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29. JANUAR

Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt

mich nicht aufgenommen.

MATTHÄUS 25, 43

Eine fremde Stimme oder eine fremde Hautfarbe erscheinen vielen Menschen verdächtig. Sie haben das Gefühl, Fremde stehen ihnen im Weg und nehmen ihnen die Arbeit weg, weshalb sie sie ablehnen.

Die Dichterin Elisabeth Langgässer erzählte einmal eine Begebenheit. Am Eingang eines schönen Bergdorfes wollten Arbeiter einen Pfahl aufstellen, an dessen Spitze ein großes Schild genagelt werden sollte. Sie suchten sorgfältig nach dem günstigsten Platz, um ihr Schild anzubringen, denn es sollte »gewissermaßen als Gruß, den die Ortschaft jedem Fremden entgegenschickte«, dienen. Nach langem Suchen stellten sie ihr Schild unmittelbar neben ein Wegkreuz mit dem gekreuzigten Christus. Das schien ihnen der beste Platz zu sein, denn hier konnte jeder die Inschrift lesen. Und sie hatten recht, viele Menschen kamen vorbei und lasen, was auf dem Schild geschrieben stand. Langgässer schreibt: »Auch der sterbende Christus, dessen blasses, blutüberronnenes Haupt im Tod nach der rechten Seite geneigt war, schien sich mit letzter Kraft zu bemühen, die Inschrift aufzunehmen, sie ging ihn gleichfalls an … « Und wie lautete die Inschrift? »In diesem Kurort sind Juden unerwünscht.«

Für Fremde ist hier kein Zuhause. Damals waren es die Juden, heute sind es Türken, Afrikaner, Übersiedler, Asylbewerber … Menschen, die eine andere Religion, andere Sitten und Gebräuche, andere Eigenarten haben. Aber gerade in ihnen begegnet uns Jesus, in den Fremden, den Heimatlosen, den Vertriebenen, den Verfolgten. Jesus hat sich immer für Ausgestoßene und Abgelehnte stark gemacht. Wer sie antastet, tastet auch ihn an. Wie schrieb der katholische Theologe Romano Guardini: »Das ist aller Gastfreundschaft tiefster Sinn, dass einer dem anderen Rast gebe auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause.«

30. JANUAR

Denk an deinen Schöpfer in der Jugend, ehe die bösen

Tage kommen und die Jahre sich nahen, da du wirst sagen:

»Sie gefallen mir nicht.«

PREDIGER 12, 1

»Altwerden ist das schwerste Examen, das Gott uns zumutet«, hat ein weiser alter Mensch geschrieben.

Der Schriftsteller Edgar Allan Poe ist für seine spannenden, oft gruseligen Geschichten bekannt. Eine handelt von einem Gefangenen, der in einer Zelle sitzt und das unbarmherzige Gefühl hat, dass sich die vier Wände langsam, aber unaufhaltsam auf ihn zubewegen. Der Häftling muss erkennen, dass sein Lebensraum von Stunde zu Stunde kleiner wird und ihm allmählich die Luft ausgeht. Schließlich kann er die Tage berechnen, die ihm noch bis zum Ende verbleiben, bevor ihn die Wände grausam zermalmen werden. Er sieht keinen Ausweg, es gibt keine Tür, kein Fenster, keine andere Öffnung.

Solche Panikattacken können auch uns befallen, wenn unsere Erwartungen auf diese Weltzeit beschränkt bleiben. Ich denke zum Beispiel an einen Mann, der von Selbstmordgedanken geplagt wurde, weil er im Leben keinen Ausweg mehr sah. Auch für ihn gab es keinen Lichtblick, kein Schlupfloch, seine Welt war »mit Brettern zugenagelt«, wie wir zu sagen pflegen, wenn wir es mit Menschen ohne Hoffnung und ohne Zukunft zu tun haben.

