Geschirr auf der Spüle türmte. Robert Reubold zeigte auf einen Stuhl und ließ sich mit einem Seufzer auf der Eckbank nieder. Zwei leere Bierflaschen standen auf dem Tisch.

»Ich bin noch nicht zum Aufräumen gekommen«, sagte er knurrig, als Trevisan den Raum gemustert und eine Armada von weiteren leeren Bierflaschen hinter der Tür entdeckt hatte.

»Ist Ihre Frau ebenfalls hier?«, fragte Trevisan.

Reubold schüttelte den Kopf. »Als sie von Tanja erfuhr, ist sie sofort nach Flensburg gefahren.«

Trevisan nickte. »Das kann ich verstehen, aber Tanja liegt im Koma. Die Ärzte meinen, es kann Wochen, sogar Monate dauern, bis sie wieder zu sich kommt.« Den Rest verschwieg Trevisan. Es war durchaus möglich, dass Tanja überhaupt nicht mehr aufwachen würde. Aber er war nicht hierher gekommen, um Hoffnungen zu zerstören.

»Das ist meiner Frau egal, sie lässt sich nicht davon abbringen. Sie tut, was sie will.«

»Und was haben Sie gedacht, als Sie hörten, dass Tanja aufgetaucht ist?«

Der Mann fuhr sich über seine fettigen Haare. »Ich glaube nicht, dass es Tanja ist, ich glaube, sie ist genauso tot wie meine Meli. Wenn ich dieses Schwein erwische, dann schlage ich es mit eigenen Händen tot.« Robert Reubold biss sich auf die Lippen und versuchte, seine starke Erregung zu unterdrücken.

»Gab es denn seit ihrem Verschwinden irgendwelche ungewöhnlichen Vorfälle? Anrufe, ohne dass sich jemand meldete, irgendetwas dieser Art?«

Reubold zog die Nase hoch. »Nachdem sie meine Meli geholt hatten, gab es ständig Anrufe, diese Presseheinis ließen uns keinen Tag in Ruhe und auch die Polizisten. Wissen Sie, an diesem Tag habe ich aufgehört zu leben. Und bei Elsa ist auch alles kaputtgegangen.«

»Elsa ist Ihre Frau?«

»Ja, wir sind verheiratet, aber sie ist nicht mehr meine Frau. Sie ist nur noch hier, weil ihr die Energie fehlt, die Koffer zu packen. Seit dem Tag, als Meli verschwand, ist alles zwischen uns kaputt. Da ist nur noch … Leere.« Robert Reubold zeigte auf die Bierflaschen. »Das ist das Einzige, was mir geblieben ist.«

»Arbeiten Sie noch im Verwaltungsamt?«, fragte Trevisan, um die Situation ein klein wenig zu entspannen, doch offenbar war dies die falsche Frage gewesen. Robert Reubold legte den Kopf auf seine auf dem Tisch verschränkten Arme und begann hemmungslos zu schluchzen.

»Zweimal war ich schon auf Entzug«, stammelte er. »Ein drittes Mal wird es nicht geben. Sie streben die Verrentung an, ich bin seit über zwei Jahren arbeitsunfähig, aber danach fragt kein Mensch. Diese Schweine haben mir meine Tochter gestohlen und mein ganzes Leben zerstört.«

Trevisan schluckte und schwieg, bis sich Robert Reubold langsam beruhigt hatte. Schließlich wischte sich der Mann mit dem Unterarm die Tränen weg und schaute auf. »Weshalb sind Sie eigentlich hier?«

»Ich wollte mit Ihnen sprechen und mir ein Bild machen, außerdem wollte ich Sie zu Tanja befragen. Ihre Eltern sind leider bei einem Unfall …«

»Ich weiß, sie haben es besser gemacht als Elsa und ich. Sie haben einen Schlussstrich gezogen.«

»Sie glauben, sie haben sich umgebracht?«

»Ich weiß es«, antwortete Robert Reubold trocken. »Meli und Tanja kannten sich seit der fünften Klasse, sie sind zusammen aufgewachsen. Sie wohnte ein paar Blocks weiter. Sie haben alles gemeinsam gemacht, sie sagten sogar, dass sie gemeinsam Medizin studieren wollten und dann kam diese Radtour, diese gottverdammte Radtour. Ich war von Anfang an dagegen, aber wenn sich die Mädels etwas in den Kopf gesetzt hatten … Ich hätte sie aufhalten müssen.«

»Sie konnten nichts tun«, versuchte Trevisan zu beruhigen, denn schon wieder kullerten Tränen über Reubolds Wange.

