Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Aus der Reihe: Die Sucht #4
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Ein neuer Weg

Ich schiebe mich schwerfällig aus dem hohen Gras unter der alten Eiche und schultere meine tonnenschwere Schultasche.

Marcel muss gleich zur Arbeit … und da er nicht ahnt, dass ich von seiner neuen Flamme Sabrina weiß, wird er sich in Sicherheit wiegen.

Ein Blick in sein Handy hatte mir gezeigt, dass Marcel sich erneut nur zu leicht auf ein Spielchen mit einem anderen Mädchen einlässt.

Für mich heißt das, dass zwischen uns alles vorbei ist.

Ich beschließe, als nächsten Schritt eine Bushaltestelle zu suchen und zu seiner Wohnung zurückzukehren. Dort werde ich mir das Nötigste holen und nach Hause fahren. Diese Nacht werde ich in meinem Bett bei meinen Eltern verbringen.

Ich bin vom stundenlangen Laufen müde und muss mir einen neuen Weg suchen, der mich zu einer Bushaltestelle bringt. Es dauert noch mehr als eine Stunde, als ich wieder auf eine Bushaltestelle treffe, von der aus ich nach Bramsche zurückfahren kann.

Es ist kurz vor zwei, als ich völlig fertig bei dem Haus von Marcels Großonkel ankomme, in dem er die Einliegerwohnung bewohnt.

Der Golf ist weg, wie ich erleichtert feststelle. Doch unser kleiner Kater Diego sitzt draußen vor der Eingangstür und putzt sich zufrieden.

„Hey Kleiner, was machst du denn hier draußen?“, frage ich verwirrt, als er sich stolz umdreht und ins Haus verschwindet. Ich starre auf die wippende Katzenklappe, die die weniger schöne alte Haustür schmückt. Jetzt fallen mir auch die Holzspänne auf, die vom Einbau noch hier und da zurückgeblieben sind.

Also war Marcel gestern deswegen bei seinem Großonkel gewesen. Da hatte er ein volles Programm - diese Sabrina treffen und seinen Großonkel wegen der Katzenklappe fragen, und heute hat er sogar schon eine gekauft und eingebaut. Ich sollte eigentlich stolz auf ihn sein, bei dem, was er so alles neben seiner Arbeit meistert.

Diego schiebt sich wieder durch die Klappe, irritiert, wo ich denn bleibe.

Ich schließe auf und lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Meine Tasche abstellend, gehe ich zum Sofa und lasse mich auf das weiche Polster fallen. Ich bin viel zu müde und niedergeschlagen zu irgendwas und schließe die Augen, während der Kater zu mir auf das Sofa springt.

„Kleiner, ich kann nicht bei dir bleiben. Wir ruhen uns jetzt ein bisschen aus und dann gehe ich.“ Meine Worte zu dem schnurrenden Fellknäul und der Gedanke daran, dass ich wirklich für immer gehen werde, drücken schon wieder auf meine Tränendrüse. Ich schließe die Augen und versuche mich zu beruhigen.

Ich habe ein bisschen Zeit, um mich auszuruhen. Dann erst werde ich mich mit der Umstrukturierung meines Lebens beschäftigen.

Es ist halb vier, als ich wach werde. Mein Herz klopft mir bis zum Hals, obwohl ich nicht weiß, warum.

Ich stehe auf und überlege, was ich alles mitnehmen möchte. Aber ich habe schon viel zu viel, was ich mitschleppen müsste. Wäre doch Tim heute schon da. Er könnte mich und meine Sachen nach Hause bringen. Aber er hat erst ab morgen zwei Tage frei. Es ist nur eine kleine Verschnaufpause von seiner Musicaltournee, die noch einige Wochen geht und für die er durch ganz Deutschland tingelt. Ihm wurde in dem Orchester der Pianopart anvertraut, obwohl er erst neunzehn ist.

Mir wird klar, dass ich meinen Plan ändern muss. Ich nehme nur meine Schulsachen, mein Geld und meinen Hausschlüssel für zu Hause mit. Für Marcel lasse ich es so aussehen, als gäbe es den Entschluss zu gehen noch gar nicht.

Ich streichele den Kater und sofort wollen mich die Tränen wieder übermannen. Schnell verlasse ich das Haus und schließe ab. Ich fahre besser erst mal nach Hause.

Am Bahnhof muss ich noch einige Zeit auf einen Bus warten. Der Zug würde mich nach Bersenbrück bringen, und das wäre zu weit zum Laufen.

