Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Aus der Reihe: Die Sucht #4
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Ich erwidere seinen Kuss und lege meine Arme um ihn. Es ist nicht wie vor zwei Wochen, als er das letzte Mal da war. Es ist gar nichts da, außer diesem Schmerz, der mich niederdrücken will.

Aber der Aspekt, dass ich meine Freiheit bezahle und mir das alles als einziger Weg erscheint, um alle Gefühle abzutöten und ich kein schlechtes Gewissen mehr haben muss, reicht, um es mir erträglich zu machen. Ich denke, vielleicht werde ich auch noch ein Freund von One-Night-Stands. Etwas anderes wird es für mich auf jeden Fall nicht mehr geben. Das schwöre ich mir in diesem Augenblick. Und wer weiß? Vielleicht gefällt es mir auch irgendwann.

Es ist schon nach fünf, als Tim den Mercedes aus der Garage fährt. Er besteht darauf, dass wir einen Großeinkauf machen, weil er mich einfach für die nächste Zeit versorgt wissen will. Er ist so angetan von der Situation, dass er mir am liebsten die Welt zu Füßen legen möchte.

Ich füge mich dem, mir klar darüber, dass ich auch das wieder irgendwie abzahlen muss.

Eine Stunde später tragen wir Getränke und tütenweise Essen ins Haus. Tim kennt sich mit Schnellkost aus. Wir haben Dosen mit Ravioli, Nasigoreng, Eintöpfe, Gulaschsuppe und dergleichen gekauft. Der Kühlschrank ist voll mit Aufschnitt, Paprika, Gurken und Tomaten, sowie verschiedene Marmeladesorten. Das kleine Gefrierfach füllen wir bis zum Bersten mit Pizzen, Brot und Buttergemüse.

Tim zieht mich in seinen Arm. „So, nun bin ich beruhigter. Du bist schon dünn genug. Wenn ich nach der Tour wieder da bin, werde ich dafür sorgen, dass du etwas auf die Rippen bekommst.“

Wenn er nach der Tour wieder da ist?

Mit meinem Einzug in seine Wohnung geht Tim davon aus, dass er mich fest für sich hat. Ich lasse ihn in dem Glauben, beruhigt darüber, dass er bald wieder gehen muss.

Tim beschließt, abends mit mir Essen zu gehen. Er möchte mich unbedingt ausführen und ich räume meine Kleidung in den Schrank ein, gehe duschen und mache mich schick. Als ich ausgehfertig im Schlafzimmer erscheine, wo er auf dem Bett liegend sich eine Fernsehsendung anschaut und auf mich wartet, kann er sich ein zufriedenes: „Wow, hast du dich für mich so aufgebrezelt?“, nicht verkneifen.

„Escortdamen machen das so“, erwidere ich und grinse ihn an.

Er runzelt die Stirn, während er sich aus dem Bett hievt. „Als was wolltest du dein Geld verdienen?“, fragt er verunsichert. „Ich hoffe, dass mit dem Cafe stimmt.“

Ich lache, vor allem über seinen ernsten Gesichtsausdruck. „Natürlich! Ich habe nicht vor auch an andere meinen Körper zu verkaufen.“

Tim zieht hörbar die Luft ein und baut sich vor mir auf. „Was soll das? Du tust so, als wäre das zwischen uns nur gekaufte Liebe“, knurrt er mit aufsteigender Wut.

Ich halte es für besser, ihn zu beruhigen, auch wenn mir das Ganze durchaus diesen Eindruck macht. Sex ohne Liebe. Denn frage ich mein Herz, für wen es schlägt, dann ist das nicht Tim. Das wurde mir klar, als ich mit ihm schlief.

„Ich mache doch nur Spaß. Komm, sei froh, dass ich nicht wieder so durchhänge wie letztes Mal. Vergiss nicht, ich habe mich erneut von Marcel getrennt“, raune ich.

Er nickt. „Weiß ich. Aber deine Reaktion diesmal beruhigt mich auch nicht gerade. Zumal ich nicht da sein werde, um ein Auge auf dich zu haben.“

Ich schenke ihm ein beruhigendes Lächeln. „Ich habe in den letzten Wochen viel gelernt und auch viele Erfahrungen gesammelt und sehe mich durchaus in der Lage, mein Leben zu meistern. Und das wieder dank dir.“ Ich schiebe mich an ihn heran und schlinge meine Arme um seine Hüfte. „Und ich schlafe mit niemandem, mit dem ich nicht schlafen will.“

Tims Blick zeugt nicht gerade von Vertrauen in die Sache. Aber er sagt nichts, auch wenn ihm offenbar klar wird, dass ich wirklich nicht mehr dieselbe wie vor zwei Monaten bin. Und er sieht nicht so aus, als würde ihn das irgendwie beruhigen.

