Der Sohn des Apothekers

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Donnerstag

Trevisan hatte das mehrstöckige Dienstgebäude in der Schützenstraße in Hannover gegen acht Uhr betreten. Mit dem Fahrstuhl fuhr er in den dritten Stock, in dem das Dezernat 32 untergebracht war. Sein Büro, das er mit Kollegin Kowalski teilen musste, war wie in den letzten Tagen verwaist. Hanna Kowalski war noch bis zum Ende der Woche in Urlaub. Lediglich die nach Trevisans Einschätzung etwas eigentümliche Oberkommissarin Lisa Winter saß gegenüber im Zimmer und winkte ihm zu. Ihre Haare, vor zwei Tagen noch tiefschwarz, waren heute grellrot gefärbt. Trevisan ahnte, warum man dieser jungen Frau einen Innendienstjob gegeben hatte. Er erwiderte ihren Gruß und öffnete die Tür zu seinem Büro.

»Hey, Kollege!«, tönte es in seinem Rücken schrill. »Sie sollen zum Teufel gehen.«

Trevisan warf ihr einen verwirrten Blick zu. »Was ist?«

»Der Teufel will Sie sehen. – Unser Boss, Sie verstehen?«, antwortete sie mit einem Augenzwinkern.

Der Leiter des Dezernates 32 war Kriminaloberrat Engel. Hier war Trevisan wohl in einer sehr einfallreichsreichen Abteilung gelandet. Er dachte daran, wie heimisch er sich in Wilhelmshaven gefühlt hatte und wie familiär es im FK 1 zugegangen war.

»Er ist im Büro und wartet«, sagte Lisa Winter.

»Okay.« Trevisan machte sich auf den Weg. Er klopfte an die Tür der Vorzimmerdame und eine Frauenstimme meldete sich. Trevisan öffnete und schaute in das lächelnde Gesicht der Angestellten.

»Ah, jetzt lerne ich auch endlich unseren neuen Mitarbeiter kennen. Ich bin Karin Fittkau«, empfing ihn die blonde Frau und reichte ihm die Hand. Trevisan schätzte sie auf Mitte vierzig.

»Martin Trevisan. Ich hörte, der Chef will mich sehen.«

»Sie sind aus Wilhelmshaven zu uns gestoßen, nicht wahr?«

Trevisan nickte.

»Ich habe eine Schwester, die ist in Horumersiel verheiratet, eine schöne Gegend dort.«

Trevisan lächelte freundlich, aber er hatte auf eine Unterhaltung mit der zweifellos netten Dame keine Lust.

Frau Fittkau schien dies zu bemerken und umrundete ihren Schreibtisch. »Dann bringe ich Sie mal zum Chef.« Sie klopfte an der Zwischentür.

Dezernatsleiter Kurt Engel hatte die Ausstrahlung eines Buchhalters und empfing Trevisan mit Handschlag und leichter Verbeugung. »Ich begrüße Sie in meiner Abteilung«, sagte er steif und wies auf einen Stuhl.

Trevisan nahm Platz.

»Leider komme ich erst heute dazu, Sie willkommen zu heißen, am Montag war ich verhindert«, fuhr der Kriminaloberrat fort. »Sie befinden sich noch im Eingliederungsmanagement und sind bis zum Ende der Woche sechs Stunden bei uns?«

»Richtig«, bestätigte Trevisan verhalten.

»Sie hatten zwei Tage frei, wie ich hörte. Ich hoffe, Sie konnten die Zeit nutzen, um ihre privaten Dinge zu ordnen.«

Trevisan lächelte. »Ich hatte einen Notartermin in Wilhelmshaven.«

»Gut, in der letzten Woche haben Sie sich ja schon mit unserem Amt vertraut gemacht. Bei uns geht es ein klein wenig anders zu, als Sie es wahrscheinlich aus den Fachkommissariaten gewohnt sind. Wie ich hörte, haben Sie Frau Winter aus dem Dezernat bereits kennengelernt.«

»Ja, richtig.«

»Ich habe Ihrer Personalakte entnommen, dass Sie die Mordkommission der Wilhelmshavener Kriminalpolizei hervorragend geleitet haben und auch die leider tragischen Entwicklungen mit Ihrer Tochter und Ihnen selbst sind mir zugetragen worden. Wie geht es Ihrer Tochter heute?«

»Es geht, Sie wird hervorragend betreut. Zurzeit macht sie mit ihrer Gruppe einen längeren Ausflug nach Irland. Ich hoffe, dass alles gut wird, aber es wird noch einige Zeit vergehen, bis sie gesund ist.«

»Ich verstehe«, entgegnete der Kriminaloberrat. »Und wie sieht es mit Ihrer Gesundheit aus? Nächste Woche läuft Ihre Eingliederung aus und Sie sind dann Vollzeit bei uns. Denken Sie, dass Sie schon wieder so weit sind?«

Trevisan nickte.