»Wir haben alle zusammen die Tour bis ins Kleinste geplant. Die Übernachtungen, die Tourenpläne … Sie hätten längst schon fast in Nienburg sein müssen, als es passierte.«

»Woher wissen Sie, wann es passiert ist?«, fragte Trevisan.

»Es weiß niemand genau, aber ein Polizist meinte, es soll nach drei Uhr mittags gewesen sein. Das Abendessen in Nienburg war bestellt, sie hätten es nicht mehr rechtzeitig dorthin geschafft. Sie müssen aufgehalten worden sein.«

»Oder sie haben die Zeit vergessen.«

»Sie haben abgekürzt, die Route sah nur Hauptstraßen vor. Ich wollte nicht, dass sie durch unbelebte Gegenden fuhren. Ich wollte, dass sie dort bleiben, wo es genügend Menschen gibt. Man weiß ja nie, welchen Spinnern man begegnet.«

Trevisan nickte. »Das kann ich verstehen. Gibt es eigentlich noch jemanden hier im Ort, der Tanja nahestand?«

Robert Reubold schaute Trevisan fragend an. »Wie meinen Sie das?«

Trevisan fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich meine, wenn Tanja aufwacht. Ihre Eltern sind tot und es gibt nur noch eine Tante, die in Amerika lebt. Ich meine eine Vertrauensperson, die Tanja wiedererkennen könnte, damit sie wenigstens ein bekanntes Gesicht sieht, falls sie jemals wieder zu sich kommt.«

Robert Reubold nickte. »Ich verstehe. Die einzige Bezugsperson dürfte Elsa sein, meine Frau. Die Sommerlaths hatten nur wenig Kontakt hier.«

Trevisan erhob sich und streckte Reubold seine Hand entgegen. »Ich wünsche Ihnen, dass Sie das Leben wieder in den Griff kriegen und auch mit Ihrer Frau wieder zusammenkommen, mehr bleibt einem nicht im Leben. Und ich verspreche Ihnen, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, um Ihre Meli zu finden.«

Robert Reubold winkte ab. »Das hat Ihr Vorgänger auch versprochen. Aber ich habe nie mehr von ihm gehört.«

Trevisan nickte. »Ich finde schon hinaus«, sagte er, als Reubold sich erheben wollte.

*

»Sie sitzen in U-Haft und wurden auf verschiedene Gefängnisse verteilt«, berichtete Sina. »Drei sitzen im Staatsgefängnis von Horsens, zwei in Ringe und der Haupttäter im Sicherheitstrakt von Nyborg, das ist am anderen Ende von Dänemark.«

»Im Staatsgefängnis, sagst du?«, fragte Justin. »Weißt du, wer die Ermittlungen führt?«

Sina blätterte ihren Notizblock um. »Die Reichspolizei ist da federführend. Ein Chefinspektor Mats Brandstrup ist der Ermittlungsführer und ein Polizeimeister Will Viksom taucht in den Akten auf. Die Polizei in Esbjerg ist daran nicht beteiligt. Für die regionale Polizei ist die Sache wohl zu heiß und die Fäden werden direkt in Kopenhagen gezogen. Man befürchtet Aktionen, es gibt offenbar noch weitere Splittergruppen, die über ganz Dänemark verstreut sind.«

Justin schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Verdammt, die Reichspolizei, da kommen wir nicht ran. In Esbjerg kenne ich jemanden, der bei der zuständigen Stelle für den Bezirk Syd- or Sonderjyllands arbeitet. Aber bei der Reichspolizei beißt man sich die Zähne aus, da wird es gleich politisch. Hast du sonst noch was für mich?«

 

Sina erhob sich und trat von hinten an Justin heran. Sanft streichelte sie ihm über das blonde, wellige Haar. »Wenn du brav bist.«

Justin ergriff ihre Hand und schob sie beiseite. »Sina, wir sollten Arbeit und Privatleben trennen.«

»Was soll man trennen?«, fragte eine dunkle Frauenstimme. Justin fuhr zusammen und Sina zog blitzschnell ihre Hand zurück. Monika Keppler, die Chefredakteurin, hatte den Raum betreten.