Mein Handy aus der Tasche kramend, stelle ich es an und gebe den Pin ein. Ich muss Ellen schreiben, die sich bestimmt Sorgen macht und Marcel, dass ich heute bei meinen Eltern bleibe.

Eine Flut von Anrufversuchen und SMSen rauscht über mich hinweg, angefangen mit Tim, der nicht verstehen kann, warum er mich ausgerechnet einen Tag, bevor er kommen will, nicht erreicht. Dann die von Ellen, die mich vergebens an der Bushaltestelle erwartet hatte und in jeder Pause versuchte, mich zu erreichen. Ihre SMSen, die zusätzlich mein Handy überfluten, werden von morgendlichen Wutanfällen bis hin zu nachmittäglichem Flehen, mich doch endlich zu melden, immer länger. Während sie morgens nur wütend schrieb: „Wo bist du? Kannst du dich nicht abmelden, wenn du nicht zur Schule kommen willst?“, schreibt sie nachmittags ganze Texte von wegen, ich könne mit allem zu ihr kommen und sie wäre doch immer für mich da.

Tim schrieb mittags erneut, ob alles in Ordnung ist und ich solle mich unbedingt melden.

Ich schreibe ihm zurück, dass er mich morgen anrufen soll, wenn er da ist und dass wir uns dann treffen.

Ellen schreibe ich, dass sie sich keine Sorgen machen soll und ich mich später noch bei ihr melde.

Marcel schreibe ich besser erst später. Er soll nicht genug Zeit zum Nachdenken haben.

Mein Bus kommt und ich steige ein, eine SMS von Erik ignorierend, die auch noch wartet, als mein Handy in meiner Hand vibriert. Ich lasse es fast fallen, weil ich mich so erschrecke.

Mich auf den nächstbesten Sitz werfend, sehe ich auf das Display. Es ist Ellen2. Also ein Anruf von Erik.

Fast panisch drücke ich das Handy aus. Den kann ich jetzt nicht verkraften. Außerdem ist er der Einzige, der es immer wieder schafft, mich dahin zu bringen, wo ich gar nicht hinwill. Bestimmt hat Ellen ihm gesagt, dass ich nicht in der Schule war und auch, dass sie mich den ganzen Tag nicht erreichen konnte.

Ich sehe seinen Blick vor mir, als ich ihn in seinem Mustang vor dem Bahnhof zurückließ. Er wirkte tatsächlich so, als mache ihm mein schneller Abgang etwas aus. Das ist nicht der alte Erik. Mir ist lieber, er ist wütend auf mich. Das passt besser zu ihm.

Als ich an meiner Bushaltestelle aussteige, habe ich erneut einen langen Weg vor mir. Aber als mich das ländliche Idyll umfängt, atme ich auf. Hier finden mich zumindest die Geister aus meiner Osnabrücker Welt nicht. Weder Ellen noch Erik wissen, wo ich hier zu finden bin. Das ist mein kleiner Ort der Zuflucht.

Als ich endlich bei unserem Haus ankomme, bin ich völlig verschwitzt und müde. Ich schließe die Haustür auf und werde von der Kühle des Hauses empfangen. Sofort gehe ich in mein Zimmer hoch, betrete mein mir so vertrautes Reich und schließe die Tür zur Außenwelt. Ein wenig kann ich nachvollziehen, wie es Erik geht, wenn er seine Paniktür hinter sich schließen kann.

Das hier ist mein Panikraum. Leider habe ich keine Paniktür, die nur ich wieder öffnen kann.

Ich lasse mich auf mein Sofa fallen. Wenn ich bei Marcel ausziehen möchte, muss ich hier wieder einziehen. Das behagt mir gar nicht.

Aber wird Marcel mich überhaupt gehen lassen?

Bestimmt, jetzt wo er diese Sabrina hat.

Es tut weh, den Gedanken an eine Trennung unabänderlich ins Auge zu fassen. Aber es bleibt mir nichts anderes übrig, jetzt, wo er sich sowieso schon einen Ersatz gesucht hat.

Ich komme gar nicht drüber weg, dass ihn so eine Tussi wirklich nur mit einer SMS rumkriegt. Außerdem muss ich zugeben, dass es auch bei mir nicht so weitergehen kann. Ich darf bei Marcel nicht bleiben, weil das falsch wäre.

Mittlerweile habe ich dreimal mit Erik geschlafen und es lässt sich da gar nichts mehr schönreden. Ich gehe fremd. Massiv fremd. Und das heißt doch nur, dass da etwas nicht stimmt. Aber warum hänge ich dann noch so an Marcel?