»Das ist sehr gut.« Engel wies auf einen Wäschekorb voller grauer, abgenutzter Aktenordner. »Es kommt nämlich viel Arbeit auf unsere Abteilung zu und wie Sie ja am Montag bereits bemerkten, sind wir derzeit knapp an Personal. Kollege Amann ist noch mindestens zwei Wochen krankgeschrieben und Kommissar Berger kommt erst Mitte des Monats von seinem Lehrgang zurück. Also werden Sie sich zusammen mit Frau Winter und Frau Kowalski, deren Urlaub am Montag endet, an die Arbeit machen. Ich bin froh, dass wir den Abgang des Kollegen Smisek durch Ihre Abordnung kompensieren konnten. Gerade im anstehenden Fall sind uns Ihre Fähigkeiten als Ermittler sehr willkommen.«

»Um was geht es?«, fragte Trevisan.

Der Kriminaloberrat erhob sich und entnahm dem Wäschekorb scheinbar wahllos einen grauen Ordner. »Dieses Kapitaldelikt ist ein Revisionsfall, den wir unter die Lupe nehmen müssen.«

Trevisan betrachtete den Korb. »Das muss ein aufwändiges Verfahren gewesen sein.«

»In der Tat«, bestätigte Engel. »Es geht um das zunächst spurlose Verschwinden zweier junger Frauen, beide achtzehn Jahre alt. Eine tragische Sache. Sie befanden sich auf einer Radtour von Minden an die Nordseeküste. Die Reise samt allen Kosten und einem ordentlichen Taschengeld war ihnen von ihren Eltern aufgrund ihres bestandenen Abiturs geschenkt worden. Ihre Spur verliert sich in der Nähe des Steinhuder Meeres.«

»Ich glaube, ich habe von der Sache gehört«, antwortete Trevisan. »Das ist zwei oder drei Jahre her.«

»Es war am 29. September 1999, einem Mittwoch. Die Mädchen starteten am frühen Morgen von Neustadt. Ihr Etappenziel war Nienburg, doch dort kamen sie nie an. Ihre Fahrräder wurden einen Tag später nahe der kleinen Gemeinde Tennweide bei Mardorf in einem Wald gefunden. Die Kripo der Inspektion Garbsen hat damals eine Soko gebildet. Sie hatten einen jungen geistig Behinderten in Verdacht, der sich nach Zeugenangaben am mutmaßlichen Tattag in den Wäldern bei Mardorf herumgetrieben hatte. Bei einer Hausdurchsuchung fanden sie in seinem Zimmer die Halskette eines der Mädchen und nahmen ihn fest. Doch eine Woche später mussten sie ihn wieder auf freien Fuß setzen. Der Rucksack eines Mädchens war knapp vierzig Kilometer entfernt an der A7 in Höhe des Walsroder Dreiecks in Fahrtrichtung Norden aufgefunden worden. Es gab ein DNA-Muster an dem Gepäckstück, das vermutlich vom Täter stammt, doch bislang waren alle Abgleiche mit den DNA-Dateien ergebnislos. Der Täter ist weder vor noch nach der Tat in Erscheinung getreten. Kurzum, die Soko wurde im Sommer 2000 aufgelöst und der Fall zu den Akten gelegt. Erst vor zwei Monaten fand eine erneute Überprüfung durch unsere Abteilung statt, aber es gab keine neuen Ansatzpunkte, wir haben die Revision erfolglos beendet. Turnusgemäß überprüfen wir Altfälle alle sechs Monate.«

»Und warum kommt dieser jetzt wieder auf den Tisch?«

»Weil eins der Mädchen offenbar wieder aufgetaucht ist«, erläuterte Engel. »Die damals achtzehnjährige Tanja Sommerlath.«

Trevisan runzelte die Stirn. »Aufgetaucht? Was heißt das?«

»Vor knapp zwei Wochen wurde eine junge abgemagerte und verwahrloste Frau auf der B 200 in der Nähe von Flensburg von Verkehrsteilnehmern schwer verletzt aufgefunden. Den ersten Ermittlungen nach wurde sie wohl aus einem sehr schnell fahrenden Wagen geworfen. Es war reines Glück, dass sie überlebte. Da niemand die Frau kannte und auch in den Vermisstendateien keine ähnliche Person gespeichert ist, veranlassten die Kollegen aus Flensburg eine DNA-Analyse. Vorgestern kam das Ergebnis. Das genetische Muster stimmt mit unserer vermissten Tanja Sommerlath überein. Wir müssen davon ausgehen, dass die jungen Frauen vom Steinhuder Meer damals nicht getötet, sondern entführt wurden. Und wir müssen davon ausgehen, dass das zweite Mädchen, Melanie Reubold ist ihr Name, möglicherweise noch lebt.«

