Der Sohn des Apothekers

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Lisa nickte und fuhr erschrocken zusammen, als Trevisan scharf bremsen musste, weil er zu spät erkannt hatte, dass der Wagen vor ihm anhielt.

Als er wieder losfuhr, entspannte sich Lisa. »Und der Fall ist kalt.«

»So kalt wie ein Eisbecher beim Italiener«, bestätigte Trevisan. »Und wir müssen den Fall wieder anheizen, damit wir nicht nur mit dem Verstand arbeiten, sondern auch mit unserem Gefühl.«

Lisa legte ihren Zeigefinger gegen die Stirn. »Ich hab’s kapiert. Du bist bestimmt ein guter Ermittler, aber ein verdammt schlechter Autofahrer.«

»Ich weiß«, antwortete Trevisan. »Und Dittel war jetzt auch nicht unbedingt ein gutes Beispiel für einen Mann, der mit Herz und Verstand ermittelt. Aber zumindest weiß ich jetzt, was ich von ihm und seiner Arbeit zu halten habe.«

Eine Weile schwiegen sie, ehe Lisa wieder das Wort ergriff. »Was machen wir als Nächstes?«

»Wir reden mit den Eltern der Mädchen, besser gesagt mit den Reubolds. Die Sommerlaths sind im letzten Jahr auf der Autobahn bei Venedig tödlich verunglückt.«

Lisa blickte betreten zu Boden. »Ja, ich habe den Aktenvermerk gelesen. Das ist schon verrückt. Sie sind gestorben, ohne zu wissen, dass ihre Tochter noch am Leben ist. Das arme Mädchen hat nun überhaupt niemanden mehr …«

»Das ist nicht ganz richtig«, fiel ihr Trevisan ins Wort. »Es gibt noch eine Tante in Florida.«

»Ja, aber ich meine hier, in Deutschland. Wenn ich im Koma liegen würde, hätte ich gerne jemanden an meinem Bett sitzen.«

Trevisan bog in Richtung Schützenstraße ab und stoppte vor der Zufahrt der Tiefgarage. »Wir machen jetzt mit den Spuren weiter und steigen morgen richtig ein.«

»Morgen ist Samstag«, entgegnete Lisa.

»Ich weiß. Aber wir arbeiten an einem Mordfall, da gibt es keine Wochenenden.«

»Willst du morgen zu den Reubolds?«

Trevisan nickte.

»Muss ich da mit? ich weiß nicht … Da habe ich kein so gutes Gefühl. Diese Leute gehen bestimmt gerade durch die Hölle.«

Trevisan verstand, was Lisa meinte. »Wenn du nicht willst, musst du nicht.«

»Danke.«

»Fein, dann ran an den PC, bis heute Abend haben wir alle Daten geordnet und übertragen. Du wirst sehen, wie hilfreich ein systematisch aufgebautes und geordnetes Nachschlagewerk ist.«

6

In der Klosterapotheke in Mardorf herrschte Hochbetrieb. Neben zwei Helferinnen stand auch der groß gewachsene Apotheker im Stress. Erst in der letzten Woche hatte Justin in einem Bericht gelesen, dass Allergien auf dem Vormarsch waren. Schaute man in die Gesichter der Kunden mit ihren verschwollenen und geröteten Augen, sah man deutlich, dass die Reportage nicht aus der Luft gegriffen gewesen war. Justin Belfort stellte sich in eine Ecke und wartete geduldig, bis sich der Verkaufsraum leerte.

Er musste lange warten, denn für jeden Kunden, der ging, betrat ein weiterer die Apotheke. Beinahe eine Stunde verging. Mehrmals wurde Justin von einer Angestellten nach seinen Wünschen gefragt, doch wenn er auf den Apotheker zeigte und sagte, dass er mit Herrn Thiele sprechen wolle, wurde er vertröstet. Er hatte Geduld, schließlich blieb ihm nichts weiter übrig, denn zu Hause würde ihn der Apotheker bestimmt nicht empfangen. Doch hier konnte er Justin nicht ausweichen.

Als nur noch zwei Kunden im Verkaufsraum waren, wagte er einen Vorstoß. Der Apotheker stand hinter der Ladentheke und füllte ein Formular aus, als er an ihn herantrat.

