Kleine Leute

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Über dieses Buch

Sie machten Furore, die Reportagen Meienbergs, erregten Aufsehen, wurden viel gelesen und diskutiert. Sie waren genau recherchiert, dramaturgisch sorgfältig gebaut und brillant geschrieben, ihr streitlustiges Engagement fuhr wie ein frischer Wind in den prätentiös-bildungsbürgerlichen Mief der Feuilletons, und bis heute haben sie ihre Frische bewahrt.

Der Inhalt dieses E-Books entspricht dem Kapitel «Kleine Leute» aus Band 2 der Reportagen, ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli, Limmat Verlag, Zürich 2000:

Jo Siffert (1936–1971)

Fritzli und das Boxen

Bleiben Sie am Apparat, Madame Soleil wird Ihnen antworten

Herr Engel in Seengen (Aargau) und seine Akkumulation

Frau Arnold reist nach Amerika, 1912

Die Aufhebung der Gegensätze im Schosse des Volkes

Überwachen & Bestrafen (II)

Der Garagefriedensbruch oder les mots et les choses

4.12.79 alte Kirche Wollishofen


Foto Roland Gretler

Niklaus Meienberg (1940–1993), Historiker, Schriftsteller und Journalist. Er erfand die Reportage neu und dichtete ungeniert mit dem überlieferten Material europäischer Lyrik. Mit seinen Texten zur Zeitgeschichte war er ein grosser Streiter, dessen «Sprachgewalt» auch seine Feinde bewunderten. Wie kein zweiter hat sich Niklaus Meienberg der Öffentlichkeit ausgesetzt, seine ganze Person hat er in seine Texte eingebracht, und mit seiner ganzen Person ist er für sie eingestanden.

Niklaus Meienberg

Kleine Leute

Ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli

Limmat Verlag

Zürich

Jo Siffert (1936–1971)

«Das Ganze ist das Wahre.»

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Siffert war ein Freiburger, Deutschfreiburger. Er hat sich als Freiburger gefühlt, war seiner Heimat zeitlebens verbunden, und heute, da er in die ewige Heimat abberufen worden ist, infolge Unglücksfalls, erkennt sich die «Berümbte Catholische Statt Fryburg» in ihrem Seppi wieder. Wer Siffert begreifen will, muss Freiburg kennen, mit allem Zubehör. Diese Stadt hat ihn produziert, und heute hängt er reproduziert in den Freiburger Spelunken, als Poster. Wir sind also gezwungen, zuerst ein Konterfei oder «Abconterfactur» von Freiburg zu skizzieren (wie es auf dem Freiburger Stadtplan aus dem 17. Jahrhundert heisst). Fribourg/Freiburg sampt seiner «Gelegenheit» (Umgebung), was uns bereits in den Spalten der «Freiburger Nachrichten» aufleuchtete. Der vorbildliche Seppi soll im Zusammenhang gesehen werden, eingebettet in seine Familie, sein Quartier, seine Schule, seine Klasse und Religion. Dann wird man sehen, warum er sich anders betten musste, als er ursprünglich lag, und warum es ihn auf allen Rennbahnen der Welt mit 300 und mehr Stundenkilometern im Kreis herumtrieb. Bis es in Brands Hatch dann an der falschen Stelle geradeausging, in der Kurve namens «Mike Hawthorn», und er mit den Rädern in der Luft zur Ruhe kam, am 24. Oktober 1971, weil die Schaltung klemmte. Bei der Abdankung kam das «Ave Verum» zur Aufführung.

Wahrhaftige und Eigentliche Abconterfactur der Berümbten Catholischen Statt Fryburg im Üechtland sampt ihrer Gelegenheit

Die Stadt Freiburg zerfällt in Unterstadt und Oberstadt. Aus der Oberstadt gelangt man mit einer Drahtseilbahn, dem Funiculaire, in die Unterstadt. Die Abwässer der Oberstadt füllen einen Behälter, welcher unter der Kabine angebracht ist, wodurch diese an Gewicht zunimmt und ihre Korrespondenzkabine in die Höhe zu ziehen vermag, sobald der Kabinenführer die Bremse lockert. In der Unterstadt werden die Abwässer entleert, und dadurch erfolgt eine solche Erleichterung, dass es dank der abermaligen Beschwerung der Schwesterkabine mühelos in die Höhe geht. Auf diese Weise lassen die barmherzigen Einwohner der Oberstadt die Mitbürger in der «basse ville» schon seit Jahrzehnten an ihren Exkrementen profitieren. Und diese Energiequelle gestattet einen bescheidenen Fahrpreis, dem schmalen Einkommen der Unterstädtler angepasst.