Der Prediger hat recht: »Denk an deinen Schöpfer in der Jugend, ehe die bösen Tage kommen.« Das Alter wird gern mit den Jahreszeiten Herbst und Winter verglichen. Die Kraft der Sonne hat dann nachgelassen. Die klare Luft ist mit weiter Fernsicht verbunden. Das Reifen der Früchte und die Beeren an den Sträuchern sind eine letzte wunderbare Hymne an den lebendigen Gott. Aber Resignation und Verzweiflung müssen nicht das letzte Wort behalten, denn das Leben hat kein schreckliches Ende. Vielmehr heißt das Ziel Ewigkeit bei Gott. Wer aber von diesem irdischen Leben alles erwartet, der wird »böse Tage« doppelt schmerzlich empfinden.

31. JANUAR

Noch im Greisenalter gedeihen sie, sind saftvoll und grün.

PSALM 92, 1 – 5

Von den Alten ist hier die Rede. »Sie werden sprossen wie Palmen und Zedern. Sie werden grünen in den Vorhöfen unseres Gottes.« So heißt es im Textzusammenhang.

Albert Schweitzer, der bekannte Arzt und universelle Denker, hat wunderbare Sätze über den alternden Menschen geschrieben: »Niemand wird alt, weil er eine Anzahl Jahre hinter sich gebracht hat. Man wird nur alt, wenn man seinen Idealen Lebewohl sagt. Mit den Jahren runzelt die Haut, mit dem Verzicht auf Begeisterung aber runzelt die Seele. Sorgen, Zweifel, Mangel an Selbstvertrauen, Angst und Hoffnungslosigkeit, das sind die langen, langen Jahre, die das Haupt zur Erde ziehen und den aufrechten Geist in den Staub beugen. Ob siebzig oder siebzehn, im Herzen eines jeden Menschen wohnt die Sehnsucht nach dem Wunderbaren. Du bist so jung wie deine Hoffnung, so alt wie deine Verzagtheit. Solange die Botschaften der Schönheit, Freude, Kühnheit, Größe, Macht von der Erde, den Menschen und dem Unendlichen dein Herz erreichen, solange bist du jung. Erst wenn die Flügel nach unten hängen und das Innere deines Herzens vom Schnee des Pessimismus und vom Eis des Zynismus bedeckt sind, dann erst bist du wahrhaft alt geworden.«

Wer dem Herrn vertraut, lässt die Flügel und die Mundwinkel nicht hängen. Wer sich vom Herrn begeistern lässt, egal wie alt er ist, der wird nicht vom Pessimismus und vom Zynismus, von Sorgen und Zweifeln in den Staub gebeugt. Der Psalmist sagt es: Noch im Greisenalter gedeihen diese Menschen, sie sind saftvoll und grün.

Wer sich gehen lässt, geht rückwärts. Wer alle Hoffnung fahren lässt, lebt hoffnungslos. Wer Pläne und Wünsche in Gottes Namen realisiert, bleibt häufiger als andere kraftvoll, frisch und im Saft.

1. FEBRUAR

Du, Herr, hast deine Vorschriften gegeben, damit man sich

mit Sorgfalt danach richtet. Ich wünsche mir noch mehr

Entschiedenheit, mich deinen Ordnungen zu unterstellen.

PSALM 119, 4 – 5

Wenn Gottes Ordnungen einfach über den Haufen geworfen werden, dann baden Mensch und Tier dies aus. Die Folgen sehen wir überall: Die heutige westliche Gesellschaft wird von den Konsequenzen solcher Unterlassungen geprägt. Der Journalist und Politiker Peter Gauweiler kennzeichnet das Drama so: »Das sind Erosion und Verwahrlosung, Aids, Rinderwahnsinn und Creutzfeld-Jakob-Krankheit. Jetzt die Maul- und Klauenseuche, die wie ein großes Steppenfeuer ausgebrochen ist. Ist es ein Zufall, dass diese Debakel jetzt auftreten? … Der Rinderwahnsinn (BSE) ist besser bekannt als Fütterungswahnsinn. Dahinter steckt der perfide Vorgang, zur Optimierung der Milchproduktion von Hochleistungskühen Tierkadaver zu verfüttern.«