Erneut laufen mir Tränen über das Gesicht und ich weiß, wenn ich jetzt nicht aufhöre zu heulen, dann werden meine Eltern später sofort sehen, dass etwas nicht stimmt und ich darf mir unnötig viele dumme Fragen anhören. Was werden sie überhaupt sagen, dass schon wieder Schluss ist?

Mein Vater wird unendlich enttäuscht sein. Aber er kann ja trotzdem mit Marcel zum Fußball gehen … und Sabrina wird das neue Maskottchen.

So sehr ich es hasste, wenn Marcel durch die Ränge lief, um mich vor allen zu küssen, so sehr hasse ich den Gedanken, dass er das mit einer anderen tut.

Ich hieve mich vom Sofa und beschließe erst mal zu duschen. Vielleicht sehe ich dann auch nicht mehr so fertig und verweint aus.

Als ich aus dem Badezimmer komme und geduscht, gut duftend und mit geföhnten Haaren mich wieder wie ein Mensch fühle, steht meine Mutter in der Tür.

„Carolin!“, ruft sie erschrocken. „Du hast mich erschreckt! Ich dachte schon, wir hätten Einbrecher im Haus.“

„Ich wollte mit euch über Freitag sprechen und schauen, ob Post für mich gekommen ist. Außerdem dachte ich mir, ich schlafe heute Nacht hier.“

„Okay“, raunt meine Mutter mit unsicherem Blick. „Ist was mit dir und Marcel?“

„Ne, passt schon“, antworte ich wage. Ich will das erst mit Marcel klären, bevor ich meinen Eltern wieder unter den Rock krieche.

Ich helfe meiner Mutter beim Essen machen und frage sie wie nebenbei, ob es überhaupt möglich ist, dass ich Julian besuche und ob ich auch zu der Verhandlung muss.

Meine Mutter druckst herum und sagt dann entschieden, dass ich auf alle Fälle Julian besuchen kann und meine schriftliche Aussage vor Gericht reicht.

Ich bin verwirrt und verunsichert. Also werde ich es Freitag tatsächlich darauf ankommen lassen müssen.

Mein Vater ist auch vollkommen überrascht, mich zu Hause vorzufinden und fragt auch sofort, ob zwischen mir und Marcel alles in Ordnung ist.

 

„Sicher, Papa“, raune ich nur und schiebe meine Hausaufgaben vor, um mich zurückziehen zu können.

In meinem Zimmer werfe ich mich auf mein Sofa und mache mir leise Musik an. Ich nehme mein Handy und schalte es ein. Sofort laufen mehrere SMSen ein.

Tim hat zurückgeschrieben: „Alles klar! Ich freue mich auf morgen und melde mich dann bei dir.“

Ellen schrieb: „Ich mache mir aber Sorgen. Was ist los? Was ist passiert?“

Ich schreibe ihr zurück: „Es geht mir gut. Ich bin nur ein wenig angeschlagen und schlafe heute Nacht bei meinen Eltern. Ich komme morgen nicht zur Schule. Sag bitte im Sekretariat Bescheid. Danke. Ich melde mich morgen noch mal.“

Die mittlerweile angehäuften SMSen von Erik beunruhigen mich. Ich will sie nicht öffnen. Aber natürlich tue ich es doch.

Ruf mich bitte an.“

Carolin, warum drückst du mich weg? Was ist los?“

Die dritte klingt aufgebracht.

Verdammt, melde dich jetzt gefälligst. Ich drehe sonst durch!“

Ich schreibe Erik mit zittrigen Händen zurück.

Es geht mir gut. Mach dir keine Sorgen. Ich brauche nur eine Auszeit … von allem.“

Das muss für Erik reichen.

Außerdem muss ich Marcel noch schreiben, werde aber panisch, weil ich weiß, dass Erik mich gleich bestimmt erneut anzurufen versucht, jetzt, wo er weiß, dass ich mein Handy anhabe.

Ich schalte das Handy lieber schnell wieder aus.

Es klopft an der Tür und meine Mutter schaut herein. „Ist wirklich alles in Ordnung? Du kannst mit mir reden, wenn du Probleme hast“, sagt sie und lächelt verlegen.

Ich kann mit ihr Probleme besprechen? Das ist mir neu.

„Ich will nur meine Ruhe haben. Mehr nicht“, antworte ich ihr und sie sieht mich traurig an und geht wieder. Ich habe jeglichen Bezug zu meinen Eltern verloren. Außerdem habe ich Angst vor ihrer Reaktion, wenn sie erfahren, dass zwischen mir und Marcel wieder Schluss ist.

