Die Hoffnung aus der Vergangenheit

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Die Hoffnung aus der Vergangenheit
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Sabine von der Wellen

Die Hoffnung aus der Vergangenheit

Tims Schicksal

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Träume

Familienbande

Für immer die eine

Das Schicksal schlägt zu

Neuanfang

Die Alchemistischen Freidenker

Liebe kennt keine Grenzen

Die Herausforderung des Schicksals

Die Erfüllung des Schicksals

Impressum neobooks

Die Träume

Ich sitze in meinem Auto vor dem Kölner Musical Dome und schließe einen Moment resigniert die Augen. Vorbei. Alles ist vorbei. Was soll ich jetzt nur mit meinem Leben anfangen?

Ich schrecke zusammen, als jemand an meine Scheibe klopft.

Kai und Arno stehen an der Tür und grinsen mich an. Kais Gestalt wird dabei fast von Arnos Masse und seiner kupferroten Lockenmähne geschluckt.

Ich lasse meine Scheibe herunterfahren und kalte Luft schlägt mir entgegen.

„Hey Tim, du warst so schnell verschwunden. Fährst du jetzt nach Hause?“, fragt Kai und schiebt sich näher an die Fensteröffnung heran. Er ist einer der Geiger unseres Orchesters.

Ich nicke nur und versuche ein gut gelauntes Lächeln in meine Mundwinkel zu zaubern.

„Nah, dann wünschen wir dir eine gute Fahrt und alles Gute. Das war echt eine krasse Zeit. Vielleicht sehen wir uns mal wieder? Aus dir wird bestimmt noch ein ganz Großer!“, röhrt Arno mit seiner Tenorstimme. Er ist einer von den Multitalenten, der mindestens sechs Instrumente spielt und sogar singen kann. Er war in unserem Orchester immer der Springer, wenn jemand ausfiel.

„Schauen wir mal“, raune ich und versuche nicht zu niedergeschlagen zu klingen. „Und ich muss jetzt los. Euch noch viel Erfolg. Vielleicht trifft man sich mal wieder … bei so einer Geschichte wie dieser hier.“ Ich nicke zu dem großen Gebäude hin, in dem wir heute unsere letzte Aufführung des Musicals und das Abschlussessen hatten. Schnell lasse ich den Motor aufbrummen, als hätte ich es wirklich eilig und nicke den beiden jungen Männern noch einmal zu.

„Wäre klasse!“, ruft Kai noch und ich gebe Gas und setze aus der Parklücke, um schnellstmöglich aus deren Blickfeld und von dem noch überfüllten Parkplatz zu fliehen. Ich bin offenbar der erste, der die Veranstaltung verließ.

Ich hasse Abschiede und hatte Angst, dass jemand merkt, wie sehr mich das Ende unserer Musicaltour aus der Bahn wirft. Vor allem von Jonas möchte ich mich nicht verabschieden müssen. Ich würde bestimmt wie ein Mädchen anfangen zu heulen. Dabei war ich immer der Großkotz gewesen, der allen eine völlig heile Welt hinter der Fassade des Pianisten vorgespielt hatte, der es nicht abwarten kann, dass die Tour endlich zu Ende geht.

Nun ist das Ende da und alle glauben, ich fahre jetzt glücklich zu meiner Liebsten, die zuhause schon mit offenen Armen auf mich wartet. Das hatte ich zumindest allen bis zum Schluss vorgegaukelt.

Dass es diese Liebste gibt, wegen der ich letztendlich keine andere mehr an mich heranließ, und mit der ich morgens immer telefonierte und zu der ich fuhr, wann immer ich konnte, weiß jeder. Die eine Frau, die nur mich will und niemanden sonst. Die eine Frau, mit der ich mein Leben teilen werde, bis wir sterben.

Allen spielte ich bis zum Schluss vor, dass es immer noch so in meinem Leben aussieht. Aber sie irren sich, wie auch ich mich in der Annahme irrte, dass Carolin unabänderlich für immer zu mir gehören wird. Dabei sind wir von einem alchemistischen Vorfahren zu einem gemeinsamen Leben bestimmt worden und es gibt sogar eine Weissagung einer durchgeknallten Sekte dazu.

Aber nun ist nichts so, wie ich dachte.

