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17. JANUAR

Von allen Seiten überfällt mich das Unglück. Ich kann nicht zählen,

wie oft es zuschlägt. Meine Verfehlungen haben mich eingeholt,

ich kann nichts anderes mehr sehen.

PSALM 40, 13

Unsere Wahrnehmung kann uns einen Streich spielen. Denn wir sehen, was wir sehen wollen. Unser Blick ist getrübt, unsere Wahrnehmung ist verzerrt. Wer sich auf Negatives konzentriert, wie der Psalmbeter, der sieht nur Negatives und Unglück.

Der Psalmist hat recht: »Ich kann nichts anderes mehr sehen.« Wir sprechen heutzutage von »Negaholikern«, von Menschen, die nur Fehler, Pleiten und Pannen wahrnehmen. Sie sind fehlerorientiert und werden von Befürchtungen heimgesucht.

Professor Thielicke hat mal spitzbübisch erzählt: »Um meinen Kindern einen Eindruck von christlicher Standhaftigkeit zu vermitteln, zeigte ich ihnen einmal ein illustriertes Buch über die Kirchengeschichte. Auf einer Seite waren christliche Märtyrer abgebildet, die im Kolosseum den Löwen vorgeworfen wurden. Eines der Kinder schluchzte auf, so tief beeindruckt schien es. Ich fragte den Kleinen: ›Warum weinst du denn so?‹ Der Junge zeigte auf einen der grimmigen Löwen und sagte: ›Der Löwe sieht so traurig aus. Er hat als Einziger noch keinen Christen abbekommen.‹«

Thielickes Lehrstunde war ein Misserfolg. Die christliche Standhaftigkeit hatte den kleinen Jungen überhaupt nicht beeindruckt, wohl aber der traurige Löwe.

Was sehen wir? Die Fehler oder den Erfolg? Die Rosen oder die Dornen? Die Blumen oder das Unkraut? Sehen wir Gottes Güte und Barmherzigkeit oder seine strafende Hand? Erkennen wir seine Führung und seinen Willen oder lediglich sein »Schicksal«, das blindwütig zuschlägt?

Gott schenke uns positive Augen, damit wir seine Wunder wahrnehmen und seine Wohltaten zählen und nicht nur die Unglücksfälle.

18. JANUAR

Wer den Sohn hat, der hat das Leben;

wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht.

1. JOHANNES 5, 12

Professor Helmut Thielicke schreibt über den Sinn des Lebens Folgendes: »Ich wüsste kein besseres Modell für die Frage, welchen Sinn unser Leben hat, als das Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn. Der junge Mensch geht, um sich selbst zu finden. Damit man sich selbst finden kann, muss man manchmal eigene Wege gehen. Er ging, um die Freiheit kennenzulernen, und sah sich sehr schnell gekettet an seine Triebe; an seinen Ehrgeiz; an die Angst vor der Einsamkeit. Bei seiner Selbstentfaltung entwickelten sich auch die dunklen Seiten seines Wesens. Als er so im Elend des Knechtsdaseins sitzt, da sehnt er sich nach der Freiheit, die er als Kind im Elternhaus gewonnen hat. Freiheit hat er nur, wenn er im Einklang mit seinem Ursprung lebt, wenn er in Frieden mit Gott lebt. Und als er sich zur Umkehr entschließt, ist das kein moralischer Entschluss, sondern eine Wende, die von zitternder Freude und dem Glanz der Hoffnung erfüllt ist. Ich glaube, man wird verstehen, wenn ich die Geschichte als einen entscheidenden Beitrag zur Frage nach dem Sinn des Lebens bezeichnet habe. Denn diesen Sinn gewinnen wir nur, wenn wir die Erfüllung unseres Lebens finden, wenn wir verwirklichen, wozu wir entworfen sind.«

Unzählige junge Menschen wollen leben. Mit allen Mitteln wollen sie das Leben auskosten. Auch der verlorene Sohn hat die sogenannte Freiheit in vollen Zügen genossen. Aber Sinn, Zufriedenheit und Erfüllung hat er draußen nicht gefunden. Ohne Gott, ohne Christus hat er sein Leben verwirklichen wollen. Er ist gescheitert. Und dann geht er in sich. Er schlägt nicht wild um sich. Er findet den Weg zum Ursprung, zum Vaterhaus zurück. Sein Vater bringt es auf den Punkt: »Er war tot, jetzt ist er wieder am Leben.« Gott wurde in Christus Mensch, um uns wahres Leben zu garantieren. Wer diesen Christus hat, der hat das Leben. Er kann auf tausend Freiheiten verzichten, die den Menschen von heute verführen und ihm ein Scheinleben vorgaukeln. Er hat genug.