Ich mache die Musik aus und den Fernseher an. Ich versuche durch die Probleme anderer, wie es die Serien offerieren, meine zu vergessen. Aber das gelingt nicht. Auf meinem Sofa sitzend, ziehe ich die Beine dicht an meinen Körper und schlinge die Arme darum, um dann über mein verpfuschtes Dasein nachzudenken. Irgendwann lasse ich mich zur Seite fallen und ziehe die Decke über meinen kalten Körper.

Ich werde wach, als meine Mutter in mein Zimmer kommt. „Carolin? Willst du nicht ins Bett gehen?“

Es ist dunkel draußen und im Fernseher läuft ein Krimi. Ich schaue verschlafen auf die Uhr und schrecke hoch. Es ist gleich halb elf. Marcel ist bestimmt schon zu Hause. Verdammt!

Ich nicke meiner Mutter zu und wünsche ihr eine gute Nacht. Dann zücke ich mein Handy und schalte es ein. Wieder SMSen. Ich ignoriere alle, bis auf die von Marcel. „Schatz, wo bist du? Hast du den Zug verpasst? Soll ich dich holen kommen?“

Oh, mein Gott! Mein Herz zieht sich zusammen. Was soll ich nur tun? Ihm schreiben? Ihn anrufen?

Ich wähle seine Nummer und warte bis er abnimmt. Ein verunsichertes: „Carolin?“, dringt an mein Ohr. Seine Stimme versetzt mir einen Stich und eine Sekunde denke ich, dass ich ihm das nicht antun kann. Nur der Gedanke an seine schnelle Reaktion auf eine SMS von einem fremden Mädel lässt es mich doch durchziehen.

„Marcel, ich bin bei meinen Eltern. Ich habe noch ein bisschen mit ihnen gequatscht und werde heute Nacht hierbleiben.“

Es ist einige Zeit still in der Leitung und dann folgt etwas völlig Unerwartetes. Marcel brummt aufgebracht: „Du bist bei deinen Eltern?“

„Ja.“

„Und das soll ich dir glauben? Bei wem bist du wirklich?“

Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. „Ich bin wirklich bei meinen Eltern.“

Keine Sekunde hatte ich damit gerechnet, dass er das in Frage stellen könnte.

Wut flackert in seiner Stimme auf, als er brummt: „Und wo warst du den ganzen Tag? Auch bei deinen Eltern?“ Er versucht seiner Stimme ein Stück Ironie beizumischen, was seine Worte nur noch bissiger klingen lässt.

Ich weiß nicht, was die Frage soll. Marcel kann unmöglich wissen, dass ich nicht in der Schule war.

Da ich nicht antworte, knurrt er: „Deine Ellen hat mir heute Mittag eine SMS geschickt, dass sie dich nicht erreichen kann und sich Sorgen macht. Also, wo warst du? Und erzähl mir keinen Scheiß!“ Seine Worte klingen wütend und kalt.

Ich bin entsetzt. Ellen hatte ihm geschrieben? Woher hat sie seine Nummer? Als sie ihn an dem Drogensamstag anrief, da hatte sie das von meinem Handy aus gemacht und ich habe ihr niemals seine Nummer gegeben. Extra nicht.

„Ich war nirgends“, antworte ich leise und versuche noch den richtigen Weg zu finden. Aber es gibt nur einen.

„Carolin!“, raunt Marcel mit dumpfer, wütender Stimme. „Du sagst mir sofort, wo du warst … und bei wem!“

Ich atme tief durch und antworte, meine Hand auf meinen Magen drückend: „Ich bin heute Morgen in Wallenhorst wieder ausgestiegen und bin einfach nur gelaufen. Ich musste darüber nachdenken, wie ich damit umgehen soll, dass du bei einer SMS von irgendeiner Tussi gleich anspringst und dich mit ihr triffst“, raune ich. „Wow! Super süß! Natürlich können wir uns treffen …, fällt dir dazu etwas ein?“

Ich spüre regelrecht wie Marcel erstarrt. Damit hatte er keine Sekunde gerechnet.

Als er wieder fähig zum Sprechen ist, stammelt er: „Süße, das war nicht so, wie du denkst!“

„Es ist ja nie wie ich denke“, raune ich nur resigniert. „Aber ich glaube, langsam kapiere ich es auch mal. Also erzähl mir nichts und lass mich einfach in Ruhe. Ich muss wirklich erst mal einiges analysieren.“

Eriks Spruch. Es versetzt mir einen Stich.