In der «basse ville» hat man einen guten Blick auf den Turm der Kathedrale St. Nicolas, mit seinen Leitflossen eine Freiburger Variante der Weltraumraketen von Cape Kennedy. Der Blick aus der Unterstadt schweift auch hinauf an die Häuserzeile der Grand’Rue (Reichengasse), welche hart am Abgrund gebaut ist. Dort wohnten früher, und teils heute noch, die führenden Familien der Fribourgeoisie und hatten eine befriedigende Aussicht auf das Niedervolk der Unterstadt. Dieses Volk kann auch den Berg hinauf zur Loreto-Kapelle pilgern und von dort weiter zur Muttergottes von Bürglen/Bourguillon und dort seine Gebresten heilen lassen. Auch in der Kirche der Kapuzinerinnen von Montorge kann gebetet werden oder bei den Zisterzienserinnen in der Mageren Au, welche Hostien backen und vier Arten von Likör destillieren, oder in der Augustiner-Kirche oder der Johanniter-Kirche. Trinken kann die Bevölkerung im Soleil Blanc, Ours, Paon, Trois Rois, Cigogne, Tanneur, Tirlibaum, Fleur de Lys und so weiter. Und zwar einheimisches Bier aus der Brauerei Cardinal oder Beauregard. Der Name Fleur de Lys bringt die traditionell guten Beziehungen zwischen Freiburg und Frankreich zum Ausdruck, Frankreichs Bourbonen-Lilien im Wirtshausschild. Die Söldner aus Freiburg taten sich stets in französischen Diensten hervor. Als Ludwig XVI. schon längst nicht mehr auf seine einheimischen Soldaten zählen konnte, blieb ihm noch das Schweizergarderegiment, welches ihn im Juli 1792 vor seinem Volk schützte. Der Oberkommandierende war ein Freiburger, Graf Louis Augustin d’Affry, Grosskreuz des St. -Ludwig-Ordens, Ritter des Ordens vom Heiligen Geist, und drei der vier Bataillone wurden von Freiburgern geführt. Das Kanonenfutter kam aus den untern Schichten, die Kommandostellen waren von Adligen besetzt. Für die Unterprivilegierten von damals die gängige Art, sich ausbeuten zu lassen. Für die herrschenden Familien eine Möglichkeit, am französischen Hof das Regieren zu lernen und von königlichen Pensionen zu leben. Seit die Leichen der Freiburger Söldner nackt und verstümmelt auf den Pariser Plätzen gezeigt wurden, nach der Erstürmung des Tuilerienpalastes, spürt man in Freiburg Angst vor revolutionären Bewegungen in Frankreich. So erklärte die freiburgische Kantonsarchäologin Hanni Schwab dem «Blick»: «Was die Studenten in Frankreich gemacht haben, war einfach schlimm. Ich würde von der Regierung verlangen, dass sie abstellt, was in irgendeiner Form Schaden bringt, z.B. Unterrichtsstörung. Besonders, wenn von aussen gelenkt. Wenn die Störer nicht gutwillig zum Aufhören gebracht werden, muss Gewalt angewendet werden. Dazu haben wir Polizei. Und wozu haben wir die Armee?» Reaktionäre und Monarchisten haben schon immer in Freiburg Asyl gefunden, führende Terroristen der oas zur Zeit des Algerienkrieges, der in Frankreich als Kollaborateur verurteilte ehemalige Direktor der Nationalbibliothek (Faÿ) und neulich Hunderte von südvietnamischen Studenten, welche ihr Familienvermögen in die Schweiz transferieren und in Sportwagen anlegen. Ein Professor aus Nanterre ist als Lehrbeauftragter an der Universität installiert – in Freiburg kann er noch in aller Ruhe dozieren (Yves Bottineau).