Vier Monate war ich jetzt durch ganz Deutschland getourt und hatte die Musicalaufführung begleitet. Es war eine unglaubliche Zeit und zum Anfang die Erfüllung eines Traumes. Doch das änderte sich schlagartig, als Carolin sich aus meinem Leben stahl.

Ich war beliebt und begehrt - das jüngste Mitglied des Orchesters, das so unglaublich spielen kann und so gut aussieht. Die Schauspielerinnen, Sängerinnen und Musikerinnen liebten anfangs den zurückhaltenden Neunzehnjährigen, der so sehr an die große Liebe glaubt und ihr treu ergeben ist. Das zog auch das kälteste Herz auf meine Seite. Und ich hatte die meiste Zeit dieser Tour ein klares Ziel vor Augen, das ich am Ende dieses Engagement ansteuern wollte. Ich glaubte fest daran, dass ich danach zu der Frau fahre, der mein ganzes Denken und Sein gehört. Der Frau, die unabänderlich an mich gebunden ist. Doch sie brach aus diesem Bund aus und glaubt offenbar damit durchzukommen. Genauso wie sie glaubt, dass sie tun und lassen kann, was sie will und sich an den Hals von irgendwem werfen darf.

Aber wir sind die Nachkommen eines vor fast sechzig Jahren verstorbenen Alchemisten, der zu seinen Lebzeiten die Unsterblichkeit angestrebt hatte, um dann doch nur von einem Pulk aufgebrachter Bauern verbrannt zu werden. Allerdings starb er nicht wie jeder andere und verschwand von diesem Planeten, sondern schlich sich in seine Nachkommen, um ihnen das Leben letztendlich zur Hölle zu machen.

Ich nahm ihn schon sehr früh in meinem Leben war. Er kam des Nachts in meine Träume, wenn ich mich einsam und allein fühlte und nahm mich mit in seine aufregenden Traumwelten, die sich letztendlich als Erinnerungen aus seinem Leben herausstellten. Ich war noch so klein und machte mir keine Gedanken darüber, was da in mir vor sich ging. Er war immer für mich da und ich fühlte mich nicht mehr so unglücklich und allein.

Meine Mutter ist auch Pianistin und immer unterwegs. Sie war stolz darauf, als Alleinerziehende alles so vorbildlich zu meistern und so landete ich ständig in irgendwelchen Hotelzimmern mit irgendwelchen fremden Babysittern, denen ich eigentlich egal war, während meine Mutter ihre Auftritte genoss. Sie liebt es, im Rampenlicht zu stehen und umjubelt zu werden. Das war ihre eigentliche Welt. Ich war nur das unliebsame Anhängsel, das mitgezogen werden musste. Und um niemanden glauben zu lassen, dass sie eine ruhmgeile Schlange ist, die ihr Kind vernachlässigt, gab sie sich streng gläubig und der Kirche verbunden. Sie nahm mich dorthin mit, wann immer es ging, kannte alle Gottesdienstzeiten in den Städten, die wir bereisten, und betete immer mit mir vor dem Schlafengehen. Das war ihr wichtig und wurde bei jedem Interview erwähnt. Nicht selten folgten uns die Paparazzi, und sie spielte ihre Rolle als liebende Mutter und gläubige Evangelistin, die Gottes Gnade zu so einer begnadeten Pianistin werden ließ. Ich erkannte erst später, dass dies alles zu ihrem Imageplan gehörte.

Ansonsten war ich in meinen ersten Lebensjahren eher eine Belastung für sie, die sie ertrug, wann immer es sich nicht vermeiden ließ. Das änderte sich erst, als ich selbst begann Klavier zu spielen und sofort ungeahntes Talent zeigte. Da bekam ich etwas mehr Wichtigkeit in ihrem Leben, da sie mich als von Gott geküsst präsentieren konnte, was den Umstand, dass sie ein uneheliches Kind hatte, für sie scheinbar erträglicher machte.

Da meine Mutter mir von klein auf eingetrichtert hatte, dass es jemanden gibt, der alles lenkt und einen behütet, hielt ich meinen Freund aus meinen Träumen für völlig normal. Während sie dieses Wesen in den kalten, riesigen Gotteshäusern immer wieder aufs Neue zu suchen begann und ihn in unseren Gebeten anflehte, dies und das zu tun, hatte ich ihn immer bei mir. Deshalb bekam dieser Kirchenquatsch auch niemals die gleiche Bedeutung für mich, wie für sie. Ich brauchte nicht zu beten und zu flehen, denn er kam auch so und war für mich da. Ich hielt das alles für völlig normal.