19. JANUAR

Du zeigst mir den Weg zum Leben.

Deine Nähe erfüllt mich mit Freude,

aus deiner Hand kommt ewiges Glück.

PSALM 16, 11

Wer mit dem Psalmbeter diesen Vers aus vollem Herzen beten kann, der lebt sinnvoll. Er lebt in der Gegenwart und schaut nicht ständig unzufrieden rückwärts oder resigniert in die Zukunft. Wer der Gegenwart Gottes ausweicht, lebt am Leben vorbei. Die Zeit verrinnt, alles Schöne und Beglückende bleibt ungelebt. In Gedanken ist er im Morgen. Ruhelos und besinnungslos schuftet er vor sich hin. Eine unbegreifliche Angst sitzt ihm im Nacken.

Der Psychoanalytiker und Arzt Horst-Eberhard Richter kennzeichnet diese Menschen so: »Diese Angst betrifft das Sterben erst sekundär. Primär ist es eine Angst vor dem Leben selbst oder genauer, vor der Leere seines Lebens, dem man den Sinn entzogen hat. Der Zwang zur Fortschrittsperspektive besagt, dass man nicht das Jetzt und Hier bejahen und ausschöpfen kann, sondern sich immer hektisch unterwegs sieht. Das Motto lautet: Immer nur nach vorn und oben blicken. Dabei verliert man den Augenblick. Dann ist es wirklich so, dass das Leben zerrinnt. Man erschrickt über das Tempo des Zerrinnens, weil man eben nie und nirgends mit seinem Bewusstsein wirklich verweilt und zur Gegenwart Ja sagt.«

Können wir den Augenblick genießen, den Kaffee Schluck für Schluck trinken, die Blüten in ihrer Pracht bewundern, die Vogelstimmen aufnehmen und ein Gedicht in seiner Tiefe bedenken? Wer in seinem Tun und Lassen einen Sinn spürt und wer sein Leben als sinnvoll wahrnimmt, kann zur Gegenwart Ja sagen, kann den Augenblick genießen, kann Stille aushalten, kann verweilen und muss nicht krampfhaft die Zeit ausfüllen.

Wer die Gewissheit hat: »Du zeigst mir den Weg zum Leben«, der schätzt den Augenblick und genießt die Gegenwart.

20. JANUAR

Ihr wisst auch, dass es heißt: »Liebe alle, die dir nahestehen,

und hasse alle, die dir als Feinde gegenüberstehen.«

Ich aber sage euch: »Liebet eure Feinde und betet für die,

die euch verfolgen.«

MATTHÄUS 5, 43 – 44

Ist diese Forderung Jesu nicht eine unmögliche Zumutung?

Als ich einmal nach Süddeutschland unterwegs war, las ich im Zug eine kleine Geschichte. Ein Mann besaß einen Tante-Emma-Laden im Städtchen. Er verdiente nicht schlecht, und er war zufrieden. Aber dann öffnete in der Nähe ein großer Supermarkt, und der Besitzer des Tante-Emma-Ladens geriet in Verzweiflung. Er war Christ, deshalb ging er zu seinem Seelsorger und offenbarte ihm seine Not. Am liebsten hätte er den Supermarkt angezündet, um die übermächtige Konkurrenz loszuwerden. Der Seelsorger riet ihm aber, jeden Tag zuerst für sein Geschäft und dann für den Supermarkt Gottes Segen zu erflehen. Durch diese Gebete änderte der Besitzer des Tante-Emma-Ladens seine destruktive Gesinnung vollkommen, ja er bekam sogar eine gute Beziehung zum Leiter des Supermarktes. Eines Tages musste er dann doch seinen kleinen Laden schließen, aber was passierte? Der Leiter des Supermarktes holte ihn als Filialleiter in sein Unternehmen.