*

Während die Oberschicht auf diese Weise ihren Kontakt mit dem reaktionären Teil Frankreichs über die Jahrhunderte hinweg pflegte, blieb dem arbeitenden Volk Freiburgs nach dem Absterben des Söldnerwesens nicht einmal die Möglichkeit, sich als Maschinenfutter verheizen zu lassen und dementsprechend ein neues Klassenbewusstsein zu entwickeln. Denn die herrschenden Familien lebten auch im 19. Jahrhundert weiterhin auf ihren Landgütern und in ihren Stadtpalais, verpachteten ihre Latifundien und bezogen Grundrente. Nur ganz wenige begriffen, dass Machtausübung in der Industriegesellschaft identisch war mit dem Besitz von Produktionsmitteln. Die seltenen Fabriken, welche sich etablierten, wurden meist von nichtfreiburgischem Kapital beherrscht. Industrie war dem Freiburger Patriziat schon deshalb nicht geheuer, weil es ein Proletariat erzeugt, welches ihrer Kontrolle entgleiten könnte. So wanderte die überschüssige Landbevölkerung aus, in industrialisierte Kantone, aber auch bis nach Brasilien, wo ein «Nova Friburgo» entstand. Die herrschende Minderheit von Patriziern und Aristokraten behauptete unterdessen ihre Macht dank drei konservativen Gewalten: den Zeitungen «Liberté» und «Freiburger Nachrichten», der vom Klerus geleiteten konfessionellen Schule und dank der Kirche im allgemeinen, welche in Freiburg bis in die letzten Jahre alle Lebensäusserungen zu beherrschen schien. Freiburg, und besonders auch seine Universität, war denn auch bis vor kurzem ein Treibhaus für ständestaatliche Ideen (Bundesrat Musy, Gonzague de Reynold) und ein Hort der theologisch-philosophischen Reaktion, wo die thomistischen Dominikaner ihre letzten Rückzugsgefechte liefern. Die Kader des politischen Katholizismus, kaum den Klosterschulen entwachsen, wurden hier geschult und in den Studentenverbindungen dressiert (von denen heute nur mehr die Neuromania, genannt Neuro-Mania, in alter burschenschaftlicher Blüte steht, in vollem Braus und Suff, mit Zotenabend, Stammbuch, Altherren, Füchsen, Ehrendamen, Trinksprüchen und langen Trinktouren in der Unterstadt, welche «grosser Rosenkranz» oder «kleiner Rosenkranz» genannt werden).

Während die Universität die Stadt Freiburg zu einem Zentrum des nationalen und internationalen Katholizismus machte und eine konservative Elite züchtete, wurde die Erziehung der breiten Massen vernachlässigt. Noch im Jahr 1970 konnten nur 50 Prozent der Sechstklässler eine Sekundarschule oder ein Gymnasium besuchen. Hingegen zieht eine Anzahl von Instituten mit internationaler Besetzung und religiöser Direktion immer noch diese seltsame Fauna von höhern Töchtern nach Freiburg, welche von ihrer Familie in eine gutkatholische Umgebung geschickt werden. Und auch die Flora der buntbewimpelten Orden ist noch präsent, wenn auch mit rückläufiger Tendenz: die Väter vom Heiligen Sakrament, Redemptoristen, Salvatorianer, Salesianer, Palottiner, Marianhiller, Marianisten, Weissen Väter, Kleinen Brüder vom Evangelium, Gesellschaft vom Göttlichen Wort, Missionare von Bethlehem.

 

Also immer noch: «Freiburg, das Schweizer Rom, Pfaff an Pfaff und Dom an Dom», wie Gottfried Keller sagte? Nicht mehr ganz. Zwar gibt es noch den «Cercle de la Grande Société» an der Reichengasse, welcher nur Patrizier und Aristokraten aufnimmt, einen Lesezirkel der Guten Gesellschaft, wo die de Weck, de Diesbach und von der Weyd Bridge spielen und ihre Töchter verkuppeln. Zwar gibt es immer noch konservative Ideologen an der Universität, wie den pechraabenschwarzen Historiker Raab oder den Pädagogikprofessor Räber, welcher den Begriff der Autorität so definierte: Sie sei etwas Gegebenes, dem man sich füge, eine Befehlsvollmacht, die an ein Amt gebunden sei, denn nur Macht könne das Gute durchsetzen, etwas Angeborenes, das man nicht beschreiben könne, das von innen herausstrahle.