»Die Verbrecher«, antwortete Justin, während Sina sich abwandte und zu ihrem Platz zurückkehrte. »Die Rocker. Sie sitzen in unterschiedlichen Gefängnissen und die Reichspolizei leitet die Untersuchung.«

Monika Keppler, die scherzhaft von der Belegschaft der Redaktion Alices Schwester genannt wurde, in Anlehnung an Alice Schwarzer, verzog ihre Mundwinkel. »Da haben wir keine Chance«, sagte sie mit ihrer tiefen, maskulinen Stimme.

»Ich habe noch die Adresse, wo die Mädchen festgehalten wurden«, berichtete Sina kleinlaut. »Lejvejen 5 in Padborg, das ist ein altes Gehöft und steht nun leer.«

Justin erhob sich. »Immerhin etwas. Ich fahre morgen hin.«

»Du bleibst!«, befahl Monika Keppler. »Du kümmerst dich weiter um dieses Dorf. Nina und Henry übernehmen Padborg. Sie sollen ein paar Nachbarn fragen und ein paar Bilder machen. Mehr ist in Dänemark sowieso nicht zu holen. Aber ich will, dass du mit diesem debilen Jungen Kontakt aufnimmst und ein paar schöne Fotos machst. Ich habe deine Notizen gelesen und halte die Aussage dieses Apothekers für sehr wichtig. Das mit dem Behördenirrtum sollte der Kern der Reportage werden, meinst du nicht auch, Justin?«

Justin zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht.«

Monika Keppler lächelte. »Deswegen habt ihr mich«, sagte sie, ehe sie sich umwandte und den Raum verließ.

»Verdammte Scheiße«, fluchte Justin. »Das ist meine Geschichte!«

Sina lächelte. »Jetzt wohl nicht mehr«, sagte sie schnippisch.

9

Montag

Trevisan hatte versucht, am Sonntag auszuspannen, doch es war ihm nur leidlich gelungen. Das Schicksal der beiden verschwundenen Mädchen und das Gespräch mit Robert Reubold am gestrigen Samstag hatten ihn zu sehr beschäftigt. Er hatte an Paulas Entführung vor über einem Jahr gedacht und daran, dass er sie quasi in letzter Sekunde aus den Fängen eines Wahnsinnigen retten konnte, der ihren Tod bereits beschlossen hatte. Was, wenn er damals zu spät gekommen wäre? Wäre er wie Robert Reubold geworden, wäre auch ihm das Leben angesichts dieses schweren Schicksalsschlags entglitten?

Er hatte die Notizen hervorgeholt, die er sich mit nach Hause genommen hatte. Zwei Theorien standen im Raum und er musste sich endlich darüber klar werden, in welche Richtung er die Ermittlungen vorantreiben wollte. Für die Entführung und die Verschleppung nach Dänemark sprachen das Auftauchen von Tanja Sommerlath bei Flensburg, die Aussage zweier Zeugen, die einen VW-Bus mit dänischem Kennzeichen kurz vor dem Verschwinden der Mädchen in der Nähe von Tennweide gesehen hatten und natürlich die Festnahme der Rockerbande unweit von Padborg und die Befreiung zweier junger osteuropäischer Frauen, die auf dem Anwesen der Bande gefangen gehalten worden waren. Hatten sie die Mädchen entführt, nach Dänemark verschleppt, süchtig gemacht und als Sexsklavinnen gehalten? Und hatten sie Tanja aus dem Wagen geworfen, um sie loszuwerden?