Die Zahlen sprechen für sich. Millionen Tiere mussten wegen BSE-Verdachts geschlachtet und vernichtet werden. Noch einmal Peter Gauweiler: »Aber hinter diesem Unglück steckt mehr, eine übergreifende Verblendung: Es ist der rücksichtslose Wille, Grenzen zu beseitigen. Ein ›Fortschritt‹, der über Leichen rollt.«

Der lebendige Gott hat uns Vorschriften, Gebote und Ordnungen gegeben. Wer sie beiseiteschiebt, schadet sich und der Gemeinschaft. Nur wir selbst können – mit noch mehr Entschiedenheit, wie der Psalmist es für sich fordert – daran arbeiten, uns Gottes Ordnungen zu unterstellen.

2. FEBRUAR

Was meint ihr? Wenn ein Mensch hundert Schafe hätte und

eins unter ihnen sich verirrte: Lässt er nicht die neunundneunzig

Schafe auf den Bergen, geht hin und sucht das verirrte?

MATTHÄUS 18, 12

Das Leben ist ein Labyrinth, in dem man sich schnell verirren kann. Das gilt für Schafe, und das gilt für Menschen. Die Angebote zur Gestaltung des Lebens gehen in die Tausende. Nicht wenige haben sich verirrt und finden sich im Wirrwarr der Angebote nicht mehr zurecht.

Eine griechische Sage erzählt von einem unterirdischen Labyrinth auf der Insel Kreta. Dort lebte ein Ungeheuer, halb Mensch, halb Stier, der Minotaurus. Alle neun Jahre mussten ihm sieben junge Mädchen und sieben junge Männer der Insel geopfert werden. Der Held Theseus meldete sich freiwillig zum Opfer. Ariadne, die Tochter des Königs von Kreta, hatte sich in Theseus verliebt und wollte ihn retten. Sie gab ihm ein Knäuel roten Garns, das ihm helfen sollte, aus dem Labyrinth wieder lebend herauszufinden. Theseus befestigte das Ende des Garns am Eingang und suchte dann den Minotaurus. Es gelang ihm, das Ungeheuer zu töten und unversehrt zurückzukehren.

Unser Herr will nicht, dass wir uns im Labyrinth dieser Welt verirren und vor die Hunde gehen. Er sucht gerade die Verlorenen und Verirrten. Er sucht nicht die Satten und Gerechten. Er geht nicht den Selbstzufriedenen und Gesunden nach. Er sucht die, die vom Wege abgekommen sind. Er ist der gute Hirte, der die Schafe, die die Orientierung verloren haben, zurückbringt. Unser Herr sucht die Verirrten und lässt sie nicht im Dreck und in der Sackgasse sitzen. Er selbst und sein Wort sind der rote Faden, der uns zu ihm zurückbringt, wenn wir uns in den zahllosen Angeboten dieser Welt verrannt haben. Ist das nicht ein tröstlicher Gedanke?

3. FEBRUAR

Wie ich mit Mose gewesen bin, werde ich mit dir sein;

 

ich werde dich nicht aufgeben und dich nicht verlassen.

JOSUA 1, 5

Gott wird mit dir sein! Eine Verheißung, die stärkt und beflügelt. Eine Zusage, die Mut macht.

Pastor Heinrich Giesen, der ehemalige Direktor der Berliner Stadtmission, berichtete von einem Gottesdienst, den er als junger Mann in einer Herrnhuter Brüdergemeinde halten sollte. »Ich wartete in der Sakristei auf den Einsatz des Orgelvorspiels. Dabei seufzte ich, wie alle Diener am Wort seufzen vor ihrem Dienst, und zitterte, wie alle, die nicht predigen können. Da kommt der Bruder Schmidt in die Sakristei, legt seine Hand auf meine Schulter und sagt: ›Heinrich, Er ist da!‹ Mehr sagte er nicht, aber damit hat er alles gesagt.«

Keine Frage, damit ist alles gesagt! Er ist bei Mose gewesen, und er ist bei Josua gewesen. Er hat den Jona und Elia nicht aufgegeben, und er wird auch keinen von uns aufgeben. Er ist bei uns! Er hat Petrus nicht aufgegeben, der ihn dreimal verleugnete. Unvorstellbar, er hat sogar Judas jahrelang ertragen, obwohl er genau wusste, dass dieser ihn verraten würde.