Trevisan kratzte sich am Kinn. »Ich verstehe, aber warum fragen wir diese Tanja nicht einfach?«

Engel fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. »Das ist nicht so einfach, sie liegt im Koma.«

»Gibt es sonst noch irgendwelche Erkenntnisse über die junge Frau?«

Der Kriminaloberrat nahm gezielt einen Aktenordner aus dem Wäschekorb und schlug ihn auf. »Offenbar ist das Mädchen schwer drogenabhängig, das geht aus dem medizinischen Gutachten hervor. Weiterhin wurden ältere Verletzungen im Genitalbereich diagnostiziert. Sie scheint vergewaltigt worden zu sein.«

Trevisan fuhr sich über das Kinn. »Haben die Kollegen aus Flensburg eine Spur oder zumindest einen Ansatzpunkt?«

»Es konnten Fasern an der Kleidung des Opfers festgestellt werden, die derzeit analysiert werden. Man erhofft sich davon Rückschlüsse auf das Fahrzeug, in dem das Mädchen saß, bevor es auf die Straße gestoßen wurde. Außerdem mutmaßen die zuständigen Kollegen, dass das Mädchen sich im benachbarten Dänemark aufgehalten hat. Es gibt da eine dänische Rockergruppe in Padborg, die sich Black Lions nennt. Padborg ist nicht weit von der Grenze entfernt. Die Gruppe wurde vor ein paar Tagen ausgehoben, weil sie in Drogenhandel und Prostitution verstrickt ist. Sie hielten zwei Frauen aus Litauen gefangen, die sie zur Prostitution zwangen. Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang. Aber das ist nur eine vage Spur.«

»Gut, im Grunde genommen stehen wir also am Anfang. Ich denke, ich werde mich erst einmal mit den Akten befassen.«

Der Kriminaloberrat druckste ein wenig herum. »Wissen Sie, normalerweise koordinieren wir Vermisstenfahndungen und unterstützen die Kollegen vor Ort bei ihrer Arbeit«, holte er aus. »Aber diesmal müssen wir unsere Arbeitsweise ein klein wenig ändern. Deswegen bin ich froh, dass Sie uns unterstützen, denn Sie sind ein Mann der Praxis und können unserer Abteilung mit neuen Impulsen helfen. Wir werden diesmal die Ermittlungen leiten.«

 

»Sie meinen, wir führen die Ermittlungen, wenn ich Sie richtig verstehe.«

Engel zog die Stirn kraus. »Auf uns lastet ein immenser Druck«, sagte er zögerlich. »Nicht nur die Presse sitzt uns im Nacken, auch die Mutter der noch immer verschwundenen Melanie Reubold hat sich an uns gewandt. Wir brauchen dringend Ergebnisse, und die polizeiliche Praxis, das gebe ich offen zu, ist nicht gerade unsere Paradedisziplin. Wir sind in erster Linie Service- und Koordinierungsstelle. Der Direktor erwartet, dass wir uns mit dem Fall intensiv auseinandersetzen. Er hat uns freie Hand gegeben. Ich könnte noch weitere Männer …«

Trevisan hob beschwichtigend die Hände. »Ich denke, ich lese mich erst einmal in die Akten ein.«

»Gut. Sobald Sie wissen, welchen Kräfteansatz wir benötigen, melden Sie sich bei mir«, entgegnete der Kriminaloberrat. »Trevisan, ich verlasse mich in dieser Sache voll auf Ihre Fachkenntnisse. Sie leiten diese Untersuchung und wenn Sie etwas brauchen, dann sagen Sie einfach Bescheid.«

*

Als Justin Belfort nach einer unruhigen Nacht und einem kargen Frühstück den Klosterkrug verließ, schien dieser Ort noch immer vom Leben ausgegrenzt zu sein. Auf dem weitläufigen Kirchplatz war trotz des blauen und strahlenden Himmels keine Menschenseele unterwegs. Noch nicht einmal die nahe Hauptstraße war befahren, und dabei war es die kürzeste Verbindung zwischen Neustadt und Mardorf.