»Guten Tag, Herr Thiele, hätten Sie einen Augenblick Zeit für mich?«, fragte Justin freundlich.

Ebenso freundlich blickte der Apotheker auf. »Sicherlich, womit kann ich Ihnen helfen?«

Justin Belfort zückte seinen Presseausweis. »Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten. Nur ein paar Fragen, ich fasse mich kurz. Ich finde das nämlich eine ganz schwache Leistung der Polizei und ich denke, Ihnen sollte Gelegenheit gegeben werden, so manches geradezurücken.«

Die Gesichtszüge des Apothekers waren plötzlich wie versteinert, das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden. Er beugte sich vor. »Verschwinden Sie!«, zischte er leise. »Verschwinden Sie, bevor ich die Polizei rufe.«

Justin hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin nicht von einem Klatschblatt, ich komme vom Direkt-Magazin aus Hannover und ich mache eine Reportage über ungelöste Kriminalfälle und Justizirrtümer. Deswegen bin ich hier. Sie haben doch sicherlich gehört, dass es eine überraschende Wendung im vermeintlichen Mordfall von Tennweide gegeben hat. Eines der Mädchen ist wieder ausgetaucht, lebend. Es ist mir ein Anliegen, den Fall der beiden Radfahrerinnen in meiner Reportage aufzubereiten, denn ich finde, es wurde viel zu wenig getan, um das Verbrechen aufzuklären. Schauen Sie sich unser Rechtssystem doch einmal an, es fehlt an allem, es gibt zu wenig Polizisten und auch die Kriminaltechnik hinkt der Entwicklung weit hinterher. Über die Justiz und ihre teilweise weltfremden Entscheidungen möchte ich gar nicht reden.«

Thiele runzelte die Stirn und seine abweisende Haltung lockerte sich ein wenig.

»Nur eine halbe Stunde Ihrer Zeit«, bat Justin. »Mehr nicht. Hören Sie mich bitte an, und wenn Sie dann immer noch der Meinung sind, dass Sie nicht über die Sache reden wollen, dann verschwinde ich und Sie sind mich los. Falls aber doch, dann könnten Sie den anderen Reportern, die angesichts der Wendung in diesem Kriminalfall sicherlich noch auftauchen werden, einfach sagen, dass Sie exklusiv mit dem Direkt-Magazin zusammenarbeiten. Wie wäre das?«

»Das mit dem Mädchen stimmt wirklich?«, fragte Thiele.

»Ja, es steht mittlerweile fest«, antwortete Justin. »Es gab einen DNA-Vergleich. Glauben Sie mir, ich spiele mit offenen Karten. Das Direkt-Magazin ist ein seriöses Blatt. Wir haben es nicht nötig, die Leute hinters Licht zu führen.«

Thiele überlegte, schließlich nickte er. »Gut, zwanzig Minuten. Kommen Sie mit nach hinten.«

Lächelnd folgte Justin Belfort dem Apotheker.

*

Kabel und Messsonden führten von dem reglosen Körper zu den Apparaten neben dem Bett auf der Intensivmedizinischen Station der Flensburger Diako-Kliniken. Der behandelnde Arzt betrachtete die Krankenakte. Die junge Frau lag im Koma. Bei ihrem vermeintlichen Unfall hatte sie mehrere Knochenbrüche und innere Verletzungen davongetragen, besonders gravierend waren die Kopfverletzungen. Eine Schädigung des Gehirns konnte man nicht ausschließen. Es blieb nicht viel mehr, als abzuwarten, ob der ausgemergelte Körper den Kampf ums Überleben gewinnen oder verlieren würde.

Hauptkommissar Freddy Seelmann vom Flensburger K 1 stand vor dem Bett und musterte den Arzt fragend.

»Ich kann wirklich nicht sagen, wie lange es noch dauern wird, bis Sie mit ihr reden können«, sagte der Mediziner. »Wenn Sie überhaupt noch einmal zu Bewusstsein kommt. Medizinisch gesehen ist sie derzeit stabil, aber für eine Prognose ist es noch viel zu früh.«

»Sie könnte in der Vergangenheit vergewaltigt worden sein, steht im Bericht des Rechtsmediziners«, zitierte Freddy Seelmann aus seinem Notizbuch.