*

Soweit der Hintergrund, vor welchem sich die Biographie des Seppi Siffert entfaltet. Ein Leben in Freiburg im Üechtland, wo das Konservatorium gleich neben dem Schlachthaus steht: Sonaten und Präludien begleiten die Tiere auf ihrem letzten Gang. Der Friedhof liegt nahe beim Sportstadion. In der Unterstadt wird das Proletariat langsam von Künstlern und Studenten verdrängt. Unvergessliche Menschen wohnen dort, wie jener Jacob Fleischli, cand. phil. und Tristanforscher, der sich regelmässig am Freitagnachmittag von seinen Büchern fortstiehlt und im Schlachthof als Pferdemetzger arbeitet, mit seiner blutbespritzten Schürze. Oder jener Jean-Maurice de Kalbermatten, dessen Schwester eine Nebenbeschäftigung als Leichenwäscherin gefunden hat, obwohl sie hauptamtlich Sekundarlehrerin ist.

Ein kleines Frankreich mitten in der Schweiz, dieser Staat Freiburg. Frankreich im Jahr 1788. Eine Revolution hat hier noch nicht stattgefunden, nur die Bauernrevolte des Nicolas Chenaux, 1781, schnell abgewürgt, sein Kopf wurde auf der Porte de Romont ausgestellt. Was in Frankreich die Bretagne, ist im Staate Freiburg der Sense-Bezirk (zum Teil auch der See-Bezirk). Eine sprachliche Minderheit, welche von der französischsprachigen Mehrheit oft wegwerfend behandelt wird. Daher vielleicht der Drang vieler Sensler nach Anerkennung und ihr Hang zur Hyperintegration. Der Chefredaktor der «Freiburger Nachrichten» ist Sensler, auch Seppi Siffert ist Sensler. Die Französischfreiburger haben eine Tendenz, sich als Staatsvolk und Kulturvolk zu betrachten, sie verlangen von den Deutschfreiburgern die Beherrschung des Französischen, können sich aber auf deutsch kaum ausdrücken. Ein Staat mit 200'000 Einwohnern, 40'000 davon in Freiburg. Ein derart gutes Musikkorps, «Landwehr» genannt, dass es sich der Schah von Persien nicht nehmen liess, die Feste in Persepolis von Landwehrklängen begleiten zu lassen. Die ganze Musik war nach Persien geladen. In der «Liberté» stand: «Une merveilleuse aventure au pays du Shah.» Wenn man nicht mehr an den Hof von Louis XVI kann, dann wenigstens an den Hof des Grosstürken. Eine Verwandtschaft mit Frankreich auch in bezug auf Mythenbildung: dort de Gaulle als Kristallisationspunkt der frustrierten Massen, hier Jo Siffert. Beide kompensieren eine Unterentwicklung, beide Mythen werden von den Herrschenden manipuliert. Beide sind mit katholischer Kultur gedüngt worden. Und genau wie bei de Gaulle ist auch Jo Siffert die Realität nur noch schwer von der Legende zu unterscheiden. Aber einige Lebensdaten kann man im jetzigen Stadium der Mythenbildung doch noch festhalten. Teilansichten von Jo Siffert, aufgezeichnet bei Gesprächen mit Mama Siffert, Papa Siffert, dem Mechaniker Oberson, der Freundin Yvette, dem Freund Bochenski, der Primarlehrerin, dem Lehrmeister Frangi, dem Schuhmacher Salvatore Piombino. Leider konnte ich nicht mit Bischof Mamie sprechen. Ich hätte gern von ihm gewusst, ob er sich als Verwalter der eigentlichen Religion bedroht fühle, wenn die klassischen Andachtsformen vom Siffert-Kult verdrängt werden. Bischof Mamie sagte mir fernmündlich, er antworte nur auf schriftlich formulierte Fragen und möchte auf jeden Fall den Artikel vor der Publikation noch sehen, zwecks Korrektur.