Wo war Melanie Reubold geblieben? War sie längst schon tot oder wurde sie noch immer irgendwo in Dänemark gefangen gehalten? Diese Bande hatte den Ermittlungen der dänischen Reichspolizei nach in Viborg, in Aalborg, in Varberg und in Hjörring weitere Anwesen angemietet gehabt, die gestern zeitgleich gestürmt worden waren. Außer ein paar Waffen, ein paar Pfund Cannabis und siebzig Gramm Heroin hatten die Reichspolizisten dort aber nichts gefunden. Nichts hatte auf eine weitere Entführung hingedeutet, hatte es in dem Telex geheißen, das Trevisan gestern Nachmittag auf seinem Schreibtisch vorgefunden hatte.

Sein Gefühl sagte ihm, dass etwas an der Theorie nicht stimmte, nicht schlüssig war. Er konnte nicht sagen, was ihn an der Vorstellung einer Entführung störte, aber er vertraute dem Bauchgefühl, das ihn in all den Jahren der Ermittlungsarbeit an vorderster Front nicht im Stich gelassen hatte. Objektiv gab es nach dem derzeitigen Kenntnisstand keine vernünftigen Gründe, an der Entführung der Mädchen zu zweifeln.

Der Fall ließ ihn den ganzen Tag nicht in Ruhe und er dachte bis spät in die Nacht darüber nach, bis ihn kurz nach Mitternacht der Schlaf übermannte.

Am Montag um zehn Uhr betrat Trevisan die Dienststelle und ging den Flur entlang. Lisas Tür stand offen, sie saß hinter ihrem Schreibtisch.

»Guten Morgen, wohl gut geschlafen«, begrüßte sie ihn. »Ich habe die Plakate schon in Auftrag gegeben und die Pressemeldungen sind auch rausgegangen.«

»Das hast du sehr gut gemacht«, lobte Trevisan und schickte sich an, weiterzugehen.

»Hanna ist heute wieder da, sie hat deine Sachen in Smiseks Büro geräumt«, beeilte sich Lisa zu sagen. Trevisan blieb stehen. Lisa erhob sich, umrundete den Schreibtisch und zeigte den Flur hinunter. »Hanna meint, dass dir Smiseks Büro zusteht und wir das Zimmer nicht leer stehen lassen sollten.«

»Wo ist diese Hanna, die sich so viele Sorgen um mich macht?«, fragte Trevisan mürrisch.

Lisa zeigte auf das Büro, das Trevisan die ganze Zeit über genutzt hatte und in dem zwei Arbeitsplätze eingerichtet waren. Trevisan nickte kurz. Ohne anzuklopfen trat er ein. Hanna Kowalski, die bei seiner Zuversetzung in Urlaub gewesen war und die er nur vom Hörensagen kannte, saß rittlings auf einem Stuhl und hielt eine Kaffeetasse in der Hand. Rund um den Stuhl hatte sie aufgeschlagene Aktenordner verteilt, die sie studierte. Sie kehrte Trevisan den Rücken zu.

»Ich habe gehört, dass hier umgeräumt wurde«, bemerkte Trevisan spitz.

Hanna Kowalski wandte sich um, und für einen Augenblick war Trevisan wie elektrisiert. Sie erhob sich und stellte ihre Tasse auf den Schreibtisch.

»Ich dachte, das ist okay«, sagte die schlanke, großgewachsene junge Frau mit den langen, blonden Haaren und der Figur eines Fotomodells. Bei ihrem Anblick verschlug es ihm einen Moment die Sprache. Trevisan schätzte seine neue Kollegin auf Mitte dreißig.

»Normalerweise bestimme ich selbst, wo ich arbeite«, antwortete er in deutlich entspannterem Ton.

Hanna streifte sich eine Strähne aus der Stirn. »Engel hat mit mir gesprochen und gesagt, dass du jetzt die Abteilung leitest und bei uns bleibst. Deswegen steht dir Smiseks Büro zu. Er fand es in Ordnung, dass wir die Zimmerbelegung neu ordnen. Du bist doch nicht verärgert, oder?«

»Dazu habe ich keine Zeit«, wechselte Trevisan das Thema. »Wir haben einen Fall zugeteilt bekommen.«

»Ich weiß, oder glaubst du, ich suche nach neuen Kochrezepten«, antwortete Hanna Kowalski scharf und wies auf die Aktenordner. »Ich habe mich schon eingelesen. Das ist keine einfache Sache. Glaubst du, das andere Mädchen lebt noch?«

Trevisan schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht, aber trotzdem müssen wir es in Erwägung ziehen. Ich würde sagen, in einer Stunde treffen wir uns im Konferenzraum. Ich muss noch ein paar Telefonate führen.«

Hanna nickte und lächelte. »Okay. Also dann, bis später.«

*

Justin Belfort war am Mittag in den Klosterkrug zurückgekehrt.