»Das kann gut sein. Sie hat Verletzungen im Vaginalbereich, die darauf schließen lassen. Aber die sind durchweg älter. Außerdem gibt es Hautveränderungen an den Handgelenken. Ich bin zwar kein Spezialist, aber sie könnten von einer Fesselung herrühren. Sicher bin ich mir da nicht, es könnten auch andere Gründe zur Vernarbung des Gewebes geführt haben.«

Da die junge Frau derzeit nicht geschäftsfähig war, hatte das zuständige Gericht der Sozialstelle der Stadt die Vormundschaft übertragen und eine Pflegerin bestellt, die das Krankenhaus und sämtliche behandelnde Ärzte von der Schweigepflicht entbunden hatte. Außerdem war über die Staatsanwaltschaft ein gerichtsmedizinisches Gutachten beantragt worden, das inzwischen auf Freddys Schreibtisch gelandet war. Nun war er ins Krankenhaus gefahren, um darüber mit dem Arzt zu sprechen.

»Und hochgradig süchtig ist sie«, fügte der Arzt hinzu, »was in ihrem Zustand natürlich für den Heilungsprozess nicht förderlich ist. Die Entgiftung ist noch nicht abgeschlossen.«

»Heroin, steht in meinen Unterlagen«, antwortete Freddy Seelmann.

Der Arzt legte das Krankenblatt der jungen Frau auf den Beistelltisch, auf dem inzwischen der Name Tanja Sommerlath vermerkt worden war. »Das deckt sich mit unseren Untersuchungen. Sind Sie schon einen Schritt weitergekommen?«

Freddy schüttelte den Kopf. »Außer Frage steht, dass sie bei hoher Geschwindigkeit aus einem Wagen auf die Straße stürzte. Der Rechtsmediziner hat ein Verletzungsmuster rekonstruiert, das den Verdacht aufwirft, dass sie hinausgestoßen wurde. Wir vermuten einen Bus oder einen Van mit Schiebetüren, denn bei dem angenommenen Tempobereich kriegen Sie eine herkömmliche Tür kaum auf. Wir gehen von einem Mordversuch aus, denn jeder kann sich vorstellen, was mit einem Körper geschieht, der bei einer derart hohen Geschwindigkeit auf die Straße geworfen wird. Da wird der Tod billigend in Kauf genommen.«

»Ich hoffe, dass Sie die Kerle kriegen, die das getan haben«, entgegnete der Arzt.

»Eine Frage noch, Herr Doktor. Gibt es Anzeichen dafür, dass man sie in einem Kellerverlies festgehalten hat?«

»Anzeichen?«, wiederholte der Arzt fragend. »Was für Anzeichen meinen Sie?«

»Keime, Bakterien, ich bin kein Fachmann«, entgegnete Freddy Seelmann. »Ich dachte nur, ein modriges und verschimmeltes Kellerverlies hinterlässt irgendwelche Spuren. Vielleicht in den Atemwegen oder der Lunge oder auch unter den Fingernägeln.«

Der Arzt nickte. »Ich verstehe, aber da muss ich leider passen. Ich kann nur sagen, dass sie im Allgemeinen in einem sehr schlechten gesundheitlichen Zustand ist und es wohl auch vor dem Vorfall nicht zum Besten mit der Hygiene stand. Außerdem ist sie auffallend blass, was durchaus dafür spricht, dass sie nicht viel Sonne zu sehen bekam.«

 

Freddy nickte. »Danke, und falls ich noch Fragen habe …«

»Sie können mich jederzeit anrufen, das ist kein Problem. Ich helfe gerne, wenn ich kann.«

*

»Bingo!«, rief Lisa und schaute vielsagend auf den Computerbildschirm.

»Was hast du denn?«, fragte Trevisan, der gegenüber Platz genommen hatte und ebenfalls auf den Bildschirm starrte.