Als ich meiner Mutter das einmal zu erklären versuchte, wurde sie sehr böse und behauptete, das müsse ein böser Geist sein, der von mir besitzergriffen hatte. Sie schleppte mich einige Wochen lang zu jeder Messe, die sich anbot und ließ mich in Beichtstühlen meine Zeit absitzen. Aber ich hatte keinen Bezug zu diesen fremden Männern auf der anderen Seite des winzigen Raums, die mich ausquetschen wollten wie eine Zitrone, um meine Sünden freizulegen. Ich wusste nicht mal, was mit Sünden gemeint war, und war mir keiner Schuld bewusst.

Man hielt mich für bockig oder zu dumm und ich hatte erst Ruhe, als ich meiner Mutter weinend erklärte, sie angelogen zu haben und dass es niemanden außer ihr und Gott in meinem Leben gibt. Dafür bekam ich die ersten Schläge meines Lebens und schwor mir, niemals wieder meinen Kurt zu erwähnen.

Er blieb aber weiterhin mein geheimer Freund und meistens mochte ich die Zeit mit ihm. Aber je älter ich wurde, je erschreckender konnten die Träume mit ihm werden. In ihnen erlebte ich die Schrecken eines Krieges, was meine Träume düster und beängstigend machte, und auch die Liebe, die Kurt einem Mädchen entgegenbrachte. Sie war blond, hatte blaue Augen und war wunderschön. Die beiden zusammen erleben zu dürfen, brachte eine Sehnsucht in meine Welt, auch so etwas haben zu wollen und ich glaubte daran, dass sich dieser Wunsch eines Tages erfüllen wird.

 

Zu diesem Zeitpunkt saß ich wenigstens einmal die Woche meine Zeit in einer Kirche ab. Das gehörte zu meinem Alltag, wie alles andere, was ich über mich ergehen ließ, um meine Mutter gnädig zu stimmen. Denn weder meine Bemühungen, mein Klavierspiel ihren Anforderungen anzupassen, noch meine guten Schulnoten ließen ihr stets kaltes Herz sich erwärmen. Für sie zählte nur Leistung, Ruhm und Gehorsam.

Ich hatte einen Schalter, den ich, sobald meine Mutter in meine Nähe kam, umlegte und dann war ich der brave, folgsame und religiöse Junge, den sie wollte. Wenn sie nicht da war, dann schaltete ich automatisch auf den wirklichen Tim, der diese Eigenschaften aus seinem Leben strich und anderen Platz machte.

Wie alle Jungen meines Alters machte ich mit dreizehn Bekanntschaft mit diversen Sexfilmen, an die man nur zu leicht durch das Internet herankam. Dort offenbarte sich mir eine Welt, die nichts mit den Gefühlen aus meinen Träumen gemein hatte, aber mir die Möglichkeit gab, mir den immer stärker werdenden innerlichen Druck zu nehmen, der oftmals unerträglich zu werden drohte. Ich war wie zweigeteilt. Einerseits wollte ich tiefes Gefühl und sehnte mich danach, dass jemand zu mir gehört und mir bedingungslose Liebe entgegenbringt, andererseits gab es da diese gefühlslose, kalte Welt in diesen Filmen, die so gut zu meiner bisherigen passte. Diese Filme, die keine Gefühle oder Liebe widerspiegeln, sondern einzig und allein der Befriedigung dienen, lösten in mir etwas aus. Anfangs versuchte ich die Filme noch als Lehrmaterial anzusehen und achtet noch auf die Frauen und versuchte zu ergründen, was sie dazu brachte, das zu tun, was sie taten. Aber das war etwas, was ich nie ganz definieren konnte, denn sie stöhnten und forderten den Sex, aber letztendlich diente alles nur der Lust des Mannes und war auch damit beendet. Aber das war der Grund, warum mir diese Welt gefiel, denn sie war so anders als das, was meine Mutter mir beibrachte. Für sie war ein Mann ein Nichts, der nicht mal den Wert des Bodens aufwog, auf dem sie lief. Aber in dieser Welt, die mir in den Filmen gezeigt wurde, war der Mann der Bestimmer über alles. Da war es kein Wunder, dass sie mich so in ihren Bann zogen und mir gleichzeitig etwas schenkten, das mich zumindest befriedigte.