Die Wirtin hatte ihn misstrauisch gemustert, als er die Gaststätte betrat und nach dem Zimmerschlüssel verlangte. »Leider kann ich Ihnen keinen Nachlass geben, obwohl Sie das Zimmer in der letzten Nacht nicht benutzt haben.«

»Ich brauche das Zimmer noch für eine weitere Woche«, antwortete er. »Meine Redaktion überweist den Betrag.« Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte er den Weg zur Treppe fort.

Mit offenem Mund schaute die Wirtin ihrem Gast nach, der die Treppe hinaufging und hinter der Ecke verschwand. Schließlich schüttelte sie den Kopf, umrundete das Empfangspult und betrat den Gastraum, wo drei Gäste am Stammtisch zu Mittag aßen. Oberkommissar Klein war einer von ihnen, die beiden anderen waren der Unternehmer Stolz und der Mardorfer Arzt Dr. Rosenberg. Sie wohnten allesamt in Tennweide und nahmen meist gemeinsam das Mittagessen im Klosterkrug ein.

»Der Reporter ist wieder da.« Sie trat an den Tisch. »Er will noch bleiben, eine Woche.«

Stolz schaute Klein fragend an. »Was will er noch hier?«

»Er forscht nach«, antwortete Dr. Rosenberg. »Er gehört zu Direkt, habe ich gehört. Die sind für ihre Reportagen bekannt. Die kratzen nicht nur an der Oberfläche.«

»Aber hier wird er nichts finden«, sagte die Wirtin.

»Wer weiß«, antwortete der Arzt geheimnisvoll.

»Die anderen Reporter sind hier aufgetaucht, haben ein paar Fotos gemacht und sind sofort wieder verschwunden, nachdem ihnen klar war, dass niemand mit ihnen reden will, aber der Kerl ist anders. Ich habe gehört, dass er in Mardorf in der Apotheke war und mit Thiele gesprochen hat.«

Stolz schaute den Polizisten ungläubig an. »Thiele hat noch nie mit einem von der Presse gesprochen.«

»Er soll beinahe eine Stunde in der Apotheke gewesen sein und Thiele ist mit ihm ins Hinterzimmer gegangen.«

»Wer sagt das?«, fragte Stolz.

»Ich habe meine Quellen«, antwortete Klein.

»Egal«, mischte sich die Wirtin ein. »Mir ist der Kerl nicht geheuer.«

»Du hättest ihm einfach nur das Zimmer verweigern müssen«, scherzte der Arzt.

Magda Tanges gab einen abfälligen Zischlaut von sich. »Ich lebe davon und bis zur Saison vergehen noch ein paar Tage. Ich muss sehen, wo ich bleibe. Außerdem würde er in Mardorf sofort eine andere Übernachtung finden. Dann wäre er auch jeden Tag hier.« Sie wandte sich um und stapfte davon.

»Wenn’s um Geld geht, versteht die Magda keinen Spaß«, scherzte der Arzt und zuckte mit der Schulter.

»Egal, der Kerl verbreitet überall nur Unruhe«, sagte Stolz, der ein großes Bauunternehmen leitete. »Wir müssen aufpassen, dass er unser Geschäft nicht kaputtmacht. Erinnert euch: Damals, als die Sache mit den Mädchen in der Presse breitgetreten wurde, ging die Zahl der Übernachtungen um über vierzig Prozent zurück.«

»Ich werde ein Auge auf ihn haben«, entgegnete Oberkommissar Klein.

*

Hanna Kowalski saß alleine am langgestreckten Tisch, der Platz für gut zwölf Personen gehabt hätte, und hatte einen Laptop auf ihrem Schoß. Als Trevisan den Raum betrat, schaute sie nur kurz auf.