In der Tat: Es ist mein Denken, das eine Sache positiv oder negativ macht. Wer negativ denkt, handelt negativ.

Wer positiv betet, ändert seine Denk- und Lebensweise. Wir können uns eine solche Gesinnung von Gott schenken lassen. Denn niemand kann aus eigener Kraft für seine Feinde beten, niemand kann von sich aus mit einer Handbewegung den Hebel von der Feindschaft zur Freundschaft umlegen.

21. JANUAR

Ihn ließ er sterben zu unserer Rettung. Unsere ganze Schuld

hat er uns vergeben, weil Christus sein Blut vergossen hat.

So zeigte uns Gott den ganzen Reichtum seiner Gnade.

EPHESER 1, 7

Können wir einem Todfeind vergeben?

Der Schriftsteller Dostojewski schrieb über zwei Brüder, die miteinander über Gott sprachen. Einer war ein Zweifler, der andere ein Mönch. Der Zweifler erzählte eine grausame Geschichte: »Ein böser Herr hatte einen Lieblingshund. Ihm hatte der kleine Sohn eines Leibeigenen aus Versehen einen Stein ans Bein geworfen. Aus Zorn ließ der Herr den Knaben vor den Augen seiner Mutter umbringen. Was soll man hier tun?«, fragte der Zweifler den gläubigen Mönch. »Den Herrn erschießen? Aber wem hilft das? Und wenn es Versöhnung geben soll: Wer darf eine solche Tat überhaupt verzeihen? Der Junge? Oder darf die Mutter dem Mörder ihres Jungen vergeben?« Und er forderte: »Hör auf, nach Sühne und Versöhnung zu suchen, die es im Himmel und auf Erden doch nicht gibt, weil es sie gar nicht geben kann!«

»Nein, dabei kann ich mich nicht beruhigen«, antwortete der Mönch. »Du sagtest: Ist denn auf der ganzen Welt auch nur einer, der verzeihen könnte und ein Recht dazu hätte? Aber dieser Eine lebt ja, und er kann alles verzeihen, allen und jedem, weil Er ja selbst sein unschuldiges Blut hingab für alle und alles. Du hast seiner vergessen.«

Mit unserer Kraft gelingt es uns nicht, einem Todfeind zu vergeben. Der Sohn Gottes betete am Kreuz für seine Mörder: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« So etwas übersteigt unsere Kraft. Nur in Jesus können wir glühenden Hass und bittere Feindschaft überwinden. Nur in Jesus können wir die Spirale der Rache und der Gewalt stoppen.

 

22. JANUAR

Versöhne dich mit deinem Bruder, und als Dank komm

und opfere deine Gaben.

MATTHÄUS 5, 24

Die Versöhnung spielt in Ehen, Familien und unter Völkern eine wesentliche Rolle. Ohne Versöhnung bleiben Hass und Lieblosigkeit lebendig.

Jürgen Werth hat ein schönes Lied über die Versöhnung geschrieben:

»Wie ein Regen in der Wüste,

frischer Tau auf dürrem Land.

Heimatklänge für Vermisste,

alte Feinde, Hand in Hand.

Wie ein Schlüssel im Gefängnis,

wie in Seenot ›Land in Sicht‹,

wie ein Weg aus der Bedrängnis,

wie ein strahlendes Gesicht.

So ist Versöhnung.

So muss der wahre Friede sein.

So ist Versöhnung.

So ist Vergeben und Verzeihen.«

Vergebung und Versöhnung schaffen ein völlig neues Lebensgefühl. Hass und Feindschaft sind vorbei. Isolation, Gefängnis und Einsamkeit haben ein Ende.

Die Holländerin Corrie ten Boom, die selbst Feindschaft und Konzentrationslager erlebt hat, formuliert es so: »Wenn dir der Herr deine Sünden abnimmt, siehst du sie niemals wieder. Er wirft sie ins tiefste Meer, vergeben und vergessen. Ich glaube sogar, dass er ein Schild darüber anbringt: Fischen verboten!«

Jesus macht die Reihenfolge klar: Erst Frieden und Versöhnung mit deinem Bruder, mit deiner Schwester, mit deinem Nächsten, und dann gehe in den Gottesdienst. Der Gottesdienst ohne die Versöhnung im Zwischenmenschlichen wird zur Heuchelei.