Natürlich wollte ich das in der Realität auch bald haben. Aber meine Mutter unterband alles, was mich anderen Mädchen näherbrachte. Sie wollte mich zu diesem Zeitpunkt nur für sich. Ich war das einzig männliche Wesen auf dem Planeten, dass neben ihr bestand hatte und dass sie neben sich duldete.

„Tim, wir beide sind das Gespann, das die Welt beherrschen kann“, war einer der Sprüche, die sie von sich gab, wenn wir ein Konzert gaben und Begeisterung auslösten, die sie stolz machte. Das war ein Spruch, der mich in Höhen erhob, die bis in andere Dimensionen reichen konnten.

Es gab aber auch andere Sprüche, die mich zu Boden warfen und in den Schlamm traten. Dann verkroch ich mich wieder in die Welt, in der Kurt immer auf mich zu warten schien, um mich aufzubauen und in eine Richtung zu führen, die mehr als nur meinem Glück diente. Aber das erkannte ich erst sehr viel später.

Mit den Jahren begannen sich meine Träume zu ändern. Kurt suchte sein Heil in einer anderen Welt und verließ das blonde Mädchen. Damit nahm er mir die Gefühle, die mich in meinen Träumen gewärmt hatten und mir Geborgenheit gaben. Dafür füllte er sie mit Wissen über eine andere Kultur und der Alchemie. Ich erkannte erst sehr viel später, was das alles bedeutete.

Die Träume waren dadurch aber nicht mehr so anregend und ich lechzte nicht mehr danach. Einige Zeit gehörte mein Leben fast ausschließlich mir, und Kurt schien mich verlassen zu haben. Doch dann, vielleicht aus einer Sehnsucht nach den alten Gefühlen geboren, erschien ein blondes Wesen in meinen Träumen und gab mir diese warmen, tiefreichenden Gefühle wieder. Erst glaubte ich, dass es Kurts Sonja war. Das Mädchen erschien mir nie ganz klar und mehr wie eine undeutliche Wunschausgabe von etwas aus meinem Inneren. Aber in der Welt der Träume ist selten alles glasklar und somit war das für mich nichts, was mich beunruhigte. Ich war einige Zeit wirklich glücklich und hoffte jeden Abend, dass dieses Wesen in der Nacht zu mir kam und mich mit in ihre Welt nahm. Aber das kam nicht oft vor, denn Kurt drängte sich irgendwann erneut in meine Wahrnehmung. Mich begannen die Träume mit ihm zu verstören. Aber ich hatte keine Macht darüber. Nur meine Tagträume konnte ich bestimmen und in denen ersann ich meine Welt mit diesem blonden Mädchen. Doch meine nächtlichen Träume begannen immer mehr zu Alpträumen zu werden, in denen jemand, den ich anfangs für Kurt hielt, zur Gefahr für dieses Mädchen zu werden drohte.

Wer weiß, ob ich alles wieder so gemacht hätte, wenn ich nochmals die Wahl hätte. Vielleicht war es ein Fehler, dieses Mädchen in der realen Welt zu suchen. Aber ich glaubte, dass sie die Liebe meines Lebens sein wird, wenn ich sie finde. Und ich wollte sie unbedingt finden. Schon wegen dieser Alpträume, in denen sie immer öfter von jemanden bedroht wurde und ich das Gefühl hatte, dass nur ich etwas dagegen tun konnte. Dabei war es letztendlich unser Zusammentreffen, dass die wirkliche Katastrophe auslöste.

Von dem Parkplatz des Konzerthauses aus, der unsere letzte Station unserer Musicaltour war, fahre ich durch einen trostlosen und leeren Stadtteil von Köln. Ich bin eigentlich nur auf der Suche nach einem Platz, an dem ich erneut parken kann, ohne dass mich einer meiner Begleiter von dem Musical wieder aufmischt. Ich hatte mich von niemandem verabschiedet und war klammheimlich abgehauen. Nur Kai und Arno hatten meinen Aufbruch bemerkt. Ich weiß, ich bin feige weggelaufen. Aber ich hätte einfach keinen großen Abschied verkraftet, ohne das allen klargeworden wäre, dass ich ihnen in den letzten Wochen nur etwas vorgespielt hatte.