»Wo ist Lisa?«, fragte Trevisan.

»Teufelchen hat sie zu sich bestellt«, antwortete Hanna. »Es geht da um irgendwelche Plakate.«

Trevisan nickte und zog sich einen Stuhl heran. »Was hältst du von der Sache?«

Hanna klappte den Computer zu und platzierte ihn vor sich auf dem Tisch. »Das ist eine ganz schön verworrene Geschichte. – Ich habe gesehen, ihr habt das meiste schon in das Spuran-Programm eingearbeitet.«

»Wir waren eben fleißig«

»Und die Plakate?«

Trevisan räusperte sich. »Wir legen neue Fahndungsplakate auf und stellen gezielte Fragen zu dem Fall. Vielleicht erinnert sich noch jemand an die Sache und hat irgendeinen ungewöhnlichen Vorgang beobachtet.«

»Das ist aber schon drei Jahre her«, gab Hanna zu bedenken.

»Trotzdem«, konterte Trevisan. »Es gibt Zeugen, die sich erst nach einigen Jahren melden, weil sie kurz nach der Tat denken, ihre Beobachtungen wären nicht so wichtig. Aber wenn man noch mal an sie herantritt, dann sprudelt es manchmal nur so aus ihnen heraus. Vielleicht haben wir ja Glück und es ist etwas Verwertbares dabei.«

»Du warst in Wilhelmshaven beim FK 1, habe ich gehört.« Hanna musterte Trevisan von oben bis unten.

»Am Ende war ich Leiter des FK 1, stimmt.«

»Es wird erzählt, dass Verbrecher deine Tochter entführt hätten und umbringen wollten«, hakte Hanna nach.

»Ja, auch das ist richtig, wir konnten sie in letzter Sekunde retten. Ein halbes Jahr später ist meine Tochter zusammengebrochen und auch mich hat es erwischt, Burnout nennt man das.«

»Deine Tochter ist in Langenhagen?«

»In einer Außenstelle für PTBS-Erkrankte, aber sie macht sehr gute Fortschritte. Zurzeit ist sie in Irland. Und du bist alleinerziehend und hast einen Sohn?«

Hanna nickte. »Aha, ich sehe, auch du hast deine Hausaufgaben gemacht. Ja, mein Sohn ist sechzehn, ein schwieriges Alter.«

»Meine Tochter ist im gleichen Alter, das ist nicht immer einfach. Aber lass uns nun wieder auf den Fall zurückkommen. Man lernt sich am besten kennen, wenn man miteinander arbeitet. Du warst schon im Ermittlungsdienst, habe ich gehört.«

 

»Sieben Jahre bei der Sitte in Oldenburg, das hat gereicht. Der Job hier ist weitaus angenehmer. Smisek hat uns immer als Zuarbeiter bezeichnet.«

»Diesmal ist das anders, diesmal führen wir die Ermittlungen. Deswegen musst du mir sagen, ob du die Möglichkeit hast, dich zu Hause für ein paar Tage oder Wochen auszuklinken. Es sollte jemand nach Flensburg fahren, um mit den Kollegen dort über Tanja Sommerlath zu reden, und dabei dachte ich an dich.«

Hanna zupfte ihre langen Haare zurecht. »Max ist die nächsten Tage auf einer Studienreise mit seiner Klasse.«

»Das trifft sich gut«, sagte Trevisan. »Dann fährst du mit Lisa nach Flensburg und nach Kopenhagen und ich schaue mich am Steinhuder Meer um.«

Noch bevor Hanna antworten konnte, wurde die Tür aufgestoßen und Oberrat Engel betrat den Raum. Lisa war in seiner Begleitung, sie schaute geknickt drein.

»Kollege Trevisan, können wir uns einmal kurz unterhalten?«, fragte Engel mit leicht unterwürfigem Ton. »Unter vier Augen.«

»Wenn es um den Fall geht, dann sollten alle zuhören, die es betrifft.« Trevisan drückte Hanna, die sich erheben wollte, an den Schultern auf ihren Stuhl zurück.