Die Aufnahmen, die er gestern am Bannsee gemacht hatte, waren bereits an die Redaktion übermittelt. Aus den Polizeiakten wusste er, wo genau damals die Fahrräder der beiden Mädchen aufgefunden worden waren. Gute Kontakte zur Justiz und zur Polizei waren oftmals unbezahlbar. Ein Landwirt, der zu Waldarbeiten den engen Feldweg vom See in Richtung des Campingplatzes gefahren war, hatte die Räder entdeckt. Justin hatte sich die Adresse des Mannes notiert. Mit ihm wollte er heute als Erstes sprechen. Sein Gehöft lag am Ende des Wiesenweges, bevor aus dem schmalen, doch zumindest asphaltierten Weg eine mit Splitt aufgeschüttete Holperpiste wurde. Tjaden hieß der Mann und telefonisch hatte er sich mehrfach verleugnen lassen. Doch das war Justin Belfort gewohnt. Er wusste, wenn er etwas erreichen wollte, dann blieb ihm nicht viel anderes übrig, als bei den Leuten aufzutauchen und nicht mehr zu weichen, ehe er alles erfahren hatte, was er wissen musste.

Er holte seinen Schlüssel aus der Hosentasche, doch noch bevor er seinen Wagen aufgeschlossen hatte, heulte der Motor eines anderen Autos auf. Ein Streifenwagen bremste unmittelbar neben ihm. Ein uniformierter Beamter, Mitte fünfzig vielleicht und mit graumelierten Haaren, stieg aus. Der Polizist war alleine unterwegs.

»Guten Morgen, der Herr«, grüßte der Beamte. »Ich dürfte wohl einmal Ihre Papiere sehen.«

»Habe ich etwas angestellt?«, fragte Justin Belfort.

»Das weiß ich erst, wenn ich weiß, wer Sie sind.«

Justin Belfort holte seine Geldbörse aus der Hosentasche und entnahm seinen Personalausweis.

Der Beamte überflog den Ausweis und wies auf den Wagen. »Das ist Ihr Fahrzeug?«

Justin Belfort nickte.

»Dann haben Sie bestimmt auch einen Fahrzeugschein.«

»Sicher.« Justin öffnete die Wagentür und zog das Dokument hinter der Sonnenblende hervor.

Der Polizist musterte es und trat vor den Wagen, um das Kennzeichen im Schein mit dem des Fahrzeuges zu vergleichen.

»Hier steht Direkt Medien GmbH, Hannover«, sagte der Beamte spitz. »Ich dachte, das ist Ihr Wagen, aber Ihren Namen kann ich hier weit und breit nicht finden.«

»Das ist ein Dienstwagen, der mir zugeteilt ist. Ich arbeite für die Firma.«

»Und was tun Sie hier, Herr Belfort, wenn ich fragen darf?«

Justin Belfort steckte den Personalausweis wieder ein, den ihm der Polizist reichte. »Ich arbeite.«

»Gehört es zu Ihrer Arbeit, dass Sie hier herumstreunen und alles fotografieren, was Ihnen vor die Linse kommt? Eine sonderbare Arbeit, finden Sie nicht?«

»Hören Sie, Herr Kommissar…«

»Oberkommissar, bitte.«

»Okay, hören Sie, ich bin Journalist und recherchiere für ein Magazin. Ich mache nur meine Arbeit. Ich habe niemanden belästigt und auch niemanden fotografiert. Außerdem ist hier sowieso keine Menschenseele unterwegs. Also, das ist doch nicht verboten, oder?«

Unbeeindruckt umrundete der Polizist den Wagen, dessen Schmutzanhaftungen nicht zu übersehen waren. »Sie waren am See. Was wollen Sie hier?«

»Es geht um die verschwundenen Mädchen«, erklärte Justin Belfort. »Sie haben doch sicherlich gehört, dass eins von denen wieder aufgetaucht ist. Ich will eine Geschichte über ungelöste Kriminalfälle in Niedersachsen schreiben.«

»Da waren schon viele hier«, antwortete der Polizeibeamte. »Erst in den letzten Tagen trieben sich Ihre Kollegen im Ort herum, walzten alles nieder und hatten keinerlei Respekt vor fremdem Eigentum und vor der Natur.«

»Ich habe niemandem etwas getan.«

Der Polizist wies auf den schmutzigen Wagen. »Sie sind den Wiesenweg entlang bis zum See gefahren.«

»Und wenn schon«, antwortete Justin trotzig.