Um diese nächtliche Stunde ist nicht mehr viel in der Stadt los und ich warte auf einer fast leeren, kleinen Kreuzung an einer roten Ampel darauf, dass ich weiterfahren kann. Wohin weiß ich nicht mal. Ich fühle mich noch nicht in der Lage, klar zu entscheiden, was ich jetzt tun soll - wohin ich mich wenden soll. Außerdem ist es bitterlich kalt draußen und die kleine Fahrt durch die Stadt lässt das Auto kaum wärmer werden. Ich brauche also erst mal einen Ort, an dem ich bleiben kann und an dem ich überlege, was ich jetzt mit meinem Leben anfangen soll.

Endlich wird die Ampel grün und ich setze den Blinker und fahre rechts in die Straße hinein, obwohl ich eigentlich vorhatte, der Hauptstraße zu folgen. Ein kleines Hotel erscheint auf meiner Straßenseite und ich überlege nur kurz, dann steuere ich meinen Mercedes auf den kleinen Parkplatz und lasse den Motor ausgehen. Vielleicht sollte ich hier nach einem Zimmer fragen und einfach noch einige Zeit in Köln bleiben?

Natürlich hatte ich heute Vormittag in dem Hotel, in dem ich die letzten fünf Tage verbracht hatte, großspurig ausgecheckt, um auch weiterhin den Eindruck zu erwecken, dass ich noch heute Abend nach Hause presche, um meiner Liebsten in die wartenden Arme zu fallen.

Aber meine Liebste liegt in den Armen eines anderen und ich stehe vor einem kleinen, schäbigen Hotel, völlig unwissend, wohin ich mich wenden soll.

Zu meiner Mutter nach Wolfsburg will ich nicht fahren. Auch von dort werden Fragen kommen, was ich denn jetzt anfangen will und was denn mit der jungen Frau ist, von der ich ihr vor kurzem erzählt hatte. Meine Mutter will sie kennenlernen und erwartet uns zu Weihnachten und zum gemeinsamen Hineinfeiern in das Jahr 2010. So hatte sie es zumindest deklariert. Sie hatte mir gestern am Telefon in ihrem herrischen und unwiderruflichen Ton mitgeteilt, dass sie uns in Wolfsburg erwartet und die Feiertage voll durchgeplant hat. So, wie sie es halt immer tut. Schließlich ist Weihnachten.

Ich hatte sie aufgebracht angefaucht: „Ich war jetzt vier Monate unterwegs. Glaubst du, ich fahre nach Hause, greife mir Carolin und schleppe sie nach Wolfsburg? Bestimmt nicht! Wir beide werden irgendwohin fahren, wo wir ganz allein sind und wo wir endlich in Ruhe unsere gemeinsame Zeit genießen können. Wir waren lange genug getrennt.“

Meine Mutter hatte in ihrer alten, cholerischen Art getobt: „Tim, was soll das heißen? Dein Zuhause ist hier und nicht irgendwo in der Weltgeschichte. Und du kommst auf alle Fälle Weihnachten nach Hause! Hast du verstanden? Du warst bestimmt auch schon lange nicht mehr bei einer Messe und ich möchte, dass wir das unbedingt nachholen. Und Sylvester? Wir haben das neue Jahr immer zusammen begonnen. Es kann doch nicht dein Ernst sein, diese alte Tradition zu brechen!“

Aber es war mein Ernst. Ich kann das familiäre Getue nicht ertragen, will keine Minute in einer Kirche verschwenden, und ich will Carolin endlich dazu bringen, sich für mich zu entscheiden. Und was will meine Mutter eigentlich? Seit sie diesen Typen hat, bin ich sowieso abgeschrieben. Immer stand ich an erster Stelle. Immer war ich der Mann an ihrer Seite. Bis dieser Typ aufkreuzte. Meine Mutter schert sich doch einen Dreck um mich und soll ihr scheiß Weihnachten und Sylvester ohne mich feiern.

Natürlich hatte meine Mutter bei ihren aufgebrachten Worten angefangen zu schnauben und zu prusten, wie ein altes Dampfross, weil ich nicht tun wollte, was ihr vorschwebte. Aber am Telefon und auf die Entfernung machte mir das nichts aus. Und als sie wieder wie früher zischte: „Du bist genauso ein undankbarer Nichtsnutz wie dein Vater“, konnte mich das nicht mehr erschüttern.