Ich lasse ihn los und gehe durch die Küche in den Flur, nicht abwartend, ob er mir folgt. Er wird schon kommen.

An der Wohnungstür ist er dann hinter mir und wir verlassen die Wohnung. Mich überfällt erneut ein Anflug von Traurigkeit und Angst, dass ich meinem Gefühlschaos doch nicht so leicht entkommen kann, wie ich vorgebe.

Wir fahren nach Osnabrück und im Auto kann ich meine Gedanken nicht im Zaum halten. Als wir an Bramsche vorbeifahren, packen mich erneut die Zweifel. Kann ich überhaupt ohne Marcel klarkommen? Er fehlt mir.

Leise schleicht sich die Angst durch meine Eingeweide, weil ich beschlossen habe, mein Leben ohne ihn zu leben. Das erscheint mir fast unmöglich. Und was wird er tun, wenn er heute Abend meinen Zettel findet und sieht, dass ich alle meine Sachen aus der Wohnung geholt habe?

„Nah, so schweigsam“, raunt Tim und hantiert an seinem Autoradio. „Möchtest du zu einem bestimmten Lokal oder kann ich aussuchen?“

„Du kannst aussuchen. Aber bitte nichts, wo ich Ellen und so treffe.“

Ellen wäre erträglich …. Erik nicht. Der Gedanke an ihn reißt mich noch tiefer in einen Abgrund als der an Marcel.

Tim wirft mir einen schnellen Blick zu. „Das habe ich auch nicht vor, obwohl die kleine Stammkneipe von euch ja ganz schön ist. Aber ich möchte essen gehen und dich heute mal für mich allein haben.“

Ich denke nur: Das hast du ja schließlich auch bezahlt.

Mein Nuttendenken verwirrt mich. Wahrscheinlich sind das meine überdrehten Nerven und der verzweifelte Versuch, mein Handeln irgendwie vor mir selbst zu rechtfertigen.

Plötzlich kommt mir alles falsch vor und die Angst schleicht sich in meinen Kopf, dass ich mich selbst am meisten mit diesem Handeln verletze.

Als wir durch Osnabrück fahren, klaube ich mir eine Sonnenbrille von Tim von der Ablage und setze sie mir auf.

„Blendet es dich?“, fragt Tim besorgt.

„Meine Augen sind heute etwas empfindlich“, antworte ich. Aber mir geht es in erster Linie darum, dass ich keinem begegnen möchte, der mich kennt. Vor allem keinen dunkelgrünen BMW oder schwarzen Mustang.

Wir fahren durch die Stadt hindurch, auf die andere Stadtseite, die ich vom Durchfahren mit Erik kenne. Dort lenkt Tim den Mercedes auf den Parkplatz eines griechischen Restaurants.

„Hier war ich mal mit meinem Vater und seiner Familie. Da kann man wirklich gut essen.“

Wir steigen aus und ich lasse mich von ihm an der Hand ins Lokal führen. Aber mir ist nicht nach Essen. Mir ist nach nichts.

Ich sehe Tim an, der vor mir geht. Morgen reist er wieder ab und ich werde allein sein. Auch nichts, was mich im Moment beruhigt.

Statt meine Gefühle im Griff zu haben, schlagen sie immer größere Kapriolen und ich bin froh, dass Tim den ganzen Abend nicht mehr über Gefühle oder uns spricht, sondern von seiner Tour erzählt.

Ich schaffe es tatsächlich, zumindest so zu tun, als interessiere mich sein Leben. Er wirkt glücklich und zufrieden und ich spüre auch dahingehend etwas Genugtuung, ihm dieses Gefühl zu vermitteln und meine eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten. Wenn er wieder weg sein wird, werde ich sie mit aller Macht bekämpfen.

Tim ist neben mir eingeschlafen. Ich schiebe mich aus seinem Arm und lege mich auf den Rücken. Erneut mit Tim zu schlafen, zeigte mir, dass ich bei ihm einfach nichts fühle. Ich rede mir ein, dass es an der Situation liegt. Alles andere macht mir zu viel Angst. Was ist, wenn mein Körper einfach nicht mehr will? Vielleicht habe ich etwas in ihm zerstört? Dass er zu lieben fähig ist, hatte er mir doch zu genüge bei Erik gezeigt. Und auch meistens bei Marcel. Warum klappt es bei Tim nicht?