Mutter Siffert, geb. Achermann

Mama Siffert in ihrem Eigenheim bei Freiburg. Gleich im Vestibül ein Siffert-Plakat, eingerahmt von zwei brennenden Kerzen, ein Heiligenbild. In der Stube die Trophäen vieler Siege. Ein Wechselrahmen, darin ein Artikel aus dem «Blick»: «Mama Siffert ist stolz auf ihren Sohn.» Sie kennt sich aus mit Formel-I- und Formel-II-Wagen, mit Prototypen, Porsches und Alfa Romeos. Wenn sie von den Trophäen spricht, sagt sie: Als ich den Preis gewann. Frau Siffert ist gebürtig aus Willisau, wo sie ihren Mann kennenlernte. Kurz nach der Heirat liess sich Fam. Siffert-Achermann in der Unterstadt nieder, in dem Teil, der früher «Tanzstadt» hiess, neben dem Restaurant «Tirlibaum» an der Place Petit St-Jean. Dort betrieben sie ein Milchgeschäft, zwei Jahre, es rentierte nicht. Seppi kam dort zur Welt. Der Vater sei bald keiner geregelten Beschäftigung mehr nachgegangen, entmutigt vom Misserfolg des Milchladens. Ein darauffolgender Mineralwasserhandel habe auch nicht recht funktioniert. So habe sie in der Schokoladenfabrik Villars gearbeitet, auch als Seppi schon erwachsen war, und sei vor Müdigkeit oft mit den Fingern in der Schokolade steckengeblieben (600 Franken im Monat). Auch habe sie für 1.10 Franken pro Stunde die Räume der Universität geputzt. Dazu noch der Haushalt mit den vier Kindern (Seppi und drei jüngere Schwestern). Eine Zeitlang hat ihr Seppi beim Lumpensammeln geholfen, «id Hudle gange», und später haben die beiden Narzissen verkauft an der Reichengasse. «Mein Mann hat Seppi sehr streng gehalten, um 18 Uhr musste er zu Hause sein, auch sommers.» Die Ehe war nicht harmonisch, die Gatten leben heute getrennt. Bei den familiären Auseinandersetzungen scheint Seppi immer die Partei der Mutter ergriffen zu haben. Sie hat es ihm vergolten durch intensive Förderung seiner Rennkarriere. Als er noch keinen Namen hatte, fuhr sie mit ihm quer durch Europa an die verschiedenen Rennplätze und besorgte ihm den ambulanten Haushalt, zusammen mit Yvette, seiner ersten Freundin. Seppi war auf Sparsamkeit angewiesen, hatte im Gegensatz zu fast allen Rennfahrern kein Startkapital und keinen reichen Vater. Frau Siffert wusste, wie gefährlich die Rennen sind, sie hat deshalb ihren Sohn immer ermahnt, bei besonders schwierigen Stellen zu beten. Sie glaubte ihn durch eine besondere Fürsprache des Himmels geschützt, hatte kaum je Angst, auch nicht nach dem Renntod von Jim Clark und Jochen Rindt. «Siehst du, Mama», habe ihr Seppi auf dem Nürburgring einmal gesagt, «heute in dieser besonders schwierigen Kurve habe ich nicht an den Tod gedacht, sondern an einen Wagen, den ich besonders günstig zu verkaufen hoffe.» Die Familie habe zwar manchmal gedarbt, aber nie gebettelt; Vikar Moser von St. Peter habe ein Erstkommunionkleid für Seppis Schwester schenken wollen, aber das hätten sie nicht akzeptiert. Seppi habe unter einem brutalen Primarlehrer gelitten, «war oft wie im Schneckenhaus, hat es auch mit dem Vater nicht leicht gehabt». Als er zu Frangi (Unterstadt, Nähe Gaskessel und Gefängnis) in die Lehre ging, hat er abends schwarz gearbeitet, so dass die Nachbarn wegen Nachtlärm klagten. Der Polizist, welcher die Sache untersuchte, sagte abschliessend: Da kann man nichts machen, man muss dankbar sein, wenn ein Jüngling so viel Fleiss zeigt, auch nachts. Der Fleiss ist so selten bei den Jungen! Mit Seppis sukzessiven Frauen scheint Mama Siffert keine schlechten Beziehungen gehabt zu haben. Nur vermochte sie sich nie recht an das bourgeoise Milieu von Seppis letzter Frau Simone, der Tochter von Bierbrauer Guhl (Brasserie Beauregard), zu gewöhnen. Mit Yvette, der Tochter aus dem Volk, ging es besser. Yvette war die erste Freundin, aus der «basse ville» stammend, Seppi lebte ohne Formalitäten mit ihr zusammen. Nach den ersten Erfolgen in England lernte er das Mannequin Sabine kennen, das er zivil heiratete. Und als der ganz grosse Ruhm einsetzte, da kam auch die Bierbrauerstochter Simone, welcher er zivil und kirchlich angetraut wurde. Einerseits die Simone Guhl von der Brasserie Beauregard, andererseits der Paul Blancpain von der Brasserie Cardinal, welcher die gutgehende Garage neben dem Bahnhof für Seppi in Schwung hielt: In Freiburg entgeht man den Bierbrauern nicht. Arbeitsbeschaffung für die Proleten in der Unterstadt, welche sich nach Feierabend vom gleichen Bier benebeln lassen, das sie tagsüber produzieren. Beauregard und Cardinal bilden heute mit Wädenswil, Salmen et cetera eine Holding, welche den Markt in einzelne Kuchenstücke aufteilt. Zuvor hatte Beauregard einen Umsatz von 13 Millionen Franken und einen Ausstoss von 160'000 Hektolitern. Einheirat in die wirtschaftlich herrschenden Kreise Freiburgs: Es war dem Seppi nicht an der Wiege gesungen. Aufstieg von den Untern zu den Obern.