»Hinter dem Grubhof von Bauer Tjaden steht ein Sperrschild, aber das interessiert euch von der Presse ja nicht. Genauso wenig wie das Wohlergehen der Menschen hier in diesem Ort. Die Leute hier haben schon genug gelitten. Jeder x-beliebige Schreiberling meint, eine Story hier zu finden und den Ort durch den Dreck ziehen zu müssen. Hören Sie, hier wohnen anständige Bürger und Steuerzahler, die nichts anderes wollen als ihre Ruhe und Frieden. Sie wollen keine Artikel über ›den Ort des Grauens am Steinhuder Meer‹ lesen, wie es einer Ihrer Kollegen einmal in einem Artikel schrieb.«

»Was wollen Sie eigentlich von mir?«, fragte Justin Belfort unwirsch.

Der Polizist trat auf ihn zu. Auge in Auge blieb er vor ihm stehen. »Ich will, dass Sie die Leute und das Dorf hier in Ruhe lassen. Alles, was es zu dem Fall zu sagen gibt, können Sie der Presseerklärung der Inspektion in Garbsen entnehmen. Und außerdem will ich, dass Sie von hier verschwinden. Ich werde ein Auge auf Sie haben und für jeden Fehler, den Sie machen, werde ich Sie zur Rechenschaft ziehen. Schon der geringste Parkverstoß reicht aus. Und jetzt fangen wir gleich einmal an.«

»Was denn?«

Der Polizist trat hinter den Wagen und wies auf das verschmutzte Kennzeichen. »Nur damit wir uns verstehen, das kostet zehn Euro. Zahlen Sie gleich oder soll ich eine Verwarnung ausschreiben?«

Zähneknirschend zog Justin Belfort erneut seine Geldbörse hervor und reichte dem Polizisten einen Zehn-Euro-Schein.

»Ich weiß nicht, wie viel Geld Ihnen Ihr Käseblatt an Spesen mitgegeben hat, aber falls ich mich für Sie nicht klar genug ausgedrückt habe, sollten Sie Ihren Verleger anrufen, damit der Ihnen genügend überweist. Haben Sie mich verstanden?«

»Jedes Wort«, antwortete Justin Belfort.

3

Lisa Winter hatte sich einen zweiten Stuhl herangezogen und die Beine hochgelegt. Sie blickte lustlos auf ihren Computerbildschirm, doch als Trevisan ächzend und stöhnend den Gang entlangkam, bepackt mit dem Wäschekorb voller Akten, schaute sie interessiert auf.

»Da hat unser Teufelchen wohl etwas Ballast abgeladen und unseren Neuen mit reichlich Lesestoff eingedeckt«, bemerkte sie lakonisch. »Die Fälle der letzten hundert Jahre?«

»Irrtum, Kollegin, das sind die Akten zu unserem neuen Fall«, entgegnete Trevisan. »Prioritätsstufe eins.«

»Das ist ein Fall?« Sie erhob sich, umrundete ihren Schreibtisch und blieb vor dem Wäschekorb stehen.

»Was tun Sie eigentlich gerade?«

Lisa zuckte die Schultern. »Ich bin Lisa und ich werte Daten aus. So wie immer.«

»Und das heißt?«

»Ich gleiche Daten aus dem Pol-Info-System des BKA mit unserer landesweiten Vermisstendatei ab.«

Trevisan räusperte sich. »Gut, schon Erfolg gehabt?«

Lisa schüttelte den Kopf. »In diesem Jahr noch nicht, aber im letzten Jahr konnte ich eine unbekannte Tote aus der Leine identifizieren.«

»Enorm«, antwortete Trevisan spöttisch »Dann wird das BKA ja noch eine Weile warten können. Wir kümmern uns ab sofort ausschließlich um diesen einen Fall. Gibt es hier so etwas wie einen Konferenzraum?«

Lisa wies den Flur hinunter. »Wir haben einen Soko-Raum am Ende des Flures. Wir nutzen ihn als Abstellraum.«

Trevisan bückte sich und drückte ihr zwei Ordner in die Hand. »Soko-Raum hört sich gut an.« Er wies mit dem Kopf den Flur hinunter. Lisa stapfte voraus und öffnete die Tür. Trevisan folgte ihr mit dem Wäschekorb.

Der Raum erinnerte ihn an das Konferenzzimmer in Wilhelmshaven. Zwei große Pinnwände standen an der Stirnseite, daneben eine Tafel. In der Mitte befand sich ein langer Tisch mit heller Arbeitsfläche, umringt von Stühlen. Zehn zählte Trevisan. Mitten auf dem Tisch standen mehrere Telefone und an der Wand gegenüber der Fensterreihe hingen Karten von Deutschland, Niedersachsen und aus der Region. Es gab zwei voll ausgestattete Computertische und einen Regalschrank. Standardausstattung für Räume, in denen Sonderkommissionen arbeiteten.