Er ist zu schnell, zu hektisch und ab einem bestimmten Punkt nur noch auf sich fixiert. Das wird sich wohl nie ändern. Aber ist das nicht auch besser so? Schließlich wäre es ernsthaft erschreckend, wenn ich nach den letzten zwei Tagen auch noch mit Tim ins Bett springen würde und alles wäre bestens.

Aber zumindest kann ich stolz verkünden, dass ich eine gute schauspielerische Leistung hingelegt habe. Ich weiß, wie es sich bei Erik angefühlt hat und es fiel mir nicht schwer, das einigermaßen wiederzugeben. Dennoch reißt mich genau dieser Aspekt in ein Tief. Ich sehne mich nach den Gefühlen, die ich in den letzten zwei Wochen so geballt erfahren durfte.

Tim ist glücklich und zufrieden sofort eingeschlafen. Ich bin unglaublich froh darüber. Er hat sich verändert. Er kann neben mir schlafen – ein Umstand, den er bei unserem ersten Zusammensein überhaupt nicht im Griff hatte. Ich atme deswegen erleichtert auf. In meinem Kopf hatte sich schon die Angst breitgemacht, dass Tim die ganze Nacht über mich herfallen will, erneut von dieser erschreckenden Unruhe geplagt. Aber scheinbar hat er sich etwas mehr im Griff oder er ist sich meiner jetzt wirklich sicher.

Morgenmittag fährt er wieder. Er muss diesmal zu einem neuen Auftritt nach Stuttgart und fährt einige Stunden. Wir haben beschlossen, dass ich noch einen Tag die Schule schwänze.

Einen Augenblick überlege ich, ob ich aufstehen soll, um mein Handy anzuschalten. Aber ich habe Angst davor. Angst vor der Welt, die da draußen wahrscheinlich wütend herumtobt, weil ich mich den ganzen Tag bei niemandem gemeldet habe.

So beschließe ich, es nicht zu tun. Wenn Tim morgen weg ist, werde ich mich der Welt wieder stellen.

Ein dumpfer Schmerz beginnt sich in mir auszubreiten und ich muss mit aller Kraft die Sehnsucht unterdrücken, die mich immer wieder packt, wenn ich nicht von Tim abgelenkt werde. In mir baut sich eine schleichende Angst auf, was mit mir passiert, wenn er nicht mehr da ist und ich auf mich allein gestellt sein werde.

Ich will lieber nicht darüber nachdenken.

Am Morgen werde ich von Tims meinen Körper erkundenden Händen und Lippen geweckt. „Guten Morgen, meine Sonne“, flüstert er und ich weiß erst gar nicht, was los ist. Ich sehe erst Tim verwirrt an und dann das Zimmer, in dem ich liege.

 

Mir fällt ein, dass ich gestern mein Leben geändert habe. Und zwar von Grund auf.

Fassungslos schließe ich die Augen.

Marcel fehlt mir plötzlich so unglaublich, dass mir die Luft wegbleibt. Ich muss mir ins Gedächtnis rufen, dass er nun seine Sabrina hat und ich ihn sowieso ständig nur betrogen habe. Also nichts, was eine weitere Zukunft möglich macht. Und bei dem Gedanken an Betrügen baut sich Erik vor mir auf und ich spüre die gleiche Sehnsucht in mir hochkriechen und muss mir vor Augen halten, dass er ein Leben in trauter Zweisamkeit nicht will.

„Hey, alles klar?“, fragt Tim und schiebt sich dichter an mich heran. „Du wirkst verwirrt und so unglaublich erotisch. Schenkst du mir noch einen Augenblick, bevor wir uns ein schönes Frühstück gönnen?“

Er wartet gar nicht erst eine Antwort ab und schiebt sich auf mich. Sein heißer Körper auf meinem und seine Küsse lassen mich nicht völlig kalt. Für mich ist es ein Weg, noch einige Zeit der unvermeidlichen Gedankenflut zu entkommen, die mich schon wieder zu erdrücken droht.

Ich lege meine Arme um ihn und lasse meine Fingerspitzen über seinen Rücken laufen. Meine Beine um seine Hüfte schlingend, gebe ich ihm nur die Möglichkeit, sich zu bewegen, wenn ich es will und ich flehe meinen Körper an, mir zu zeigen, dass er mit der neuen Situation einverstanden ist.