23. JANUAR

Und derselbe (Jesus Christus) ist die Versöhnung

für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren,

sondern auch für die der ganzen Welt.

1. JOHANNES 2, 2

Kennen Sie die Geschichte von Claude Eartherly, einem der Piloten, der die Bombe auf Hiroshima abgeworfen hat? Er gab den Befehl. Nach seiner Entlassung aus der Armee unternahm er zwei Selbstmordversuche und landete in einer psychiatrischen Anstalt. Die Schuld raubte ihm den Verstand.

Dreißig Mädchen aus Hiroshima schrieben ihm: »Wir Mädchen sind zwar glücklicherweise dem Tod entkommen, aber durch die Atombombe haben wir Verletzungen in unseren Gesichtern und am ganzen Körper davongetragen. Nun hörten wir kürzlich, dass Sie nach dem Vorfall von Hiroshima mit einem Schuldgefühl leben und dass man Sie deshalb in ein Hospital für Geisteskranke gebracht hat. Dieser Brief kommt zu Ihnen, um Ihnen unsere aufrichtige Teilnahme zu überbringen und Ihnen zu versichern, dass wir jetzt nicht die geringste Feindseligkeit gegen Sie persönlich hegen … Wir haben gelernt, freundschaftlich für Sie zu empfinden in dem Gedanken, dass Sie ebenso ein Kriegsopfer sind wie wir. Wir wünschen, dass Sie sich bald erholen und sich denen anschließen, die sich dafür einsetzen, das barbarische Geschehen, Krieg genannt, durch den Geist der Brüderlichkeit zu überwinden!«

Dreißig Mädchen legen Hass, Feindseligkeit und Rachegefühle ab. Sie versöhnen sich mit einem Menschen, der unermessliches Elend über eine Stadt und ein Land mit einem Knopfdruck aus einigen Tausend Meter Höhe gebracht hat. Eartherly ist darüber verrückt geworden. Die Mädchen haben recht, nur die ausgestreckte Hand der Versöhnung beendet das barbarische Geschehen, den Krieg. Wer die Versöhnung in Christus annimmt, reiht sich ein in die Schar derer, die Versöhnung leben.

24. JANUAR

So bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott.

2. KORINTHER 5, 20

Versöhnung ist ein Urwort der Bibel und ein Kernwort der Reformation.

Der im Exil lebende ugandische Bischof Festo Kivengere, der das Buch »Ich liebe Idi Amin« geschrieben hat, erzählte in Zürich, dass er immer wieder von Journalisten gedrängt wurde, negative Aussagen über Idi Amin zu machen. Und er fuhr fort: »Ich habe jedoch als Christ keinen Auftrag zu verdammen. Ich habe den Auftrag zu versöhnen!« Die ganze Persönlichkeit dieses Bischofs ist geprägt von der Art jener Menschen, welche nicht nur »Vergebung sagen«, sondern das auch als Auftrag leben.

Idi Amin war in seinem Land ein Menschenverächter und Verbrecher. Der Bischof hat die Verbrechen hautnah erlebt und lässt sich dennoch nicht zu Rachegedanken verleiten. In der Tat: Wir haben keinen Auftrag zu verdammen. Wir haben den Auftrag, uns zu versöhnen. Versöhnte Menschen sind neue Kreaturen, neue Menschen. Sie sind nicht repariert, sie sind nicht renoviert, sie sind auch nicht restauriert, sie sind ganz neu geschaffen. Menschen werden aus der Egozentrik, aus der Mittelpunkthaltung herausgeholt und erfahren eine kopernikanische Wandlung.

Bischof Festo Kivengere macht nicht nur fromme Worte, er lebt die Versöhnung. Und mit welchen Menschen versöhnt sich Gott? Im Grunde sind wir Gottes Feinde. Aber Christus reicht uns, wer wir auch sind, die Hand der Versöhnung. Schlagen wir in die dargebotene Hand ein!