Es ist wie in dem Gebet von den vierzehn Engeln, das die kleinen Kinder vertrauensvoll beten, wenn sie schlafen gehen. Vierzehn Engel stehen bei ihnen, am Kopf- und am Fußende. Wir werden gedeckt und geweckt, werden gehalten und getragen. Der lebendige Gott hat seine Diener überall. Welche Gelassenheit schafft seine Gegenwart! Er geht mit auf die Kanzel. Er geht mit in die Schule. Er wacht am Krankenbett und schließt unsere Augen, wenn wir den letzten Atemzug tun.

Müssten wir da nicht viel ruhiger, gelassener und zufriedener sein? Müssten wir nicht viel mehr Zuversicht auf unsere Umgebung ausstrahlen? Er ist bei uns, er gibt uns nicht auf!

4. FEBRUAR

Herr, ich rufe zu dir um Hilfe!

Du mein Beschützer, stelle dich nicht taub!

PSALM 28, 1

Kein Anschluss unter dieser Nummer! Haben Sie das auch schon erlebt?

Ich wollte einen alten Bekannten anrufen, einen vertrauten Weggefährten. Jahrelang hatte ich nichts von ihm gehört. Wir hatten im CVJM zusammengearbeitet, hatten Hand in Hand Freizeiten organisiert und geleitet. Wir hatten zusammen gebetet und gefeiert. Wir hatten viel gelacht und viele ernste Gespräche geführt.

Ich wählte die acht Ziffern, die Nummer stand in meinem Kalender. Jedes Jahr wurde sie neu übertragen. »Gleich wird er sich melden! Wie überrascht er sein wird, meine Stimme zu hören! Ich freue mich schon auf seinen Tonfall, wenn er ›Hallo‹ sagt!« Aber dann, nach kurzer Verzögerung, meldete sich eine eiskalte Stimme. Eigentlich noch nicht einmal eine menschliche Stimme, eher ein technischer Laut, der mir eine Botschaft ins Ohr schob: »Kein Anschluss unter dieser Nummer!« Wie unvorstellbar gnadenlos klangen diese fünf Wörter! Später erfuhr ich dann auf Umwegen, dass er inzwischen verstorben war.

Kein Anschluss unter dieser Nummer …

Gott sei Dank ist es bei unserem himmlischen Vater anders. Die Leitung zu ihm ist immer frei. Bei ihm gibt es kein Besetztzeichen. Er hat immer ein Ohr für uns. Allerdings haben wir manchmal den Eindruck, wenn wir eine konkrete Antwort brauchen, unsere Gebete würden an der Zimmerdecke kleben, würden nicht zu ihm durchdringen. Wir bekommen das Gefühl, wir reden ins Leere, spüren nichts von seiner Anwesenheit. Dann können wir mit dem Psalmisten sprechen: »Du mein Beschützer, stelle dich nicht taub!« Es stimmt, nicht immer hören wir Gottes Stimme, spüren seine Gegenwart. Aber das andere stimmt auch: Wenn wir beten, tönt niemals an unser Ohr: »Kein Anschluss unter dieser Nummer!«

5. FEBRUAR

Denn du hast nicht Gefallen an unserem Verderben:

Nach dem Gewitter lässt du die Sonne wieder scheinen,

und nach Klagen und Weinen überschüttest du uns mit Freuden.

Deinem Namen sei ewig Ehre und Lob, du Gott Israels.

TOBIAS 3, 23

Ein Mut machender Gedanke: Du, Gott, hast keinen Gefallen an unserem Verderben.