Seine Küsse werden drängender und als ich ihm wieder Bewegungsfreiheit lasse, schwört er mir ewige Liebe und das mir alles gehört, was ihm gehört.

Ich denke mir verdutzt … so leicht ist das? Was hat man für eine Macht! Ich war mir dessen nie bewusst und nun habe ich eine mietfreie Wohnung mit allem Drum und Dran.

Trotz dem schalen Nachgeschmack, den Tim hinterlässt, als er sich keuchend von mir runterwälzt, versuche ich wenigstens darin einen Wert zu sehen. Aber unweigerlich drängt sich mir ein Satz auf - Sex ist nichts ohne Liebe.

Ich lege mich auf die Seite, streiche Tim durchs Gesicht und schenke ihm ein Lächeln, das ihm zeigen soll, dass ich ihn mag. Irgendwo regen sich zumindest dahingehend einige kleinere Gefühlsregungen, die mich aufatmen lassen.

Ich bin innerlich noch nicht so tot, wie ich befürchtete.

Beim Frühstück erzählt Tim erneut von seiner Tour und natürlich auch, dass er es nicht abwarten kann, das nächste Mal zu mir zu kommen.

„Ich bin so froh, dass ich die Wohnung behalten habe. Wenn du irgendetwas brauchst, rufst du mich an. Ich kann dir auch dein Handy schicken. Ich habe es immer noch. Oder willst du einen Festnetzanschluss? Den kann ich dir einrichten lassen. Du könntest auch mit dem Führerschein anfangen. Dann hast du ihn bald. Dann kaufen wir dir einen kleinen Wagen und du brauchst nicht mehr mit dem Bus fahren.“

Ich sehe ihn fassungslos an. „Tim, bitte! Es reicht, dass ich die nächsten zwei Monate ein Dach über dem Kopf habe und um alles andere kümmere ich mich schon. Ich brauche keinen Festnetzanschluss. Ich habe mein Handy und du weißt, wann du mich erreichen kannst. Ansonsten schreib mir eine SMS, wann ich dich anrufen soll oder du mich anrufen willst. Und meinen Führerschein mache ich, wenn ich das Geld dafür zusammen habe. Jetzt mache ich erst mal die Schule weiter und fertig. Bitte mach dir um mich keine Gedanken.“

Er sieht mich bestürzt an. „Lass mich dir doch helfen. Ich verdiene genug!“

Meinen Kopf schief legend, sehe ich ihn verächtlich an. „Und wann soll ich das alles abarbeiten?“

Das rutschte mir einfach über die Lippen und war eher zur Belustigung gedacht.

Tims Augen verdunkeln sich und er brummt: „Rede nicht so daher. Das mache ich nicht, um dich ins Bett zu kriegen.“

Das: „Ach, nein?“, liegt mir auf der Zunge.

„Carolin, du weißt, dass du alles für mich bist. Ich will einfach nur, dass es dir gut geht.“

„Es geht mir gut. Ich habe eine Wohnung, in der mich keiner findet und meine Freiheit wieder, die ich jetzt endlich genießen will.“

Sein Blick sagt mir, dass die Sache mit der Freiheit und deren Genuss ihn etwas verwirrt. „Freiheit? Frei von was?“, fragt er.

Ich weiß sofort die Antwort. Aber soll ich sie aussprechen? Ich entschließe mich dazu, es zu tun. „Ich brauche keinem mehr Rede und Antwort stehen, mich bei keinem ab oder anmelden. Ich kann machen, was ich will, gehen, wohin ich will und wann ich will und ich kann endlich ein richtiges Sololeben führen.“

„Ein Sololeben ist dir wichtig?“, fragt Tim ungläubig.

Ich kann ihn verstehen. Ich hatte mit Marcel gleich das komplette Gegenteil gefahren, dass man mir nicht zutraut, eigentlich etwas ganz anderes zu wollen.

Ich nicke. „Ja, ich will einfach meine Freiheit genießen.“

Tim steht auf und holt uns noch einen Kaffee. Als er sich wieder setzt, sieht er mich herausfordernd an. „Gut, die Solonummer ist okay. Aber verspreche mir bitte, wenn ich wieder da bin gibst du dein Sololeben auf.“

„Zu meiner Freiheit gehört auch, dass ich niemandem etwas versprechen muss“, erwidere ich und grinse ihn frech an, obwohl mir in meinem tiefsten Inneren nicht danach zumute ist. „Ich weiß nicht, was in zwei Monaten sein wird. Ich will jetzt einfach nur Abstand zu allen Männern halten“, sage ich ernst.