»Spur 156«, sagte Lisa. »Die Aussage eines Gemischtwarenhändlers namens Staufert und der Wirtin einer Pension in Tennweide. Beide haben am Tattag einen langsam durch den Ort fahrenden VW-Bus gesehen. Einen alten, teils verrosteten Bus mit weißer Lackierung, der möglicherweise ein dänisches Kennzeichen hatte. GA und dann folgten vier oder fünf Zahlen, die Farbkombination könnte tatsächlich dänisch gewesen sein.«

Trevisan rief auf seinem Bildschirm die Spur 156 auf und las die Auszüge der beiden Zeugenaussagen, die ihre Angaben unabhängig voneinander gemacht hatten. »Hm«, brummte er, »ein dänischer Bus, das könnte passen.«

»Das meine ich aber auch«, triumphierte Lisa.

»Du hast schnell dazugelernt. Du siehst also, wie hilfreich dieses Programm ist. Damit man die Dinge zusammenführen kann und den Überblick behält.«

Lisa kam zu Trevisans Schreibtisch und setzte sich locker auf die Schreibtischkante. »Wenn der Hintergrund nicht so traurig wäre, dann würde es mir sogar richtig Spaß machen. Das ist ja wie Rätselraten.«

Trevisan legte den Kopf schräg. »Mein Gott, ich frage mich, was ihr die ganze Zeit über in dieser Abteilung getrieben habt.«

»Ich sagte doch schon, wir haben Bilder von Vermissten auf Milchtüten geklebt.«

»Im Ernst?«

»Natürlich nicht. Aber Fahndungsplakate, Fahndungshinweise und die ganze Öffentlichkeitsarbeit, das war schon ein wesentlicher Teil unserer Arbeit.«

»Das ist gar nicht schlecht.« Trevisan kratzte sich am Kinn. »In der Akte steht, dass damals die Öffentlichkeitsfahndung nach den beiden Mädchen von der Staatsanwaltschaft angeordnet wurde, und diese Anordnung ist bislang nicht widerrufen. Im Gegenteil, es erging ein neuer Ermittlungsauftrag, das heißt, alle früheren Maßnahmen im Zusammenhang mit diesem Fall leben wieder auf. Deshalb will ich, dass du zwei Hochglanzfotos der Mädchen zu einem Fahndungsplakat zusammenstellst. Wir fragen, ob die Mädchen nach ihrem Verschwinden irgendwo gesehen worden sind. Vielleicht meldet sich auch jemand, der jetzt etwas zu sagen hat und damals schwieg, aus welchem Grund auch immer. Zusätzlich Berichte in den örtlichen Medien und im Raum Flensburg. Auch das dänische Grenzgebiet und Padborg müssen wir mit einbeziehen. Kümmere dich bitte gleich morgen früh darum, wenn ich zu den Reubolds fahre.«

»Aber ist das nicht eine Zumutung für die Familien der Vermissten?«, wandte Lisa ein. »Ich meine, da kommt doch alles wieder hoch und die alten Wunden werden erneut aufgerissen.«

»Denkst du, die Eltern kommen jemals über den Verlust ihrer Kinder hinweg?«, fragte Trevisan. »Glaub mir, es ist ein Schmerz, der ewig in dir bohrt. Solange du lebst, wirst du ihn nie vergessen. Und ich weiß, wovon ich rede.«

»Entschuldige, ich habe nicht daran gedacht.«

»An was hast du nicht gedacht?«

»Deine Tochter«, antwortete Lisa. »Ich weiß, was euch damals passiert ist und … und es tut mir leid.«

»Schon gut«, entgegnete Trevisan, ein kurzer Gedanke galt Paula, doch er wischte das Bild weg. Er wusste, es ging ihr gut und er brauchte jetzt alle Konzentration für diesen Fall. »Manchmal tut es auch gut, wenn man sich kümmert. Vergiss nicht, die Leichen wurden nie gefunden und jetzt taucht plötzlich eines der Mädchen wieder auf. Was, glaubst du, geht gerade in den Köpfen der Eltern von Melanie vor? Ich kann es dir sagen: Die Hölle ist für sie zurückgekehrt, viel schlimmer noch als zuvor, alles andere würde mich wundern. Vielleicht hilft es ihnen wenigstens ein klein wenig, wenn sie merken, dass wir das Schicksal der beiden nicht vergessen und abgeheftet haben.«