»Genau das, was wir für unsere Ermittlungen brauchen«, sagte Trevisan und platzierte den Wäschekorb auf dem Tisch. Dann nahm er Aktenordner nach Aktenordner heraus und stellte sie in den Regalschrank.

»Um was dreht es sich eigentlich in dem Fall?«, fragte Lisa, nachdem sie Trevisan eine Weile beobachtet hatte.

Er öffnete das Fenster, dann wies er auf einen Stuhl. Zögernd nahm Lisa Platz. Trevisan setzte sich neben sie und erzählte ihr, was er von Oberrat Engel über die verschwundenen Radfahrerinnen erfahren hatte.

Am Ende schluckte Lisa und schaute Trevisan mit großen Augen skeptisch an. »Und wir sollen die Ermittlungen führen?«

»Ja, genau, das werden wir in den nächsten Tagen und Wochen tun«, antwortete Trevisan bestimmt. »Und wenn wir eine Chance haben, dann werden wir den Fall auch lösen.«

»So etwas haben wir in dieser Abteilung noch nie gemacht. Das …«

»Wie lange bist du schon bei der Polizei?«

Lisa lächelte verlegen. »Ich bin seit acht Jahren hier. Direkt nach der Ausbildung. Sechs Jahre Kriminaltechnische Auswertung, dann zwei Jahre beim Lagezentrum. Seit letztem Jahr hier im Dezernat.«

»Du hast doch bestimmt schon einmal an einem Fall mitgearbeitet?«, fragte Trevisan.

»Ich war bei der daktyloskopischen Auswertung und später dann bei der DNA. Im Lagezentrum haben wir Mails und Berichte durch das ganze Land gesteuert.«

Trevisan legte den Kopf schräg und blickte ihr gedankenvoll ins Gesicht. »Also gut, wenn das so ist. Dann ist das eben unser erster Fall.«

»Und wo fangen wir an?«

Er deutete auf die Aktenordner. »Wir werden uns jetzt erst einmal in die Ermittlungsergebnisse der damaligen Sonderkommission einarbeiten. Wir sondieren das Material, legen eine Spurendatei an, sichten die Fotos und die Berichte und übertragen alles in den PC, damit wir einen schnellen Zugriff haben. Dann erstellen wir ein Tatortprofil, markieren und überprüfen die Route der beiden Mädchen und verfassen ein Schlagwortverzeichnis, für gezielte Recherchen. Wenn wir das alles eingerichtet haben, machen wir uns an die eigentliche Arbeit.«

»Das klingt aufregend … Ich habe so etwas noch nie gemacht«, stotterte Lisa.

»Aber ich, außerdem gibt es dazu Vorlagen.« Er schaute auf die Uhr. »Hast du heute noch etwas vor?«

Lisa zuckte mit der Schulter.

Trevisan erhob sich. »Das ist gut, ich ebenfalls nicht. Und richte dich in den nächsten Tagen darauf ein, dass wir ein paar Überstunden machen werden. Denn ohne wird es wohl nicht gehen, schätze ich.«

*

Der Grubhof von Bauer Tjaden lag am nördlichen Ende des Dorfes am Wiesenweg, der durch den angrenzenden Wald vorbei an den Mooren zum Bannsee führte. Dort hatte der Bauer damals die Fahrräder der verschollenen Mädchen aufgefunden. Justin Belfort lenkte seinen Wagen von der Straße in das weitläufige Gehöft und hielt an. Ein schwarzer Mischlingshund an der Kette vollführte lauthals bellend wilde Kapriolen vor seiner Hütte. Justin schaute sich um. Niemand war zu sehen, doch aus einer offenen Scheunentür drang das ohrenbetäubende Kreischen einer Kreissäge.

Justin ging auf die Scheune zu, in der zwei Männer, ein junger und ein älterer, damit beschäftigt waren, Meterstücke Holz zu zersägen. Als der Jüngere, Justin schätzte ihn auf knapp zwanzig, ihn sah, gab er dem alten Mann in blauer Arbeitskluft ein Zeichen, doch der ließ sich nicht beirren. Erneut fegte das laute Jaulen der Säge über den Hof und erst, als das Holz zersägt war, schaltete der Alte sie aus und wandte sich zu Justin um.

 

»Ja?«

»Sind Sie der Besitzer dieses Hofes, Herr Tjaden?«, fragte Justin.