Ein bekannter amerikanischer Theologe berichtet von einem erfolgreichen Geschäftsmann, den ein wirtschaftlicher Misserfolg in die Knie gezwungen hatte. Er war am Ende, gab aber trotzdem nicht auf. Wie ein Verzweifelter kämpfte er ums Überleben. Als der Theologe ihn fragte, wie er sich seinen Umschwung erklären könne, wo er doch alles verloren habe, antwortete der Mann: »Es war das Bild eines Schiffes, das ich gesehen habe. Es saß bei Ebbe auf dem Sand fest. Der Titel jenes Bildes lautete: Die Flut kommt immer zurück.«

Können wir uns diese Verheißung zu eigen machen? Nach einem Gewitter kann die Sonne wieder scheinen. »Nach Klagen und Weinen überschüttest du uns mit Freude.« Misserfolge, Pleiten und Enttäuschungen gehören zu unserem Leben. Aber wenn wir aufgeben und uns der Verzweiflung hingeben, ruinieren wir uns selbst, seelisch und körperlich.

Wer aufgibt, zweifelt an der Hoffnung.

Wer aufgibt, glaubt nicht an die Wende.

Wer aufgibt, verschmäht Gottes Möglichkeiten.

Behalten Sie das Bild des Schiffes im Auge: »Die Flut kommt immer zurück.«

6. FEBRUAR

Handelt nicht aus Selbstsucht oder Eitelkeit! Keiner soll sich über den

anderen erheben, sondern ihn mehr achten als sich selbst. Verfolgt nicht

eure eigenen Interessen, sondern seht auf das, was dem anderen nutzt.

PHILIPPER 2, 3 – 4

Ehrgeiz spielt in unserer Leistungsgesellschaft eine große Rolle. Ein ehrgeiziger Mensch, ob jung oder alt, ist angesehen und geachtet. Doch hat der hoch geschätzte Ehrgeiz mehr als eine Schwachstelle. Vor allem, wenn wir ihn geistlich unter die Lupe nehmen. Ein gutes Beispiel ist der Film »Die Dornenvögel«. Der hochbegabte Pater Ralph tritt in Australien eine große Erbschaft an, die ihm in Rom beim Vatikan Ehre einbringen soll. Er verzichtet auf die Liebe zu einer jungen Frau. Er sagt zu ihr: »Ich liebe dich sehr, aber Gott steht an erster Stelle.« Er reißt sich von ihr los und kehrt nach Rom zurück, wo er zunächst Sekretär des Erzbischofs und später Kardinal wird. Der Erzbischof ist wie ein väterlicher Freund zu ihm. Aber er hat den jungen Priester durchschaut. In einer ruhigen Stunde sagt er zu ihm: »Sie haben sich in Australien nicht zwischen einer Frau und Gott entschieden, sondern zwischen einer Frau und dem Ehrgeiz.«

Wir möchten uns und den anderen vormachen, dass Gott über allem steht. Wir täuschen und belügen uns selbst. Nicht der lebendige Gott ist das einzige Motiv, Ehrgeiz, Eitelkeit und Anerkennungssucht sind die tief liegenden Triebfedern. Nicht nur Pater Ralph, der spätere Kardinal, wird von solchen Lebenslügen heimgesucht. Jeder von uns kennt diese raffinierten Selbsttäuschungen. Dieser getarnte fromme Ehrgeiz gaukelt uns ein frommes Selbstbild vor. Wir glauben an unsere Selbstlosigkeit. Wir glauben an unseren ehrbaren Ehrgeiz. Dabei verrät allein das deutsche Wort, dass sich der Ehrgeiz als ein äußerst fragwürdiges geistliches Streben entpuppt. In unserer Gesellschaft wird Ehrgeiz hoch geschätzt, und viele Christen erwarten von Predigern, Seelsorgern und Therapeuten, dass diese »heilige Kuh«, der Ehrgeiz, unangetastet bleibt. Wir sollten da achtgeben.

7. FEBRUAR

Eine jegliche Rebe, die da Frucht bringt,

wird er reinigen, dass sie mehr Frucht bringt.