Lisa knabberte an einem Kugelschreiber. »Wenn ich daran denke, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Vielleicht sitzt jetzt gerade ein Mädchen irgendwo in einem kalten Verlies, vergewaltigt und geschunden, und wartet darauf, dass wir ihr helfen.«

»Leider sind die Eltern von Tanja bei einem Autounfall ums Leben gekommen«, fuhr Trevisan fort. »Wenn sie jemals wieder auf die Beine kommt, dann wartet schon der nächste Schicksalsschlag auf sie. Also, machen wir uns an die Arbeit. Kümmere dich bitte um die Plakate, ich muss telefonieren.«

»So, mit wem denn?«

»Du bist ganz schön neugierig«, feixte Trevisan. Die jugendliche Unbekümmertheit seiner neuen Kollegin tat ihm gut. »Ich kenne da jemanden in Dänemark, der uns vielleicht bei Spur 156 weiterhelfen kann.«

Lisa warf ihren Stift auf den Schreibtisch. »Die Plakate … Din A4 oder Din A3?«

»Am besten beide Formate. Aber die Bilder müssen groß sein, ich will, dass sie mindestens siebzig Prozent des Plakats ausmachen.«

Lisa salutierte. »Aye, Käpt’n, wird gemacht.«

7

Rudolf Thiele, der Apotheker von Mardorf, zog den Vorhang des kleinen Fensters im Nebenraum zu und warf einen skeptischen Blick aus dem Fenster.

»Nehmen Sie Platz!«, forderte er Justin Belfort auf. »Ich werde Ihnen erzählen, wie es war und ich möchte, dass Sie sich ein Bild von meinem Sohn Sven machen können. Glauben Sie mir, diese Polizisten hatten überhaupt kein Interesse, den Fall zu lösen. Das war eine einzige Hexenjagd. Sie hatten ihn zum Sündenbock abgestempelt, weil er sich nicht wehren konnte.«

Thiele atmete tief ein. »Wissen Sie, in einem kleinen Dorf zu leben, ist nicht leicht, wenn man ein Außenseiter ist. Da verschwanden zwei Mädchen, das ist schlimm genug, die Behörden standen unter Druck und hatten nichts, rein gar nichts in der Hand. Da liegt es ja nahe, dass man sich das schwächste Opfer sucht und unter Mordverdacht stellt. Es ging sogar so weit, dass man mich verdächtigte, die Spuren des Verbrechens beseitigt zu haben. Es wurde nie ausgesprochen, aber ich wusste, was die Polizisten dachten. Allen voran unser Dorfpolizist, der war am schlimmsten. Er würde dem Sven diese Tat zutrauen, hat er behauptet. Dabei ist Sven der sanftmütigste und sensibelste Mensch, den ich kenne. Ich sage das nicht, weil er mein Sohn ist, ich sage es, weil es die Wahrheit ist.«

Justin Belfort hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen auf seinem Block. »Ihr Sohn ist von Geburt an behindert?«

»Ja, er ist schwer intelligenzgemindert. Er ist jetzt zweiundzwanzig Jahre alt und hat den Verstand eines kleinen Kindes, aber er ist kein Ungeheuer.«

»Wie kam es, dass er sich an diesem Tag im Wald aufhielt, war er oft dort draußen?«

»Sven liebt die Natur und er weiß, dass er auf den Wegen bleiben und sich vom Moor fernhalten muss«, antwortete Thiele. »Wissen Sie, ich bin den ganzen Tag in der Apotheke und meine Frau war damals schwer krank. Sie ist vor zwei Jahren gestorben. Wir hatten jemanden, der auf ihn aufpasst, nur eben nicht rund um die Uhr. Aber wir konnten ihn doch nicht einfach einsperren. Er hat sich auch nie weiter als bis zum Bannsee von zu Hause entfernt. Er hat gewusst, dass wir das nicht wollen und er hat sich daran gehalten.«

»Das heißt, er war an diesem Tag im Wald?«

»Ich war nicht zu Hause, ich hatte zu tun. Aber ich sagte schon, er war viel da draußen unterwegs und wir hielten ihn auch nicht zurück.«