„Carolin bitte! Das ist nicht so …“

„Marcel!“, fahre ich ihn an. „Lass es einfach. Wir reden morgen. Und lass dir nicht einfallen, hier aufzukreuzen.“ Damit lege ich auf. Ich kann nicht mehr. Es fühlt sich alles falsch an. Vor allem mein Moralapostelgehabe.

Ich schalte das Handy wieder aus, gehe zu meinem Bett und lasse mich in meine weiche Matratze fallen. Ich spüre Marcels Entsetzen und Traurigkeit, als wäre er bei mir und ich würde es live sehen. Aber vielleicht ist das der einzige Weg für ihn, es auch ertragen zu können. Wenn er erfahren würde, was ich mit Tim gemacht habe und vor allem mit Erik … wäre das nicht viel schlimmer für ihn?

Ich rede mir das ein, weil es für mich so erträglicher ist. Wahrscheinlich wird mir mein schlechtes Gewissen deshalb eine unruhige Nacht bescheren.

Aber ich schlafe dann doch besser, als ich dachte.

Meinen Eltern tische ich am nächsten Morgen auf, dass ich erst zur dritten Stunde Schule habe und sie glauben es mir, ohne das weiter zu Hinterfragen. Das ist für sie schließlich auch ein erklärlicher Grund, warum ich überhaupt bei ihnen schlafen konnte. Damit fahren sie dann auch beruhigt zur Arbeit.

Ich fahre allerdings nicht zur Schule. Tim schreibe ich kurz vor Mittag, dass er mich bei meinen Eltern treffen soll. Eine Stunde später rollt der schwarze Mercedes auf den Hof und er springt gut gelaunt und fröhlich aus dem Auto.

Ich sehe das, weil ich schon eine gefühlte Ewigkeit am Fenster stehe. Langsam gehe ich die Treppe hinunter zur Tür, an der er schon sturmklingelt. Als ich die Tür öffne, steht er grinsend davor.

„Hi, Tim“, raune ich.

„Carolin!“ Er zieht mich in seine Arme und mir schießen augenblicklich die Tränen in die Augen …

Wenig später sitzen wir auf der Terrasse in der Sonne und Tim hört mir einfach nur zu.

Ich erzähle ihm von den Fußballspielen, die ich nicht mag, von meinen Osnabrücker Ausflügen, die Marcel nicht mag, von meinen Osnabrücker Freunden, die Tim ja auch schon kennengelernt hat und die Marcel auch nicht mag und von den SMSen von dieser Sabrina. Alles erzähle ich ihm. Außer das von Erik und mir. Ich stelle Erik nur als Ellens Bruder hin, der es nicht gut findet, dass Marcel den Umgang mit ihnen nicht gerne duldet.

Tim lässt sich daraufhin noch mal die Geschichte von meinem Drogensamstag erzählen und wie ich an Diego und den Verlobungsring kam. Ich erzähle ihm auch, wie Marcel mit mir und Diego zu meinen Eltern gefahren ist und dafür plädiert hat, dass ich zu ihm ziehen darf.

Die Erinnerung zerreißt mich fast. Ich weiß oft nicht, ob ich es ohne Marcel überhaupt schaffen kann.

Tim sagt nicht viel. Er kam hier so glücklich an und hat erneut ein Wrack vor sich sitzen, das um Marcel und die zerstörte Liebe zu ihm trauert. Er weiß nicht, dass ich vor allen damit nicht fertig werde, dass ich es bin, die Marcel betrogen hat. Wenn er ahnt, dass irgendwas aus der Richtung mit meinem momentanen Gefühlsinferno zu tun hat, dann glaubt er höchstens, ich bin wieder dem Fluch, und somit ihm verfallen.

Davon fühle ich nicht viel. Was da in meinem Bauch rumort ist eher die Python, die sich an meiner Trauer, Wut und meinem Gefühlschaos dick frisst. Ich habe mir alles selbst zerstört. Marcel war sich gestern Abend sogar sicher gewesen, dass ich mich mit jemand anderem treffe. Das hatte er mir ganz klar zu verstehen gegeben. Dass ich ihn mit dieser Sabrina ausstechen konnte, ahnte er da ja noch nicht.

„Und was hast du jetzt vor?“, fragt Tim und nimmt meine Hand. Er küsst meine Fingerspitzen. „Kann ich irgendetwas für dich tun?“

Ich weiß, was er für mich tun kann.