JOHANNES 15, 2

Christen sind dazu da, Frucht zu bringen. Wie geht das vor sich? Ein bekanntes Sprichwort sagt: »Sich regen bringt Segen.« Diese Volksweisheit spricht es unmissverständlich aus, dass feste Arbeit, Strebsamkeit und Tüchtigkeit den Segen Gottes zur Folge haben. Christen, die in einer Leistungsgesellschaft leben, werden pausenlos verführt, Tüchtigkeit mit Segen, Erfolg und Besitz mit Frucht und Opferbereitschaft und Selbstüberforderung mit Gottes Willen gleichzusetzen.

Die Faust-Tragödie von Goethe handelt von falschen Versprechungen, die uns die Welt macht, für die wir arglos unser Leben verkaufen. Goethes Theologie, die er im Faustdrama auf den Punkt bringt, lautet: »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.« Diese Schlussfolgerung ist theologisch falsch. Nicht unsere Tüchtigkeit, Strebsamkeit und Opferbereitschaft retten uns, sondern Christus allein.

Im »Theologischen Wörterbuch« von Ralf Luther heißt es: »Frucht ist Gewachsenes im Gegensatz zu Gekünsteltem. Frucht heißt das, was organisch aus einer Wurzel wächst; das Gegenteil davon ist das Gemachte, Gekünstelte, Gesteigerte … Die innerste Art, die tatsächliche Lebensrichtung eines Menschen, ist daran zu erkennen, ob an ihm gute Früchte zu sehen sind, ob seine Güte, seine Wärme, sein Wohltun, seine Frömmigkeit, seine Liebenswürdigkeit ursprünglich und wurzelecht sind oder ob das alles Mache, Verstellung, Steigerung, von außen aufgedrückter Stempel, moralischer oder religiöser Drill ist.«

Jesus zeigt in den Abschiedsreden seinen Jüngern und uns, wie Früchte wachsen. Bleiben in Christus – wie eine Rebe am Weinstock. Er reinigt die Reben und damit uns. Er sorgt dafür, dass wir mehr Frucht bringen. Von unseren Anstrengungen ist keine Rede.

8. FEBRUAR

Ein gesunder Baum trägt gute Früchte und ein

kranker Baum schlechte. Umgekehrt kann auch ein

gesunder Baum keine schlechten Früchte tragen.

MATTHÄUS 7, 17 – 18

Wie gesunde Bäume möchten wir Christen verwurzelt sein und Frucht bringen.

In seiner Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« greift Martin Luther das Bild vom Baum und den Früchten auf. Er schreibt: »Die beiden Sprüche sind wahr: Gute Werke machen nimmermehr einen guten Mann, sondern ein guter Mann tut gute Werke. Böse Werke machen keinen bösen Mann, sondern ein böser Mann macht böse Werke. So muss immer das Wesen oder die Person selbst zuvor gut sein, vor allen guten Werken; und die guten Werke folgen und gehen aus von der guten Person. Es ist ja klar, dass die Früchte nicht den Baum tragen, so wächst auch der Baum nicht auf den Früchten, sondern umgekehrt. Die Bäume tragen die Früchte, und die Früchte wachsen auf den Bäumen … also muss zuerst die Person des Menschen selbst gut oder böse sein, ehe er ein gutes Werk tut. Seine Werke machen ihn nicht gut oder böse, sondern er selbst macht seine Werke gut oder böse.«

Frucht wächst von selbst. Kein Bauer stellt sich auf seinen Acker und appelliert an die Fruchtbarkeit der Erde. Früchte wachsen nicht auf Befehl. Sie reagieren nicht auf Appelle und Beschwörungen. Nur wir Menschen möchten gerne Früchte erzwingen. Als Seelsorger oder Prediger »bearbeiten« wir die Menschen, weil wir Frucht sehen wollen. Wir wollen Früchte erleben, wir drängen und manipulieren, dass Früchte sichtbar werden. Die Bibel hat recht: Der gute Baum bringt gute Früchte, und der Christ, der aus Christus lebt, wird Frucht bringen.