»Es wurde ein Kettchen bei ihm gefunden, das einem der Mädchen gehörte.«

»Es war ein Anhänger mit dem Symbol eines Schutzengels, Melanie war auf der Rückseite eingraviert. Die Eltern haben es erkannt. Aber Sven weiß nicht, woher er es hat. Er ist ein Sammler, er sammelt alles, was er auf dem Weg findet. Vom Kronkorken bis zu glitzernden Steinen. Vor allem, wenn es glänzt. Das sind seine Schätze, verstehen Sie. Ich habe einmal den Fehler begangen, als er mit zwei Kronkorken und einer verbeulten Getränkedose nach Hause kam, und ihm die Sachen weggenommen. Deswegen hat er alles vor mir versteckt. Wie er zu dem Kettchen kam, kann ich nicht sagen.«

»Ich denke, Ihr Sohn hat die Polizisten in den Wald geführt und gezeigt, wo er das Kettchen fand?«

»Sie haben ihn unter Druck gesetzt. Ich kenne meinen Sohn. Er hätte alles getan, was sie von ihm verlangten. Ich würde aber nicht darauf wetten, dass es tatsächlich die Stelle war, an der die Kette lag.«

»Hat man Sie jemals mit dem Vorwurf konfrontiert, an der Tat beteiligt gewesen zu sein? – Zumindest beim Verstecken der Opfer, denn dazu wäre Sven wohl alleine nicht in der Lage gewesen, oder?«

»Ich sagte doch, den Vorwurf selbst hat man nie ausgesprochen, immer nur angedeutet, aber er war deutlich zu spüren. Auch im Dorf hat man mich geschnitten, Sie glauben gar nicht, wie das ist.«

Rudolf Thiele schlug die Hände vor das Gesicht. Für einen kurzen Augenblick schwieg er, ehe er sich wieder aufraffte und weitererzählte. »Jahrelang leben Sie mit den Menschen in einem Ort zusammen und plötzlich wird man ausgestoßen, nur weil die Behörden einen Erfolg vorweisen müssen. Niemand redet mehr mit einem, sie wenden ihre Blicke ab und schauen zu Boden. Es ist die Hölle.«

»Warum sind Sie nicht weggezogen?«

»In Tennweide steht mein Haus, in Tennweide wurde ich geboren und dort bin ich aufgewachsen«, konterte der Apotheker. »Ich werfe nicht die Flinte ins Korn. Ich lasse mich nicht so einfach vertreiben. Tennweide ist zwar nicht der Nabel der Welt, aber es ist meine Heimat.«

»Ich verstehe«, antwortete Justin. »Und wie ist das Verhältnis heute?«

Der Apotheker zeigte auf die Tür. »Die Menschen in Tennweide sind mir inzwischen egal. Ich bin die meiste Zeit hier in meiner Apotheke. Und die Leute kommen jetzt wieder. Damals war ich schon kurz davor, schließen zu müssen. Wenn die Feriengäste nicht gewesen wären, hätte ich keine andere Wahl gehabt. Es war eine lange Durststrecke und dann starb auch noch meine Frau. Sie hatte eine Lebensversicherung. Ich konnte meine Apotheke retten und für Sven ein anständiges Pflegeheim finden. Im Dorf konnte er nicht mehr bleiben.«

»Sie haben sicherlich gehört, dass eines der Mädchen vor ein paar Tagen in der Nähe der dänischen Grenze wieder auftauchte. Sie wurde möglicherweise aus einem fahrenden Wagen geworfen. Können Sie sich einen Reim darauf machen?«

Rudolf Thiele schüttelte den Kopf. »Ich habe davon gehört, nur: Ich will nicht, dass sich das Ganze deshalb jetzt wiederholt. Die Polizei soll die Mörder endlich zur Strecke bringen, damit ein für alle Mal Ruhe herrscht. Sie können mir glauben, wenn einmal so ein Gerücht die Runde macht, dann wird man diesen Makel nie mehr los. Es sei denn, das Verbrechen wird endlich restlos aufgeklärt.«