„Können wir später meine Sachen aus Marcels Wohnung holen?“

„Natürlich! Und wo willst du hin? Ziehst du wieder hier ein?“

Ich sehe mich um, als sähe ich das hier zum ersten Mal. „Muss ich wohl.“

Tim lässt meine Hand los und steht auf. „Ich hole meine Zigaretten eben aus dem Auto“, raunt er und geht.

Ich sehe ihm überrascht hinterher. Mich in dem Stuhl zurücklehnend, bin ich erstaunt, wie ruhig er ist und wie geduldig er sich alles angehört hat. Er hatte sich bestimmt etwas anderes für seine freien Tage gewünscht.

Als er wieder um die Ecke kommt, sieht er mich mit leuchtenden Augen an, setzt sich und nimmt eine Zigarette aus der Schachtel, zündet sie an und gibt sie mir. Dann zündet er sich selbst eine an, inhaliert den Rauch und sagt: „Ich habe vielleicht eine Lösung, für den Fall, dass du nicht bei deinen Eltern unterkriechen möchtest.“

Mein Blick läuft fragend in sein Gesicht.

Tim hält mir seine geschlossene Hand hin. „Ich denke, dass ist Vorsehung, dass ich heute hierhergekommen bin“, raunt er.

Ich halte ihm meine geöffnete Hand hin, unsicher was er meint und er legt mir etwas hinein.

Ich starre auf den Schlüssel in meiner Hand.

„Mein Wohnungsschlüssel. Ich rufe nachher den Vermieter an und sage Bescheid, dass meine Schwester da einzieht, bis ich im Dezember wiederkomme. Ihm wird es recht sein und die Miete wird eh bezahlt, ob ich nun da bin oder nicht.“

Ich kann es nicht fassen. Ich kann in Tims Wohnung ziehen, die weder Marcel noch sonst jemand kennt.

Plötzlich sehe ich Licht am Horizont. Das wird meine Panikwohnung.

Aus dem Stuhl springend, falle ich Tim um den Hals, der seine Zigarette fallen lässt und mich mit beiden Armen umschlingt. Er zieht mich auf seinen Schoß und bevor ich auch nur reagieren kann, legen sich seine Lippen auf meine und er küsst mich ungestüm.

Völlig überwältigt von meinem neuen Wohnsitz erwidere ich seinen Kuss. Ich bin jetzt ein freier Mensch und kann tun und lassen, was ich will.

Meine Gefühle ignoriere ich, und mein Gewissen, das kurz den Zeigfinger hebt, um auf sich aufmerksam zu machen.

Freiheit! So fühlt sie sich an. Mit einer eigenen Wohnung. Und ich kann küssen, wen ich will.

Aber der Kuss hinterlässt nur einen bitteren Nachgeschmack und ich knurre in mich hinein: Nur noch One-Night-Stands und keine Liebe mehr. Ich bin frei und will frei bleiben und wenn ich mich dazu zwingen muss.

„Danke Tim. Wenn ich dich nicht hätte“, flüstere ich und sehe in seine schwarzen Augen. Ich schiebe mich von seinem Schoß. „Lass uns meine Sachen holen.“

Wir schaffen meine Schultasche und alles, was ich mitnehmen möchte, aus meinem Zimmer in sein Auto. Meinen Fernseher lasse ich da, weil Tim alles noch in seiner Wohnung hat, wie er mir erklärt.

Tim dreht die Musik auf und lässt das Verdeck aufklappen, als wir nach Bramsche fahren.

Ich bin so überwältigt von dem Gefühl, eine eigene Bleibe zu haben und mein Leben plötzlich wieder in eine ertragbare Richtung laufen zu sehen, dass ich fast schon gute Laune bekomme. Niemals hätte ich gedacht, dass mich der Umstand, dass ich mit Tims Wohnung mir ein Stück Freiheit erkaufe, so aufbaut. Vielleicht hat mich Marcel mit seiner Heimchen-Nummer doch überfordert?

 

Gut, wäre die Wohnung in Osnabrück, wäre ich noch glücklicher. Aber hier draußen kann mich keiner finden, wenn ich es nicht will. Und ich will es definitiv nicht.

Nur noch One-Night-Stands und keine Liebe mehr. Das soll mein neuer Lebensstil sein.

Marcel ist, wie ich erwartete, nicht da. Er muss arbeiten und geht wohl davon aus, dass ich in der Schule bin. Oder interessiert ihn das vielleicht auch gar nicht mehr, weil er seine Sabrina hat? Vielleicht geht es ihm wie mir und er ist eigentlich froh, wieder frei zu sein.