Herr Alois Siffert, Vater

Alois Siffert raucht dicke Zigarren, fährt Mercedes und packt mich zur Bekräftigung seiner Aussagen immer wieder am Arm. Er könnte aus der Dreigroschenoper stammen, ist aber tatsächlich aus Liebistorf im Sensebezirk gebürtig (einer Landschaft mit vielen schönen Dörfernamen: Lustorf, Wünnewil zum Beispiel). Alois, 1910 geboren, musste auswandern, der Hof produzierte nur genug für eines der fünf Kinder. Als Käser im Luzernischen, Verdienst 25 bis 30 Franken pro Monat. Die Eltern streng konservativ, sparsam, Butter nur an Sonntagen. Als Alois aus dem Luzernischen zurückkam, mit etwas weniger konservativen Ideen, und er vor den Wahlen politisieren wollte, sagten ihm die Eltern: «Lis d’Friburgere (= «Freiburger Nachrichten»), da steht drin, wie du stimmen musst.» Als er heiratete, sagte der Pfarrer: «Man glaubt es kaum, dass du einen protestantischen Meister hattest, bis noch gut katholisch.» Die Frau brachte eine Aussteuer in die Ehe. Der Milchladen ging bankrott, weil die Arbeiter nicht zahlen konnten und monatelang aufschreiben liessen. In Spanien war der Bürgerkrieg, in Freiburg herrschte Staatsrat Piller, in der Unterstadt darbten die Arbeiter und Siffert mit ihnen. Dann der Weltkrieg, Aktivdienst, 1400 Diensttage, im Urlaub eine Vertretung für Henniez-Mineralwasser. Dann der Bub. Seppi war 1936 «struppiert» zur Welt gekommen (Sensler Dialekt, abgeleitet vom französischen estropié = verkrüppelt). Alois hat keine Kosten gescheut, damit der krumme Fuss wieder normal wüchse. Als Seppi 1952 die Karosseriespenglerlehre begann, wechselte auch Alois vom Mineralwasser zu den Unfallwagen über. Er kauft den Versicherungen und Garagen preiswerte Unfallwagen ab (Einzugsgebiet Westschweiz), lässt sie von Seppi ein bisschen ausbeulen und verkauft sie (Absatzgebiet Aargau/Zürich) an Garagisten, manchmal mit einem Reingewinn von 4000 Franken pro Wagen, innerhalb von 48 Stunden. Seppi kann sich ein Motorrad kaufen, fährt sein erstes ausländisches Rennen in Karl-Marx-Stadt, Ostdeutschland. Aus Karl-Marx-Stadt brachte Seppi ein Tafelservice für zwölf Personen zurück. Und so sei es aufwärtsgegangen mit Seppi, immer schneller, in den letzten drei Jahren hätte er mindestens zwei Millionen pro Jahr verdient, ein Herr Maerkli von der Ziegelei Düdingen habe ihn bei seinen Investitionen beraten. Wenn Seppi kein Testament hinterlasse, erbe seine Witwe das ganze Vermögen, etwa acht Millionen.

«Ist es nicht traurig, dass er jetzt sterben musste, wo er sich in Posieux eine neue Villa bauen liess, für eine gute Million, und wo der Renditenbau an der Rue de Romont jeden Tag so schön wächst», sagt Alois Siffert. Die Büros sind zum voraus vermietet, und kurz vor seinem Tod hat man ihm noch einen zusätzlichen Stock bewilligt. 5,5 Mio. hat der Bau gekostet, 2,5 Mio. als erste Hypothek. Büros und Läden. Direktor Musy vom Schweizerischen Bankverein hat sich bei der Schweizerischen Volksbank dafür verwendet; der Kredit wurde bald bewilligt. Ist es nicht traurig, dass er gerade jetzt sterben musste?