»Ich verstehe.« Justin packte seinen Block ein. »Wäre es möglich, mit Ihrem Sohn zu sprechen?«

Der Apotheker hob abwehrend die Hand. »Nein, das auf keinen Fall. Sven hat die Sache damals stark mitgenommen. Ich bin froh, dass er einigermaßen darüber hinweg ist.«

»Danke, Herr Thiele, Sie haben mir sehr geholfen.«

Der Apotheker reichte Justin die Hand. »Bitte, und schreiben Sie, dass wir nichts, rein gar nichts mit der Sache zu tun haben und jeden Tag dafür beten, dass die Verbrecher endlich gefasst werden.«

»Das werde ich tun«, sagte er und folgte dem Apotheker zur Tür.

Als Justin Belfort in seinen Wagen stieg, den er auf dem Parkplatz der Apotheke abgestellt hatte, befiel ihn das eigenartige Gefühl, dass er beobachtet wurde. Er blickte sich um, doch außer zwei Radwanderern, die gegenüber der Apotheke standen und eine Straßenkarte studierten, war niemand zu sehen. Justin schüttelte das bedrückende Gefühl ab und ließ sich in seinen Fahrersitz fallen. Kurz blickte er in den Rückspiegel, doch die Straße war frei. Er schnallte sich an und startete den Wagen.

*

Trevisan zog sich in sein Büro zurück und holte sein Notizbuch aus der Schreibtischschublade. Er blätterte, bis er auf die Nummer der Kommissarin Holt von der Polizei in Arhus stieß. Bedächtig wählte er die Telefonnummer, nachdem er einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen hatte. Es dauerte eine Weile, bis sich Kristina Holt meldete.

»Hallo, hier ist Martin Trevisan aus Deutschland.«

»Hallo, Martin, wie geht es dir«, antwortete die dänische Kollegin, die er kennengelernt hatte, als er gegen den Sektenführer ermittelt hatte.

 

»Den Umständen entsprechend«, antwortete Trevisan. »Ich bin derzeit beim Landeskriminalamt in Hannover, nachdem es mich erwischt hat.«

»Was heißt erwischt?«, fragte Kommissarin Holt.

Trevisan erzählte ihr seine Geschichte. Schließlich hatte er ihr sein Leben zu verdanken, nachdem der Mann damals versucht hatte, Paula und ihn zu töten.

»Das tut mir leid. Ich hoffe, dass es deiner Tochter bald wieder besser geht. Und natürlich auch dir.«

Trevisan nickte. »Ich komme eigentlich schon wieder ganz gut zurecht. – Ich habe da eine Sache, wo ich deine Hilfe bräuchte. Es geht um eine Geschichte, die schon ein paar Jahre zurückliegt. Wir suchen einen alten weißen VW-Bus, ich denke, ein T3- oder T4-Modell, mit einem dänischen Kennzeichen. Möglicherweise wurden zwei deutsche Mädchen hier in der Nähe von Hannover entführt und nach Dänemark verschleppt. Es könnte eine Rockerbande dahinterstecken, die kürzlich bei Padborg verhaftet wurde.«

»Padborg«, wiederholte Holt. »Das ist im Grenzland, da ist das Polizeiamt in Esbjerg zuständig. Hast du Details?«

»Ich würde sie dir zusenden, außerdem noch das Teilkennzeichen. Es ist, wie gesagt, schon eine Weile her.«

»Martin, du weißt, für meine Freunde tue ich, was ich kann. Schick es mir per E-Mail, meine Adresse hast du ja bestimmt noch. Ich rufe dich zurück, sobald ich ein Ergebnis habe. Und grüße Paula von mir, wünsch ihr alles Gute. Sie muss einfach stark sein.«

»Ich weiß, aber das Gefühl spielt unserem Verstand allzu oft einen Streich, und schon gerät man aus dem Gleichgewicht.«

»Ich weiß, aber trotzdem alles Gute und vielleicht sehen wir uns bald einmal wieder.«

»Möglicherweise schneller, als du denkst«, antwortete Trevisan. »Dann lade ich dich auf einen Kaffee ein.«

»Ich nehme dich beim Wort.«

Trevisan ging zurück zu Lisa, die vor dem Computer saß und einen ersten Entwurf eines Fahndungsplakates erstellt hatte.