Diego springt uns entgegen und ich werde doch wieder traurig. Ich nehme den Kater auf den Arm und drücke ihn an mich. „Unser Scheidungskind“, murmele ich, gebe ihm einen Kuss in sein haariges Gesicht und setze ihn auf den Boden zurück.

Er läuft sofort in die Küche und ich folge ihm, um ihm Futter zu geben. Es ist das letzte Mal und ich möchte ihm noch etwas Gutes tun, egal ob er schon zu fressen hatte oder nicht.

„Das war Marcels Absicht“, murrt Tim.

„Was?“, frage ich und sehe ihn im Türrahmen stehen, die Arme vor der Brust verschränkt.

„Das mit dem Kater. Er dachte, du gehst dann auf keinen Fall.“

„Er hat sich geirrt“, raune ich nur und versuche nicht daran zu denken, was ich hier eigentlich gerade tue.

Ich gehe alle Räume ab und suche meine Sachen zusammen. Das meiste stopfe ich einfach in einen großen Müllsack.

„Mein Fernseh- und Internetanschluss läuft noch. Ich hatte ihn vergessen abzumelden. Jetzt brauchen wir ihn wieder. Wozu Vergesslichkeit alles gut sein kann.“ Tim grinst mich aufmunternd an.

„Ich bezahle dir das alles. Nächste Woche suche ich mir einen Job. Ich habe ein Cafe gesehen, das Aushilfen sucht“, sage ich und spreche aus, was mir schon länger im Kopf herumschwirrt.

Tim nimmt mir den Sack mit der Wäsche ab und stellt ihn auf den Boden. Vor mich tretend, raunt er, eine Hand in meinen Nacken schiebend. „Ich nehme kein Geld von dir. Mir reicht, wenn du mich beherbergst, wenn ich mal in der Nähe bin.“ Seine dunklen Augen leuchten erwartungsvoll auf und ich weiß, was er damit sagen will.

„Das ist deine Wohnung und du kannst da schlafen, wann immer du willst“, raune ich und mir ist klar, was das eigentlich für mich heißt. Aber er nimmt halt kein Geld von mir.

Meine Zuhälter. Einer sieht wie einer aus - mit seiner Karre, und der andere lässt mich auf die Art bezahlen. Heute und hier macht mir das nichts. Das ist mir meine Freiheit wert - und meine Unabhängigkeit, die ich haben werde, sobald Tim wieder weg ist. Und da ich keine Gefühle mehr dulde, ist es okay, wenn alles nur noch Geschäft ist. Ich fühle mich irgendwie erwachsen, eiskalt und berechnend. Genau das, was ich in nächster Zeit nur noch fühlen will.

„Komm, lass uns weitermachen. Ich will hier schnell weg“, sage ich, weil mir Erik einfällt, und dass er hier jederzeit auflaufen könnte, genauso wie Marcel, wenn er sich erneut krankmeldet.

Tim nickt und lässt mich los. Er will auch nur noch weg … und mich in seiner Wohnung unterbringen. Mir entgeht sein zufriedener Gesichtsausdruck nicht.

Als wir alles in seinem Auto verstaut haben, überkommt mich erneut die Traurigkeit. Ich nehme einen Zettel von meinem Schreibtisch und schreibe: „Marcel, es ist besser, wir trennen uns erst mal eine Zeit lang, bis jeder weiß, was er wirklich will. Such mich nicht. Mach dir keine Sorgen um mich. Und sag meinen Eltern nichts. Die flippen aus, wenn sie erfahren, dass ich wieder wegen einem Mädel gehen musste.“

Ich wähle den letzten Satz mit bedacht, weil meine Eltern von meiner neuen Freiheit nichts wissen dürfen. Schließlich bin ich noch nicht volljährig. Auch wenn es nun für Marcel so aussehen muss, als wäre das mit dem Mädel der einzige Grund für mich zu gehen. Ich weiß, es gibt auch noch andere.

Diego sehe ich nicht und beschließe, ihn auch nicht zu suchen. Das würde mir nur unnötig das Herz schwermachen.

Ich lasse die Tür ins Schloss fallen und werfe mit Schwung den Haustürschlüssel durch die Katzenklappe in den Flur. Weder gestern noch heute Mittag hätte ich gedacht, dass ich so konsequent mit meinem alten Leben abschließe.