Tim greift nach seinen Zigaretten. Er steckt sich eine zwischen die Lippen und zündet sie sich an. „Abstand zu allen Männern halten! Das hört sich in meinen Ohren wirklich vernünftig an.“ Er hält mir die Schachtel hin.

Ich ziehe eine Zigarette heraus und stecke sie mir zwischen die Lippen. „Stimmt, finde ich auch. Und schließt dich das nicht auch mit ein?“, frage ich ein wenig zu bissig.

„Nein, ich habe Sonderrechte“, knurrt er und seine schwarzen Augen funkeln aufgebracht.

„Sonderrechte? Die gibt es nicht“, murmele ich und ziehe lasziv an meiner Zigarette.

Einen Moment sieht er mich verunsichert an. Doch dann wird sein Blick noch dunkler und er raunt: „Gut! Keine Sonderrechte also?“

Ich schüttele den Kopf.

„Hm, dann muss ich doch eine Mietzahlung fordern. Eine wöchentliche. Zu zahlen, wenn ich wieder freihabe. Und die Wochen dazwischen stunde ich dir nur … mit einem 100%tigen Zinsaufschlag und wenn du die Zahlung verweigerst, kommen sofort 100% Zinsen dazu.“ Er grinst mich auf seine alte Art an, die ich schon fast bei ihm vermisst habe.

„Wow, dann ist das aber eine teure Wohnung“, brumme ich und muss doch schmunzeln, weil ich glaube, er macht nur Spaß.

„Pass auf, dass ich nicht noch die Nebenkosten in Rechnung stelle“, sagt er und lacht.

Ich lache auch auf. „Das kann ich dann nicht mal in einem ganzen Leben abarbeiten.“

Tim wird ernst. „Das ist gut. Der Gedanke gefällt mir. So sollten wir es machen.“

Ich schüttele nur den Kopf. „Vergiss nicht, warum ich hier bin. Sololeben! Freiheit! Vor niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen! Ich glaube, da laufen unsere Wünsche gerade völlig aneinander vorbei.“

„Sind sie das nicht immer schon irgendwie?“, raunt er und sein Blick versetzt mir einen Stich. Aber natürlich hat er recht.

Um zwei am Nachmittag schafft Tim es endlich, sich von mir loszueisen und wir gehen zu seinem Auto. Ihm fiel noch so viel ein, was er für mich noch alles tun wollte, nachdem er mich erneut in sein Bett gezerrt hatte.

Ich versuchte ihn zu beruhigen und ihm klarzumachen, dass ich schon zurechtkomme. Aber er war trotzdem nervös und fahrig und zog mich immer wieder an sich, um sich regelrecht an mich zu klammern.

Nun brennen seine sehnsuchtsvollen Küsse immer noch auf meiner Haut, als wir endlich durch die Haustür auf den Hof treten.

Vor seinem Auto zieht er mich ein letztes Mal in seine Arme und küsst mich.

Ich bin sogar etwas traurig, dass er fahren muss. Wenn mich seine Liebe auch oft erdrückt, so ist er zumindest immer bedingungslos für mich da und seine Anwesenheit hatte mir ein wenig meines Kummers genommen, der nun schon übermächtig auf mich lauert.

„Ich rufe dich an, wenn ich angekommen bin. Bitte mach dein Handy an. Außerdem schicke ich dir auf alle Fälle das andere zu. Falls du Marcel wieder abblocken musst.“

„Mach das“, raune ich nur.

Er steigt in sein Auto und fährt aus der Garage in den Sonnenschein hinaus.

Ich winke ihm nach.

Als sein schwarzer Mercedes um die nächste Straßenecke biegt, überfällt mich sofort das komische Gefühl der Einsamkeit. Ein ungewohntes Gefühl.

Langsam gehe ich in die Wohnung zurück und schließe die Tür hinter mir ab.

Ich will erst mal duschen und die Wohnung für mich wohnlich einrichten. Aber als erstes stelle ich meinen Laptop an, um mir Musik anzumachen. Tim hatte mir das Kabel für die Musikanlage und das Internetkabel angeschlossen.

Im Internet finde ich einige Musikzusammenstellungen, die mit den dazugehörigen Videos laufen. Ich schiebe den Küchentisch an die Wand zum Schlafzimmer, um keinen Kabelsalat mitten durch den Raum zu haben und setze mich mit dem Stuhl davor. Die ungeahnten Möglichkeiten an Musik faszinieren mich und nun habe ich endlich mal Zeit, diese ganz genau zu studieren.