„Danke, Mama. Dann ist es doch gut, wenn du deine schönen Feiertage nicht mit meiner Anwesenheit versauen musst“, hatte ich nur erwidert und aufgelegt, ohne das wirklich vorher überlegt zu haben. Einen Moment war ich selbst erschrocken. Doch dann dachte ich mir, dass ich alt genug bin, mich nicht mehr von ihr so behandeln zu lassen. Ich will mich von niemandem mehr so behandeln lassen.

Es tat gut, sich endlich nicht mehr alles gefallen zu lassen. Aber dass ich meiner Mutter erneut die Stirn geboten hatte, ließ in mir zweigeteilte Gefühle aufkommen. Ich will eigentlich der nette, herzensgute Tim sein, der geliebt wird, weil er so unglaublich liebenswürdig ist. Aber mit Nettigkeit und Herzensgüte kam ich im Leben bisher nicht weit. Ich konnte mir zumindest niemals damit die uneingeschränkte Zuneigung meiner Mutter erkaufen. Die gab sie nur anderen. Das begriff ich aber erst, als dieser Typ bei uns auftauchte und meine Mutter ihn nicht mehr gehen ließ. Es hatte schon immer Typen wie ihn gegeben. Aber die verschwanden am nächsten Tag auch wieder … oder spätestens am übernächsten. Aber Hans blieb. Er verkörpert offenbar alles, was meine Mutter sich für den Mann an ihrer Seite wünschte. Er arbeitet in einem Verlag, der sich auf religiöse, spirituelle Schriftwerke spezialisiert hat, geht regelmäßig in die Kirche, betet vor und nach jedem Essen und wahrscheinlich auch noch vor dem Schlafengehen und trägt ständig einen Heiligenschein, der seine Güte und Vollkommenheit präsentiert … und er lässt sich bestimmt jederzeit und mit Freude von meiner Mutter unterbuttern.

Ich wusste anfangs nicht, wie ich damit umgehen sollte, dass er meinen Platz belegte. So rebellierte ich, wo ich konnte. Ich sperrte mich gegen alles, wo er dabei sein wollte. Und er wollte immer an der Seite meiner Mutter sein … und sie wollte ihn immer bei sich haben.

So brach etwas in mir. Ich glaubte, meine Mutter zu verlieren, was mich erst verunsichert und erschreckt hatte. Aber dann sah ich ein, dass es der Lauf der Zeit ist und man sich mit fünfzehn von seiner Mutter lösen muss und anderem zuwendet. Und ich hatte das zarte Wesen aus meinen Träumen, das meine Welt erhellen konnte und zum Druck ablassen meine Filme, die mir diese kalte, animalische, sexgeladene Welt präsentierten, die dem Mann als Spielplatz dient und ihm die Frau zum Untertanen macht. Ich hatte bisher nur das Gegenteil bei meiner Mutter erleben müssen und nahm Hans sogar irgendwann als einen Umstand wahr, der mich letztendlich aus ihren Klauen befreite. Ohne ihn hätte ich es wahrscheinlich niemals über mich gebracht, meine Mutter zu verlassen, mich mit neunzehn Jahren in die Welt zu begeben und das Wichtigste zu suchen, das es für mich gibt, um es zu retten. Das Mädchen aus meinen Träumen.

Ich steige aus dem Mercedes aus, ziehe meine Tasche vom Beifahrersitz und verriegele die Türen. Meinen Jackenkragen gegen den kalten Wind hochschlagend, laufe ich zum Eingang des Hotels und trete schnell ein.

 

Es ist warm und wirkt gemütlicher, als es von außen den Anschein hatte. An der Rezeption muss ich klingeln und warte, bis ein Mann freundlich lächelnd auf mich zukommt. „Guten Abend“, sagt er und ich grüße zurück. Ich frage nach einem Zimmer und keine fünf Minuten später trage ich meine Reisetasche in den zweiten Stock hoch und in ein geräumiges Doppelzimmer. Ein Einzelzimmer war nicht frei.

Ich werfe meine Tasche auf das Bett und gehe unschlüssig an das Fenster, aus dem ich auf die beleuchtete Stadt blicken kann. Mir eine Zigarette anzündend, sehe ich hinaus und frage mich, was Carolin jetzt wohl macht. Ob sie an mich denkt?