25. JANUAR

Denn wenn wir mit Gott versöhnt sind durch den Tod seines

Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wie viel mehr werden wir

selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind.

RÖMER 5, 10

Versöhnung ist das Gegenteil von Feindschaft. Versöhnung ist das Gegenteil von Hass. Versöhnung ist das Gegenteil von Zertrennung.

Ein schwarzer Pastor aus Tansania formulierte die Botschaft der Versöhnung so: »Ich möchte Ihnen an einem Bild zeigen, was Versöhnung bedeutet. Zeichnen Sie es doch mit Ihrem Herzen und Denken nach. In meiner Sprache, in Massai, hat das Wort ›Versöhnung‹ eine sehr tiefe Bedeutung. Im Bauch einer schwangeren Frau wächst ein Kind heran. Die Verbindung von Mutter und Kind, die Nabelschnur, heißt bei uns ›Osotwa‹. Dasselbe Wort wird gebraucht, wenn Menschen, die Feinde waren, sich versöhnen und zueinanderfinden. Die Nabelschnur sorgt dafür, dass das Kind Nahrung und Luft von der Mutter bekommt … Genauso ist es mit uns. Das Wort der Versöhnung, das Jesus Christus ist, ist diese Nabelschnur zwischen uns und unserem himmlischen Vater. Solange diese Nabelschnur uns verbindet, leben wir.«

Versöhnung ist Leben. Feindschaft, Tod und Trennung haben ein Ende. Versöhnung ist »Osotwa«. Wir brauchen diese geistliche Nabelschnur zum Vater, durch die unser Leben garantiert ist. Diese Nabelschnur wird durchschnitten, wenn wir anderen Menschen nicht vergeben, wenn wir Mauern aufrichten und Zwietracht säen. Wir zerreißen diese Nabelschnur zum Leben, wenn wir Kränkungen nachtragen, wenn wir die Hand zur Vergebung und Versöhnung ausschlagen.

26. JANUAR

Selig sind die Barmherzigen;

denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

MATTHÄUS 5, 7

Barmherzigkeit ist keine große menschliche Tugend. Sie ist ein Geschenk Gottes. Paulus nennt Gott sogar den »Vater der Barmherzigkeit«. Die Suren im Koran beginnen jeweils mit den Worten »Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers«.

Barmherzigkeit liegt uns nicht im Blut. Wir urteilen, kritisieren und verurteilen. Darum schreibt Kurt Marti in einem Gedicht mit dem Titel »Wünsche«: »Ach, dass ich, wenn´s drauf ankommt, im Gegner den Bruder, im Störer den Beleber, im Unangenehmen den Bedürftigen, im Süchtigen den Sehnsüchtigen, im Säufer den Beter, im Prahlhans den einst Gedemütigten, im heute Feigen den morgen Mutigen, im Mitläufer den morgen Geopferten, im Schwarzmaler den Licht- und Farbenhungrigen, im Gehemmten den heimlich Leidenschaftlichen erkennen könnte … Auch das, auch das gehört zur Liebe, wie Jesus sie lebte.«

Kurt Marti bringt die Sache auf den Punkt.

Wir sehen oft nur den Fehler und nicht die Not im Hintergrund.

Wir sehen die Sucht und nicht die Sehnsucht.

Wir sehen das Negative und nicht den Wunsch nach Veränderung.

Wir sind fehlerorientiert und nicht liebeorientiert.

Barmherzigkeit ist keine Tugend, die wir einfach nur aus der Anstrengung eines guten Willens erreichen können. Sie ist ein Geschenk des Heiligen Geistes. Wenn wir uns an Christus binden, ändert sich unser Denken, wir bekommen positive Augen. Wir sehen nicht mehr in erster Linie das Versagen, wir sehen die falschen Schritte eines unglücklichen Menschen.

Barmherzig ist, wer ein Herz hat für die Armen, für die Verwaisten und Unglücklichen, für die Einsamen und Bemitleidenswerten. Barmherzigkeit üben heißt aber auch, barmherzig mit uns selbst umzugehen.

27. JANUAR

Denn Christus ist mein Leben,

und Sterben ist mein Gewinn.