Als wir im Auto sitzen und Tim den Mercedes auf die Straße lenkt, sagt er: „Es gibt eine Bedingung, was die Wohnung angeht.“

Ich sehe ihn an, verunsichert darauf wartend, was nun folgen wird. „Ja?“, frage ich nach, als er seinen Satz nicht sofort beendet.

„Keine Männerbesuche“, sagt er und sieht mich herausfordernd an.

Ich grinse. „Außer dir, nehme ich an.“

„Außer mir natürlich“, meint er und sein Gesichtsausdruck wirkt ernst und entschlossen.

Ich schlucke. „Kein Problem. Ich habe nicht vor, mich in nächster Zeit in irgendein Abenteuer zu stürzen. Ich habe die Schnauze gestrichen voll“, murmele ich.

Tim sieht mich nur an. Als er nickt, weiß ich nicht, ob er sich miteingeschlossen fühlt.

Keine zehn Minuten später fährt er den Mercedes in seine Garage und wir steigen aus. Ich klemme mir unter den Arm, was ich tragen kann und Tim nimmt den Rest.

Als wir die Haustür aufschließen, müssen wir noch eine Treppe bewältigen. Die nächste Tür führt in mein neues Reich. Ich erkenne alles sofort wieder.

„Wir müssen lüften und später noch einiges einkaufen“, meint Tim und bringt den Sack mit meiner Wäsche in das Schlafzimmer. „Der Schrank steht dir fast komplett zur Verfügung. Ich habe kaum noch Sachen von mir hier.“

Tim macht alle Fenster auf und geht in die Küche, um den Kühlschrank anzustellen.

„So, der läuft auch schon mal. Dann las uns schauen, ob auch die Musikanlage noch funktioniert und der Fernseher.“

Tim probiert alles aus, lässt aber nur die Musik laufen.

Ich sehe ihn durch die Wohnung eilen und sich um alles kümmern und die Freude, dass er mir sein Reich überlässt und sich so sehr um alles bemüht, wird übermächtig. Hier werde ich das erste Mal machen können, was ich will und Marcel und Erik müssen dafür Geschichte werden. Keiner der beiden darf jemals wieder mein Leben bestimmen und alle Gefühle für sie muss ich abtöten. Für immer. Und ich weiß schon wie. Ich fühle für Tim nichts weiter außer Dankbarkeit. Um alle anderen Gefühle in mir niederzudrücken, möchte ich sie mit dem wenigen, was ich für ihn fühle, überdecken. Eiskalt und berechnend.

Der dumpfe Schmerz in meinem Inneren lässt überraschender Weise etwas nach.

Als Tim an mir vorbeirauscht, um im Badezimmer nach dem Rechten zu sehen, greife ich nach seinem Arm.

Er bleibt stehen und sieht mich an.

Ich packe ihn mit beiden Händen am Kragen seines Hemdes und ziehe ihn langsam hinter mir her ins Schlafzimmer.

Er hält den Atem an und sein Blick wirkt verunsichert. Als ich das Bett hinter mir weiß, bleibe ich stehen und ziehe ihn an mich. Ich lege meine Hände um sein Gesicht und ziehe ihn zu mir runter, um ihn zu küssen.

Sofort schlingt er seine Arme um mich und drängt mich weiter.

Ich falle in sein Bett und er lässt sich auf mich fallen. Beide Hände neben meinem Kopf abstützend, fragt er: „Was wird das?“, und seine schwarzen Augen sehen mich herausfordernd an.

„Mietvorschuss“, erkläre ich grinsend.

Den Schmerz in meinem Herzen, der wie ein Feuer auflodert und gleichzeitig wie Eis meine Gefühle erstarren lässt, verdränge ich. Erik drängt sich in meinen Kopf und ich muss ihn wieder loswerden … und auch die Sehnsucht nach seinem Körper, die mich plötzlich überfällt wie ein hungriger Löwe.

Vorbei.

Ich verdränge den Gedanken an ihn. Es gibt nur noch One-Night-Stands und keine Liebe und Gefühle mehr.

Ich schließe die Augen und versuche die Erinnerung an das, was Erik in mir auslöste, wegzudrängen. Aber sofort schiebt sich Marcel in meine Gedanken.

Ich schüttele unwillig den Kopf und verdränge auch ihn daraus … und aus meinem Herzen.

Auch vorbei.

Tim ist einen Moment irritiert und sieht mir skeptisch in die Augen. Doch dann scheint ihm egal zu sein, wie ich das hier nennen will und er küsst mich gierig, seinen Körper auf meinen pressend.