Mein Freiheitsgefühl überwältigt mich wieder und verdrängt das stetig anklopfende Gefühl der Einsamkeit und Traurigkeit.

Die Musik laut aufdrehend, gehe ich ins Badezimmer und dusche. Ich spüle die letzten Reste eines Mannes von mir runter. Mein Leben soll sich nun nur noch um mich drehen und wenn ich einen Menschen in mein Leben lasse, dann nur kurz. Höchstens zwei-drei Stunden. Mehr will ich keinen ertragen.

Ich stehe traurig lächelnd unter der Dusche. Erik hat mir viel in kürzester Zeit beigebracht.

Mich abtrocknend und von oben bis unten eincremend wird mir klar, dass ich Zeit schinde. Mein Haar föhne ich mir mit ganz viel Geduld trocken. Ein Blick in den Spiegel sagt mir, dass ich immer noch ziemlich mitgenommen wirke. Vielleicht wird es besser, wenn ich mich endlich der Welt da draußen gestellt habe.

Ich hole mein Handy und setze mich auf das Sofa. Doch bevor ich es anstelle, stehe ich wieder auf und hole mir eine Zigarette. Tim hatte mir drei Schachteln dagelassen. Ich soll schließlich keinen Notstand erleiden.

Mit der Zigarette zwischen den Lippen wage ich es endlich das Handy anzuschalten. Aber ich lasse es sofort neben mir aufs Sofa fallen. Es springt mir fast vom Polster.

Endlich reißt die Flut von SMSen ab.

Mein Anrufspeicher ist voll, mein Anrufbeantworter glüht und die SMSen kann ich gar nicht alle auf meinem Display erfassen. Mir wird übel. Wie soll ich damit umgehen?

Ich nehme mir als erstes Ellens SMSen vor. Sie ist alles … wütend, traurig, verängstigt, erschüttert, entsetzt und was man sonst noch so sein kann. Aber sie hat auch den Hauptteil an Anrufen und SMSen und ich beschließe, ihr sofort zurückzuschreiben.

Es geht mir wieder gut. Ich bin bei Marcel ausgezogen und beginne nun ein neues Leben. Morgen komme ich wieder in die Schule. Dann erzähle ich dir mehr. Bitte gib mir noch diesen Nachmittag für mich und beruhige bitte alle, die beruhigt werden müssen.“ Ich denke dabei an Erik.

Die nächsten Berge an SMSen und Anrufen stammt von Marcel und von Erik. Ich lese erst die von Marcel. Er ist verzweifelt und hätte nie gedacht, dass ich einfach ausziehe. Er fleht mich an, mit ihm zu reden. Es wäre nicht so, wie ich denke und ich könne doch nicht einfach alles hinwerfen. Die letzte SMS heute Mittag klingt dann nur noch wütend. Er weiß nicht, wo ich bin. Niemand weiß das. Wenn ich mich nicht bald melde, ruft er meine Eltern an oder die Polizei.

Ich schreibe auch ihm eine SMS.

Hallo Marcel. Ich kann das alles nicht noch mal ertragen. Lass mir doch einfach etwas Zeit für mich. Mir passiert nichts. Ich melde mich Samstag bei dir. Versprochen.“

Mir ist klar, dass ich bis dahin schon weiß, was ich wirklich will und ich kann mir so ein kleines Fenster offenhalten, falls ich es gar nicht ohne ihn aushalte. Dieses kleine Fenster beruhigt mich ein wenig.

Als nächstes muss ich Eriks SMS-Flut in Angriff nehmen. Mich ihm zu widmen fällt mir am schwersten, weil ich bei ihm Angst habe, dass er mich erneut irgendwie manipuliert. Dabei hatte ich ihm doch gesagt, dass ich ihn diese Woche nicht mehr sehen will. Hätte ich Anrufe und SMSen hinzufügen müssen?

Seine SMSen verwirren mich, aber anders als erwartet. Er schreibt, er weiß, wie sich das anfühlt, wenn man gerade nicht weiß, wo einem der Kopf steht. Er fragt in einer SMS, ob er mich retten soll, wie ich ihn gerettet habe. In einer anderen bietet er mir wieder die Wohnung an. Er bittet mich, mich wenigstens einmal bei ihm zu melden. Er droht sogar einmal, zu Marcel zu fahren. Aber ansonsten lese ich kein böses Wort von ihm. Aber viele nette. Und das nach meinem Abgang am Montag.