»Ganz recht.« Er wandte sich seinem jungen Gehilfen zu. »Bring die Stücke in das Lager, du kannst schon den Spalter richten.«

Der junge Mann nickte kurz und verschwand durch eine Seitentür.

»Was wollen Sie?«, fragte Tjaden mürrisch.

»Mein Name ist Justin Belfort, ich arbeite für das Direkt-Magazin und will mit Ihnen reden.«

Der Mann in blauer Arbeitskluft zeigte überrascht auf die eigene Brust. »Mit mir? Warum das?«

»Es geht um die Geschichte der verschwundenen Radfahrerinnen«, erklärte Justin. »Meinen Informationen nach haben Sie damals in der Nähe des Bannsees die Räder entdeckt.«

»Kann schon sein.«

»Haben Sie schon gehört, dass eines der Mädchen wieder aufgetaucht ist?« Justin holte einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche.

Tjaden zuckte mit der Schulter. »Meinetwegen.«

Justin stutzte. »Es muss Sie doch interessieren, schließlich waren Sie damals auch irgendwie an dem Fall beteiligt.«

Tjaden, Justin schätzte ihn auf etwa sechzig, machte einen Schritt auf ihn zu. »Hören Sie, damals tauchten reihenweise Reporter hier auf meinem Hof auf und brachten alles nur durcheinander. Jeder wollte wissen, was ich gesehen habe und ob ich etwas Verdächtiges bemerkt hätte. Sogar mitten in der Nacht klingelten sie an meiner Tür. Man kam gar nicht zur Ruhe. Und am Ende nannten die Zeitungen unseren Ort das Dorf des Grauens. Ich habe keine Lust mehr auf den Zinnober. Ich bin mit dem Trecker einfach nur einen Weg entlanggefahren, da lagen zwei Räder im Gebüsch. Ich habe den Polizisten in Mardorf Bescheid gegeben und mehr war da nicht. Ich wusste nicht einmal, dass da ein paar Mädchen verschwunden waren, ich dachte, da hat jemand seinen Müll in meinen Wald geworfen, und das kann man sich doch nicht bieten lassen.«

»Und Sie haben niemanden dort draußen bemerkt?«

»Ich bin noch nicht mal vom Trecker abgestiegen. Ich habe der Polizei den Weg beschrieben. Erst einen Tag später erfuhr ich davon, dass da jemand verschwunden sein soll. Das habe ich damals zu Protokoll gegeben und jetzt geht es wieder von vorne los. Sie sind schon der Vierte, der hier bei mir auftaucht und wieder die gleichen Fragen stellt wie damals. Ich will meine Ruhe haben, das ist doch nicht zu viel verlangt.«

Justin nickte. »Das kann ich verstehen. Aber Sie müssen doch zugeben, dass es ungewöhnlich ist, dass hier zwei Mädchen vor drei Jahren verschwanden und nun eines davon bei Flensburg wieder auftaucht.«

»Das geht mich nichts an, fragen Sie doch das Mädchen.«

Justin überging Tjadens Antwort. »Damals fand eine große Suchaktion statt. Haben Sie auch mitgeholfen?«

Tjaden schüttelte den Kopf. »Keine Zeit, war im Sommer zur Erntezeit.«

Justin Belfort zeigte auf den jungen Mann, der wieder aufgetaucht war und die gesägten Holzstücke zusammensammelte. »Und er, wohl ihr Sohn, hat er bei der Suche geholfen?«

»Ist mein Enkel. Der wohnt in Eckernförde. Hauke ist nur ab und zu hier, wenn Semesterferien sind. Studiert in Kiel und will Meeresbiologe werden.«

Justin schaute sich um. »Das ist ein großer Hof, Sie haben doch sicher jemanden, der hier Ihnen hilft?«

»Meine Frau und ich.«

»War Ihr Enkel damals auch hier auf dem Hof, als es passierte?«

»Nein, damals ist mir der Robert zur Hand gegangen. Ist aber gestorben. Letztes Frühjahr. Verdammter Krebs.«

Justin Belfort notierte Tjadens Angaben in seinem Notizbuch. »Robert?«, fragte er neugierig nach.