»Was hältst du davon?«, fragte sie.

»Sieht gar nicht schlecht aus, nur die Fotos sollten noch ein klein wenig größer sein. Ich will, dass die Leute in die Augen der Mädchen sehen, das macht Eindruck.«

»Fotos größer, alles klar.« Lisa griff nach der Maus.

Trevisan legte seine Hand auf ihre Schulter. »Okay, lass gut sein, das reicht für heute. Es ist schon nach sechs, wir machen morgen weiter.«

Lisa schaute auf und lächelte ihn an. »Das ist gut. Ich dachte schon, ich versäume heute Abend das Konzert.«

»Du gehst ins Konzert?«

»Na ja, nicht direkt ein Konzert. Es ist eine Rockband. Mein Freund spielt dort Gitarre.«

Trevisan trat einen Schritt zur Seite. »Also dann, los geht’s, worauf wartest du noch.«

*

Nachdem Lisa das Büro verlassen hatte, setzte sich Trevisan noch einmal an seinen Schreibtisch. Aufmerksam blätterte er in den Akten. Schließlich rief er im Computer das Datenverwaltungsprogramm auf, das nun alle wichtigen Details enthielt. Im Startfenster wählte er die Spurenkarten an und blätterte Spur um Spur durch, geordnet nach objektiver Spur, wie Gegenstand, Fußabdruck oder DNA-Muster, oder subjektiver Spur, wie Zeugenvernehmungen oder Anhörungen. Insgesamt 344 Spuren und Hinweise waren erfasst. Manche dieser Spurenkarten waren mit einer Ergebnisnotiz versehen, bei anderen war das Ergebnis noch offen.

Angenommen, die Mädchen waren tatsächlich in einem Bus mit dänischem Kennzeichen entführt worden, dann würde der Fund des Rucksacks von Melanie Reubold an der A7 Richtung Norden sogar einen Sinn ergeben. Die dort gesicherte DNA-Spur war interessant. Er fragte sich, ob seine dänische Kollegin etwas damit anfangen konnte, denn möglicherweise waren die in Padborg verhafteten Rocker an der Entführung beteiligt gewesen. Eine Überprüfung schadete nicht, deswegen kopierte er den Befund und fügte ihn in die E-Mail an Kristina Holt ein. Die anderen erforderlichen Dokumente waren bereits in die Gesamtakte eingescannt, so hatte er es leichter. Als er auf senden drückte, dauerte es beinahe zehn Minuten, bis die Daten verschickt worden waren.

Er war hungrig, als er das LKA verließ und mit seinem Wagen nach Davenstedt fuhr. Zu Hause bereitete er sich eine Tiefkühlpizza zu, die er gerade aus dem Ofen holte, als das Telefon klingelte. Er nahm ab, Paula war am Apparat.

»Hallo, Liebes, wie geht es dir?«, fragte Trevisan erfreut.

»Gut, es geht mir gut, wirklich. Wir machen gerade Station, morgen in aller Frühe geht es weiter. Es ist herrlich hier. Die Landschaft, die Wiesen und die Natur … alles ist so friedlich, ganz anders als bei uns.«

»Das freut mich, dass du dich wohlfühlst, aber ich freue mich auch schon wieder darauf, dass du zurückkommst. Ich habe ein Eiscafé in der Innenstadt entdeckt, das Eis dort ist sagenhaft, da müssen wir unbedingt mal zusammen hingehen.«

»Ja, gerne, aber hier ist es auch toll. Schade, dass du nicht dabei bist.«

Trevisan unterhielt sich beinahe noch eine Stunde mit seiner Tochter, ehe Paula das Gespräch beendete. Von seinen Ermittlungen erzählte er nichts. Als er zurück in die Küche ging, fand er seine Pizza erkaltet vor. Nach dem ersten Bissen warf er den Rest in den Mülleimer. Das harte Toastbrot war keine schöne Alternative, aber was blieb ihm weiter übrig. Sein Magen knurrte, als er zu Bett ging. Draußen hatte es zu regnen begonnen.