 

Ich bin seltsam davon berührt, denke mir aber, meine Mitteilung an Ellen reicht für ihn. Als ich auch die letzten von ihm lesen will, klingelt mein Handy und ich erschrecke. Es ist mein Vater und ich nehme ab.

„Carolin? Ich rufe wegen morgen an.“

Oh Mann, der Besuch bei Julian.

„Weißt du, deine Mutter wollte es mit der Brechstange versuchen, wie immer. Aber es bringt nichts, wenn du mitfährst. Sie werden dich nicht zu ihm lassen. Er ist Täter und du das Opfer. Da gibt es klare Vorgaben. Ich weiß nicht mal, ob sie einen Brief von ihm an dich gestatten würden. Aber du kennst ja deine Mutter.“

Ich bin wie vor den Kopf gestoßen.

„Also fahrt ihr morgen alleine?“, frage ich verwirrt.

„Ja, außer du möchtest trotzdem mit.“

„Nicht, wenn ich sowieso nicht zu Julian gelassen werde.“

„Nein, das werden sie nicht zulassen. Unser Anwalt sagte das schon. Und den Termin zur Verhandlung haben sie auf den fünfzehnten Oktober verschoben. Heute ist eine Vorladung für dich gekommen. Deine Mutter weiß noch nichts davon. Sie wird heute Abend aus allen Wolken fallen.“

„Eine Vorladung?“, frage ich entsetzt.

„Ja, was das noch genau für dich heißt, werden wir mit dem Anwalt noch klären.“

Marcel hatte mich gewarnt und doch trifft es mich siedend heiß. Ich bitte meinen Vater darum, dass er sich noch einmal meldet, wenn er Genaueres erfährt und wir verabschieden uns.

Ich brauche zwar nicht zu Julian, aber die Vorladung beunruhigt mich. Aber es gibt zumindest einen Aufschub von vier Wochen. Ob Marcel und Tim auch eine Vorladung bekommen haben?

Auf einmal möchte ich wieder bei Marcel unterkriechen und mich bei ihm verstecken.

Doch dann schüttele ich den Kopf. Nein, ich werde ihm auf keinen Fall hinterherkriechen.

Ich hole mir ein Alster aus dem Kühlschrank und setze mich vor meinen Laptop. Im Internet forste ich nach neuer Musik und finde Blueneck mit dem Lied Lilitu und das Video dazu. Mich zurücksetzend, starre ich auf den Bildschirm und lasse die Musik über mich hinwegrieseln, in die Gedanken verstrickt, die dieses Video aufleben lässt.

Erik und seine Welt …

Als das Lied zu Ende ist, höre ich mir noch einige andere Lieder von Blueneck an und finde die Musik wieder, die Erik an dem Nachmittag laufen hatte, an dem er mich zu sich ließ, während allen anderen der Eingang verwehrt blieb.

Ich lasse die Musik weiterspielen und beginne das Bett neu zu beziehen, die Waschmaschine zu befüllen, Staub zu putzen, das Badezimmer zu schruppen und die Fußböden zu wischen. Ich muss einfach etwas tun - und mir mein eigenes Reich herzurichten beruhigt mich. Das hier ist meine Zufluchtsstätte für die nächste Zeit. Eine Zufluchtsstätte, die keiner kennt.

Es ist erst neun, als ich ins Bett krieche. Ich kann aber nicht einschlafen und fühle mich einsam. Abermals kommen mir Bedenken, ob ich das Richtige getan habe und nehme mir mein Handy vor. Ich will noch einmal die SMSen lesen.

Wie unter Zwang öffne ich nicht die von Marcel, sondern die von Erik.

Carolin, dich nicht erreichen zu können macht uns ganz fertig. Aber ich weiß wie es sich anfühlt, wenn man den Boden unter den Füßen verliert, wenn man nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht oder wie es weitergehen kann und man sich nur noch verkriechen will. Ich kenne das Gefühl. Wenn du uns brauchst, dann melde dich bei uns. Erik.“

Mir steigen Tränen in die Augen und ich öffne die nächste, in der er mich bittet, mich retten zu dürfen.

Ich putze mir die Tränen von der Wange und öffne die letzte, die ich am Nachmittag noch gelesen hatte, bevor mein Vater mich anrief.

Ich habe eine Wohnung für dich, in die du einziehen kannst. Sie kostet dich nichts und ich werde dich auch in Ruhe lassen. Bitte sag mir nur wo du bist und ich sage Daniel, er soll dich holen. Bitte!“

Erik klingt verzweifelt und würde mich sogar in Ruhe lassen, nur damit ich wieder in ihre Obhut komme.