Meine Stirn an die kalte Scheibe lehnend, weiß ich, dass ich in ihrem Leben nicht mehr viel Gedankengut produziere. Wäre ich bloß an dem einen Samstag nicht ausgerastet! Aber das lässt sich nicht mehr ändern. Meine Liebe zu ihr war zu überwältigend, und meine Wut, weil sie glaubt, dass ich nicht mehr in ihr Leben gehöre, zu erdrückend.

Die Gedanken an sie lassen mein Herz zu einem schweren Klumpen werden und in meinem Bauch zieht es eisig, als liefe eine Eiszeit durch ihn hindurch. Ich muss blinzeln, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken und mich packt erneut die Fassungslosigkeit darüber, wie alles gelaufen war.

Aber es ist noch nicht vorbei. Sie gehört immer noch zu mir. Ich bin nicht mehr der kleine, dumme, verängstigte Junge, der von seinem Leben und seinen Träumen niedergedrückt nicht weiß, wie er sich zu verhalten hat. Ich werde sie mir zurückholen. Wie auch immer.

Mich von dem Fenster wegdrückend, verschwimmt die Stadt und ich sehe mich in der Scheibe. Ich starre auf mein schmales, weißes Gesicht mit den schwarzen, kurzen Haaren und den schwarzen Augen. Ihr Glanz verrät meine unendliche Qual und ich drehe mich weg, um das nicht mehr sehen zu müssen. Diese Qual zu fühlen reicht vollkommen.

Ich werfe mich auf das Bett und lege den Arm über meine Augen. So gerne ich auch stark und draufgängerisch sein will, im Moment bin ich nur der einsame, verlassene Tim, dessen Leben momentan keinen Aspekt trägt, den er mit Freude in Angriff nehmen möchte.

Carolin. Sie ist meine Welt und mein Leben. Sie gehört zu mir wie das Klavierspielen. Unser Leben ist seit dem Tag verbunden, seit wir auf die Welt kamen. Unumstößlich.

Und sie lebt in der Nähe meines biologischen Vaters, der mit seiner Familie in Osnabrück wohnt. Einer Familie, der ich auch nicht angehöre.

Ich erfuhr Näheres von ihm, als ich meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, besuchte. Ich wusste lange nicht mal, dass sie existiert. Sie stand zu meiner Konfirmation plötzlich vor unserer Tür und gab mir ein Geschenk. Es war ein weißer Engel. Bevor ich recht verstand, wer diese alte Frau war, jagte meine Mutter sie auch schon fort. Aber sie hatte wohl damit gerechnet und ich fand in dem Geschenk auch noch einen Brief, in dem sie mir ihre Adresse verriet.

Ich fuhr einige Wochen später zu ihr, als ich in der Nähe ein Konzert gab. Sie freute sich so sehr darüber, dass ich ihr versprach, sie auch weiterhin zu besuchen.

Ich sagte meiner Mutter nichts davon, weil ich ahnte, dass es sie gegen mich aufbringen würde. Ich war damals vierzehn Jahre alt und noch darauf bedacht, die Liebe meiner Mutter nicht zu verlieren, die ich eigentlich nie wirklich besessen hatte.

Von meiner Großmutter erfuhr ich dann von meinem Vater und dass er in Osnabrück lebt und dort eine Familie mit drei Kindern hat. Und ich erfuhr außerdem von ihr von einem weiteren Kind meines Vaters, das sogar älter ist als ich.

Dass ich so viele Geschwister habe, konnte ich erst nicht fassen und in mir setzte sich der Wunsch fest, sie kennenzulernen.

Aber ich erfuhr bei ihr noch mehr. Vielleicht löste das auch alles Nachfolgende aus und ließ diese Träume von dem blonden Mädchen in mir hochpeitschen. Von alten Aufzeichnungen, die ich bei meiner Großmutter auf dem Dachboden fand, als ich ihr half, ihn zu entrümpeln, erfuhr ich von meinem Urgroßvater, dem Alchemisten Kurt Gräbler, der gleichzeitig auch mein Ururgroßvater war. Sie bat mich, die Kiste mit seinen Heften zu entsorgen und ich beschloss sie zu behalten … und fand in ihnen ein Stück unglaublicher Familiengeschichte.