Engel schaute ihn an und erkannte offenbar, dass er wohl keine andere Möglichkeit hatte, wollte er sein Anliegen vorbringen.

»Kollege Trevisan«, holte der Oberrat förmlich aus. »Ihre etwas unorthodoxe Art, an die Dinge heranzugehen, wirkt ein klein wenig befremdend auf mich. Wissen Sie, die Sache mit den Fahndungsplakaten und den Pressemitteilungen hätten Sie mit mir absprechen müssen. Ich denke, als Leiter …«

»Herr Engel«, fiel ihm Trevisan ins Wort. »Sie haben mir diesen Fall übertragen und, wenn ich mich noch richtig erinnere, freie Hand gegeben. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann sollen wir die Tat aufklären und nicht verwalten. Aber wenn Sie glauben, dass Sie die Ermittlungen vor Ort leiten sollten, dann ist es mir auch recht. Mit Flensburg und Kopenhagen ist alles abgesprochen, Sie müssen nur noch fahren. Man erwartet Sie dort.«

»Nein, ich dachte … So meine ich das nicht … Ich«, stammelte Engel.

»Ich hörte schon«, unterbrach ihn Trevisan, »dass Kollege Smisek eine andere Auffassung von Ermittlungsarbeit in dieser Abteilung hatte, als ich sie habe. Ich bin gewohnt, die Dinge offensiv anzugehen. Aber wenn dies nicht gewünscht ist – die Akten stehen in meinem Büro, ich bringe sie Ihnen gerne wieder zurück.«

Engel wirkte verwirrt. Abwehrend hob er die Hände. »Nein, nein, ich bin froh, dass Sie … Aber Sie hätten mir nur kurz Bescheid geben sollen.«

Trevisan schnappte sich den Laptop von Hannas Schoß und stellte ihn vor dem Kriminaloberrat auf den Tisch. »Sie kennen doch sicher das Programm, es wurde im letzten Jahr flächendeckend für die Ermittlungsdienste eingeführt.«

Engel wurde noch unsicherer und zuckte mit der Schulter.

»Es heißt Spuran und ist sehr nützlich, das ist die Abkürzung von Spuren- und Analyse-Programm. Darin wird alles erfasst, was mit dem Fall zu tun hat. Es hat ein Schlagwortverzeichnis für eine gezielte Suche und ist außerdem sehr übersichtlich.«

»Ich verstehe nicht«, gab Engel kleinlaut von sich.

»Sehen Sie, es gibt ein Register hier oben«, Trevisan zeigte auf den Bildschirm. »Unter der Rubrik Maßnahme können Sie alles sehen, was läuft. Und wenn Sie auf Ergebniskontrolle klicken, dann sehen Sie auf einen Blick, wie weit unsere Ermittlungen gediehen sind und welchen Erfolg einzelne Überprüfungen hatten. Hier sind die Plakat-Aktion und die Pressemitteilung vermerkt, Sie hätten also nur schauen müssen.«

»Ja«, seufzte Engel, »ja, gut. Und wo finde ich das?«

»Die ganze Abteilung wurde von der DV-Abteilung zum Zugriff ermächtigt. Geben Sie einfach im Programm Radwandern in die Suchmaske ein und schon sind Sie drinnen.«

Engel wirkte in die Enge getrieben. Diese Art der Unterhaltung schien er nicht gewohnt. Aber Trevisan wollte ein für alle Mal für klare Verhältnisse sorgen.

Zögernd richtete Engel sich auf. »Gut, gut, dann machen Sie weiter«, lenkte er schließlich ein und wandte sich um.

»Ich habe also freie Hand?«, rief ihm Trevisan nach.

»Tun Sie, was Sie für das Richtige halten, aber vergessen Sie nicht, mich darüber zu informieren«, antwortete der Kriminaloberrat, ehe er den Raum verließ und die Tür schloss.

Hanna und Lisa sahen sich einen Augenblick an, ehe sie geradeheraus lachten. »Dem hast du es aber gegeben«, feixte Hanna, »der hat nämlich von Basisarbeit keinen Schimmer.«

»Dafür hat er jetzt mich«, antwortete Trevisan.

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