Jetzt tut mir leid, dass ich ihm am Nachmittag nicht geschrieben habe. Aber da hatte ich diese SMSen von ihm weniger emotional gesehen.

Ich öffne die SMSen, die ich noch nicht gelesen habe.

Was machst du bloß? Wo bist du hin? Wir sind alle wirklich besorgt. Aber ich verstehe, wenn du dich ausklingst, um deinen Weg zu finden. Ich musste das auch schon oft, aber es gelang mir nicht immer. Wenn du einen Wegbereiter brauchst, bin ich da.“

Ich schüttele nur den Kopf. Das ist doch nicht der Erik, wie ihn alle kennen …, der Erik, der jemanden krankenhausreif schlug und als Drogendealer mit den wildesten Typen der Stadt zu tun hat.

Ich verdränge das Gefühl, das mir durch die Adern schleicht und die Sehnsucht nach ihm. Es wird keinen Erik mehr in meinem Leben geben, keinen Marcel und keinen Tim. Ich muss allein klarkommen.

Die letzte SMS muss er heute Morgen geschrieben haben.

Ich habe keine gute Nacht gehabt. Wenn man eine Freundschaft eingeht, sollte man bedenken, dass man jemanden in sein Leben lässt, der Freud und Leid mit einem teilen will und sich sorgt. Du hast mich in dein Leben gelassen. Vergiss das nicht.“

Ich mache das Handy aus und ziehe mir den Bezug der Decke bis zu den Augen, um meine Tränen abwischen zu können, die sich schon wieder über meine Wangen stehlen. Eriks SMSen machen mich fertig.

Ich rolle mich zusammen und weine mich in den Schlaf.

Irgendwann wache ich auf, quäle ich mich aus dem Bett und mache mich für den Tag fertig.

Ich muss ein gutes Stück laufen, um an die Bushaltestelle zu kommen und finde auf meinem Handy eine SMS von Tim, in der er mir letzte Nacht noch mitgeteilt hatte, dass er gut angekommen war und mich über alles lieben würde. Ich will sie gerade beantworten, als es klingelt und er am Apparat ist. „Hey, meine Sonne. Geht es dir gut? Hast du gut geschlafen?“ Er klingt besorgt.

Ich seufze auf und erkläre ihm, dass ich am vergangenen Abend sofort eingeschlafen war und deshalb seine SMS nicht gesehen habe.

Der Bus kommt und ich steige ein.

„Tim, ich bin im Bus. Es ist wirklich alles in Ordnung und mir geht es, dank dir, gut. Mach dir keine Sorgen. Ich komme jetzt gut klar“, versichere ich ihm.

Tim scheint beruhigt zu sein und erzählt mir von seinem tollen Hotel mit Blick auf das Theater, wo sie ihre Aufführung haben werden. Er muss schnell frühstücken gehen und zu den Proben aufbrechen und hat daher nicht viel Zeit.

Ich wünsche ihm einen schönen Tag und einen gelungenen Auftritt. Ich will wirklich, dass es ihm gut geht … weit weg von mir.

Als ich an der Bushaltestelle in Osnabrück aus dem Bus steige, fällt Ellen mir um den Hals. „Carolin, du Verrückte! Wie kannst du einfach ein paar Tage verschwinden?“, ruft sie aufgebracht.

„Es musste sein“, raune ich nur und bin gerührt, dass sie sich so freut, mich wiederzusehen.

Der Bus fährt weg und Ellen schaut zur anderen Straßenseite und winkt kurz.

Ich drehe mich um und sehe den Mustang langsam wegfahren. Erik?

Auf meinen fragenden Blick antwortet sie nur: „Der wollte nur schauen, ob du auch wirklich auftauchst. Der hat sich halt auch Sorgen gemacht. Und Daniel auch. Die beiden waren ganz komisch, als ich ihnen sagte, dass du bei Marcel ausgezogen bist. Aber nun erzähl. Was war denn los?“

Wir schlagen den Weg zur Schule ein.

„Ach“, seufze ich. „Ich kam einfach nicht mehr klar.“

„Mit was?“ Ellen schaut mich groß an.

„Mit allem. So eine Tussi schreibt Marcel und der springt sofort darauf an und trifft sich mit ihr … während ich mit deinem Bruder … Ach Ellen, das taugt halt alles nicht mehr. Und dann auch noch Tim dazwischen. Das war mir halt alles zu viel. Langsam glaube ich, ich habe mit Erik mehr gemein, als du dir vorstellen kannst.“