PHILIPPER 1, 21

Können wir diesen Satz glauben und mit Überzeugung sagen? Der ehemalige Hamburger Theologieprofessor Thielicke fasste unsere Vorbehalte und Zweifel in Worte: »Vielleicht werden wir einmal, wenn wir von Gottes Thron aus am Jüngsten Tag zurückblicken, voller Staunen und Überraschung sagen: ›Ja, wenn ich das geahnt hätte, als ich an den Gräbern meiner Lieben stand und alles zu Ende schien; wenn ich das geahnt hätte, als ich das Gespenst des Atomkrieges auf mich zukriechen sah; wenn ich das geahnt hätte, als ich vor dem sinnlosen Geschick einer endlosen Gefangenschaft oder einer tückischen Krankheit stand; wenn ich das geahnt hätte, dass Gott durch alle diese Wehen seine Entwürfe, seine Pläne vorantreibt, dass mitten in meinem Sorgen und Mühen und Verzweifeln seine Ernten reifen und dass alles auf seinen letzten königlichen Tag zutreibt und zudrängt – wenn ich das gewusst hätte, dann wäre ich stiller und getrösteter, ja, dann wäre ich wohl auch heiterer und von größerer Gelassenheit gewesen.‹«

Den Satz aus dem Philipperbrief möchte ich auch gerne ohne jegliche Einschränkung sagen können. Ich glaube an den Auferstandenen – und doch stellt diese irdische Welt noch viele Ansprüche und traktiert uns mit Skepsis und Bedenken, die unsere Gewissheit erschüttern. Helmut Thielicke hat recht, wenn er sich zu unserem Sprecher macht und unsere Zweifel und Fragezeichen formuliert. Zweifel machen unruhig, rauben unsere Heiterkeit und Gelassenheit. Zweifel lassen uns hektisch und geschäftig werden. Wir fliehen in die Zerstreuung. Wir verdrängen die Gedanken an Tod und Sterben.

Noch ist uns der Blick aus dem Raum der Ewigkeit verwehrt. Und doch machen wir die Erfahrung: Er ist unser Leben.

28. JANUAR

Als Johannes am nächsten Tag sah, dass Jesus auf

ihn zukam, sagte er: »Dieser ist das Opferlamm Gottes,

das die Schuld der ganzen Welt wegnimmt.«

JOHANNES 1, 29

Gott kann Schuld nicht einfach ignorieren. Seine Gerechtigkeit fordert Wiedergutmachung. Der amerikanische Prediger Josh McDowell veranschaulicht diese Gerechtigkeit Gottes anhand einer Begebenheit, die sich in Kalifornien zugetragen hat: Eine junge Frau wurde wegen eines Verkehrsdeliktes vor Gericht geladen. Der Richter verlas die Anklageschrift und fragte: »Erklären Sie sich schuldig oder nicht schuldig?« Die Frau bekannte sich schuldig. Der Richter fällte das Urteil. Es lautete auf hundert Dollar Geldstrafe, ersatzweise zehn Tage Haft. Doch dann geschah etwas Überraschendes. Der Richter erhob sich, legte seine Amtstracht ab, verließ seinen Platz, zog seine Brieftasche hervor und zahlte die Strafe. Wie lässt sich das erklären? Ganz einfach: Der Richter war der Vater der Verurteilten. Er liebte seine Tochter, war aber auch ein gerechter Richter. Seine Tochter hatte das Gesetz übertreten, und er konnte nicht einfach zu ihr sagen: »Weil ich dich liebe, verurteile ich dich nicht. Du kannst gehen.« Dann wäre er kein gerechter Richter gewesen, hätte sogar selbst das Gesetz gebrochen.

Die Bibel macht deutlich, dass wir alle gesündigt haben. Die Strafe für unsere Sünde ist der Tod, und Gott muss das Todesurteil verkünden. Aber seine Liebe zu uns ist so unvorstellbar groß, dass er seinen Sohn als Opferlamm ausgewählt hat, um die Sünde der Welt zu sühnen.

 

Der Ausdruck »Lamm Gottes« ist so wunderbar, dass er zu einem der kostbarsten Titel Jesu Christi wurde. In diesem einen Ausdruck ist alle Liebe, das ganze Opfer, das gesamte Leiden und der großartige Sieg Jesu Christi zusammengefasst.