Ich las diese drei handgeschriebenen Hefte heimlich und nur nachts, wenn ich nicht Gefahr lief, von meiner Mutter dabei entdeckt zu werden. Zu dem Zeitpunkt bekam ich schon mein eigenes Hotelzimmer, wenn wir irgendwo einkehrten. Das half mir in die Hefte einzutauchen und auch, meine daraus resultierenden Erkenntnisse zu verkraften. So las ich zu Beispiel als Einführung in das erste Heft eine Widmung, die an meine Großmutter gerichtet war: „Liebste Tochter! Wenn du diese Bücher liest wirst du erkennen, welch wichtiger Weg mich durchs Leben führte und warum alles geschah, wie es geschah. Ich bin einem Geheimnis ganz nah und hoffe, dass der Wunsch nach ewigem Leben sich für mich bewahrheiten wird. In meinem unterirdischen Labor in meinem Garten halte ich hoffentlich die Macht über Leben und Tod in den Händen. Ich hoffe es zumindest für dich und mich. Denn mit meiner Entdeckung rette ich unser beider Leben.“

Er schrieb diese Widmung für meine Großmutter, die seine zweite Tochter ist. Außerdem offenbarten mir diese Hefte eine Geschichte, die schon lange tief in mir verankert zu sein schien, wie ich feststellen musste.

So fand ich geschrieben: „Meine Mutter brachte mich am 13.3.1904 zur Welt. Heinrich, dein Onkel, war da erst ein Jahr alt. 1907 folgte deine Tante Marie, 1909 dein Onkel Hans und 1910 deine Tante Josefine. Wir wohnten auf einem kleinen Hof in der Nähe von Bersenbrück, der uns durch die fleißigen Hände meiner Eltern und Großeltern alles bot, was man zum Leben braucht. Darüber hinaus verkauften wir jedes Jahr ein Schwein, die Eier unseren Hennen und die Milch von zwei Kühen. Außerdem gehörte uns ein Pferd, das nicht mehr das Jüngste war, aber durchaus willig. Zu der Zeit zählten wir zu den wohlhabenden Bauern. Heinrich und ich suchten in den umliegenden Wäldern Holz für den Winter, ernteten im Herbst mit deiner Oma Beeren und suchten Pilze. Im Frühjahr und den ganzen Sommer hindurch halfen wir unserem Vater und Großvater bei der Feldarbeit. Meine Kindheit war schön und unbeschwert, bis Ende 1914 Großvater uns die Nachricht aus der Stadt mitbrachte, dass Krieg war. Alles lechzte in einem schaurigen Freudentaumel danach, in die Welt hinauszuziehen und sich diesem Krieg anzuschließen.

Krieg! Was sollte das überhaupt sein? Ich war zehn Jahre alt und konnte mir nichts darunter vorstellen.

Einige Wochen später schloss sich mein Vater diesem „Krieg“ an und er sprach mit belegter Stimme von Ruhm und Ehre für das Vaterland. Meine Großmutter und meine Mutter weinten und wir saßen verschreckt wie Hühner in unserem Schrankbett.

Wir mussten im folgenden Frühjahr mit den Großeltern und meiner Mutter allein den Acker bestellen. Von Vater hörten wir nur etwas durch die wenigen Briefe, die uns verschmutzt und zum Teil unleserlich erreichten. Darin schrieb er vom Grauen des Krieges, von Tod und Verderben und von Verwundungen und Schmerzen. Erst starb Großmutter und dann folgte ihr der Großvater, der den Tod seiner geliebten Frau und die Angst um seine Söhne, die im Krieg kämpften, nicht länger ertragen konnte. Am Gemeindehaus lasen wir die wöchentlichen Gefallenenlisten durch, die uns Kinder magisch anzogen. Ich nahm immer, wenn wir wieder daheim waren, Mutter in die Arme und flüsterte ihr zu, dass alles in Ordnung ist. Es schien fast, als brächte ich als einziger diese Zettel mit Todesnachrichten und unseren Vater im Krieg in Zusammenhang. Ich wusste, solange er nicht darauf stand, musste er am Leben sein.

Man holte uns unsere Schweine und die Kühe weg. Unser Pferd ließen sie uns, da es zu alt war. Die Hühner versteckten wir in einem Kellerloch.

Im November 1918 wurde ein Waffenstillstand beschlossen und der Krieg beendet.

Unser Haus stand noch, doch anderen ging es weitaus schlechter als uns. In den umliegenden Ortschaften Ankum und Alfhausen hatten in den Jahren des Krieges Bomben ganze Straßenzüge zerstört und es waren viele Menschen gestorben, auch Freunde und Verwandte von uns.