»Ja, Krauthoff hieß er. Ist aus dem Dorf, war alleine und hat früher mal als Schreiner gearbeitet. Hat gut mit angepackt und war ein ganz feiner Kerl. Aber ist ja nun nicht mehr. War Mitte fünfzig, noch kein Alter zum Sterben.«

»Ja, Sie haben recht, ist noch kein Alter zum Sterben. Gibt es sonst noch jemanden, der mir etwas über das Verschwinden der Mädchen sagen kann?«

»Unseren Dorfpolizisten können Sie fragen, der wohnt hier in Tennweide. Da war ganz schön was los. Sogar der Hubschrauber ist stundenlang über den Feldern und dem Wald gekreist.«

Justin Belfort schmunzelte, als er an die unschöne Begegnung vorhin dachte. »Mitte fünfzig, graue Haare und etwa einen Kopf größer als ich?«

Tjaden kratzte sich am Kinn. »Muss er wohl sein, fährt oft hier im Dorf Streife und er verscheucht das Ungeziefer.« Der Bauer grinste provokant.

»Es ist nicht alles Ungeziefer, was sich für das damalige Geschehen interessiert«, widersprach Justin.

»Aber die meisten interessieren sich gar nicht für die Geschichte der Mädchen, die wollen doch nur Geld verdienen und die Auflagen steigern. Sie drehen dir das Wort im Mund herum. Da war so einer, Anfang der Woche, wenn der nicht gegangen wäre, hätte ich Hasso auf ihn gehetzt.«

Justin warf dem gefährlich dreinblickenden Mischlingshund einen Blick zu und zwinkerte mit dem Auge. »Da bin ich ja froh, dass Sie mich ein klein wenig besser leiden können.«

»Kann ich gar nicht, aber ihr seid wie die Kartoffelkäfer, kommt immer wieder, solange es noch was zu beißen gibt. Da sag ich lieber gleich, was ich weiß, dann seid ihr zufrieden und ich hab meine Ruhe.«

»Eine Frage hätte ich noch«, sagte Justin. »Gab es damals, als die Mädchen verschwanden, viele Touristen in der Gegend?«

»Da war schon Spätsommer, ein paar Touristen waren wohl noch da, aber die sind meistens am See, der ist in der anderen Richtung.«

»Ich hörte, dass es damals eine Festnahme gab, ein Junge aus dem Dorf. Aber er wurde nach kurzer Zeit wieder freigelassen.«

Tjaden nickte eifrig. »Ja, der Sven. Aber der war es nicht, der hat nur was gefunden, das einem der Mädchen gehörte. Der ist ein bisschen bekloppt, aber der tut niemandem was. Ich hab gleich gesagt, so ein Blödsinn, zu glauben, der hätte was damit zu tun. Der ist lammfromm. Trieb sich damals oft im Wald herum und hat dort gespielt, aber ein Mörder ist das nicht, das ist klar.«

»Lebt Sven noch hier im Ort?«

Tjaden schüttelte den Kopf. »Ist jetzt im Heim. Sein Vater ist Apotheker in Mardorf, der wohnt noch hier.«

Justin Belfort bedankte sich. Seine Recherchen hatten ergeben, dass Sven Thiele seit dem Vorfall in der geschlossenen Pflegeanstalt der Psychiatrischen Klinik Langenhagen lebte und Rudolf Thiele nach wie vor in Tennweide wohnte. Justin schickte sich an, zu seinem Wagen zu gehen, wandte sich aber noch einmal um. »Können Sie mir genau sagen, wo Sie die Fahrräder damals gefunden haben?«

Bauer Tjaden zeigte in Richtung des Waldes.

»Moment, ich habe eine Karte im Wagen.« Justin eilte zu seinem Audi. Der alte Mann folgte ihm. Als Justin die Radwanderkarte auf der Motorhaube auseinandergefaltet hatte, beugte sich Tjaden darüber. Nach kurzer Suche fand er Tennweide und den Wiesenweg, den er mit seinem Finger entlangfuhr, bis kurz vor dem Bannsee ein kleiner Weg nach rechts abzweigte. »Hier, etwa einhundert Meter nach der Abzweigung. Der Wald gehört mir. Da steht ein Gebüsch. Hagebutten sind das. Darin lagen die Räder, aber man konnte sie gut sehen.«

»Also wurden sie nicht versteckt«, murmelte Justin.

»Weiß ich nicht.«

»Sie sagen, man konnte sie sehen, also sind sie nicht versteckt worden, oder derjenige, der sie dort hingebracht hat, wurde gestört.«

»Gestört, wie meinen Sie das?«

»Spaziergänger, Waldarbeiter oder …«

Der alte Mann kratzte sich am Kopf. »Jetzt, wo Sie das sagen«, brummte er.

»Was?«

»Damals war ich jeden Tag da draußen, da hatte ich eine Aufforstung, die zu reinigen war. Die ganze Woche bin ich rausgefahren. In der Frühe raus und dann, wenn es dunkel wurde, wieder zurück.«

»Die Mädchen verschwanden am Mittwoch, das war der 29. September 1999.«