Josephine Huber, pens. Lehrerin

«O Gott, du hast in dieser Nacht/So väterlich für mich gewacht,/Bewahre mich auch diesen Tag/vor Sünde, Tod und jeder Plag», wurde bei der Primarlehrerin J. Huber im Burgschulhaus, beim Schlachthaus, jeden Tag gebetet. Es wurden auch Schulwallfahrten nach Bürglen veranstaltet. Seppi hat die erste und zweite Klasse bei Josephine Huber besucht, 1941–1943. Er sei grad so knapp durchgekommen in der Schule, habe nie aufgemuckt, sich immer beim grossen Haufen befunden. Ein Träumer, wenn sie ihn aufrief, sei er immer leicht erschrocken. Die Leute aus der Unterstadt, sagt sie, das war ziemlich hoffnungslos. Die meisten stammten vom Land, aus kinderreichen Familien, es gab keine Geburtenbeschränkung. Taglöhnerfamilien, in die Stadt ausgewandert. Die Pfarrer gaben Almosen oder schickten sie nach Freiburg. Die Unterstadt war damals voll von Läusen, Flöhen, Ratten, Alkoholikern. Das Gaswerk ist dort und das Gefängnis. Alles, was man aus der Oberstadt entfernen wollte, stopfte man in die Unterstadt. Im Auquartier wohnten die Sensler, die waren unpolitisch und tranken dafür, in der Neuveville wohnten die welschen Arbeiter – ein richtiges Sozialistennest, da wurde politisiert und gegen die Reichen gehetzt. Arbeiten konnte man in der «Dreckfabrik» (Düngerfabrik), in der Schokoladefabrik Villars, in den Brauereien. Die Patrizier und reichen Bürger haben sich aber immer christlich um die armen Unterstädtler gekümmert. Natürlich sind die de Maillardoz, de Weck, Guhl und so weiter nicht persönlich in die «basse ville» hinuntergestiegen, aber sie haben den Leuten von der Vinzenzkonferenz Geld gegeben; das waren Leute aus dem Mittelstand, die haben den Armen dann Almosen gebracht. Aber trotz der Wohltätigkeit wollten die Armen nicht aus ihrem Sumpf heraus, der Alkoholismus ging nicht zurück. Ein reicher Freiburger habe testamentarisch eine Summe für die Anschaffung von Holzschuhen für die Kinder hinterlassen (sogenannte Schlorgge). Auch die Schulsuppe, Holz und Kartoffeln seien gespendet worden. In ihrer Klasse sei Seppi durch Sauberkeit aufgefallen. Arm und geflickt, aber sauber! Einfluss der Mutter. Manche Kinder aus der Unterstadt seien verlaust und mit Schorf zur Schule gekommen, in den Schulheften fand sie Läuse. Vernachlässigt wie streunende Hunde waren die Kinder aus der Unterstadt, mit wenigen Ausnahmen. Seppi sei dann in der 3. Klasse zu Herrn K. gekommen, der ihn oft geschlagen habe, und später zu Herrn A., ebenfalls rabiat.

 

Herr C. Frangi, Karosseriespengler

Der Lehrling benötigt folgendes persönliches Werkzeug: 1 Doppelmeter, 1 Bleistift, 1 Notizbüchlein. Besondere Regelungen: Aufräumen nach Arbeitsschluss. Als freie Tage im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen gelten alle katholischen Feiertage sowie Karfreitag, Ostermontag, Pfingstmontag. Der Lehrling erhält für seine Arbeitsleistung folgenden Lohn: 1. Lehrjahr per Stunde Fr. –.40; 4. Lehrjahr per Stunde Fr. –.65/–.70.

So und ähnlich lautet der Lehrvertrag zwischen dem Karosseriespengler Frangi und dem Lehrling Josef Siffert, Sohn des Alois, gültig von Mai 1952 bis Mai 1956. Frangi sagt: Ich war meinen Lehrlingen eine Art Vater. Die waren so unkultiviert. Musste ihnen beibringen, dass man das Messer in der rechten und die Gabel in der linken Hand hält. War streng, aber gerecht. Habe gewusst, dass Siffert Schwarzarbeit macht, liess ihn aber gewähren. Hat ein schönes Begräbnis gehabt, nur das von General Guisan hat mir noch besser gefallen. Hat mir 14 Tage vor seinem Tod noch das Du angetragen. Und immer, wenn ich ihm begegnete, grüsste er freundlich. Ist ein einfacher Mensch geblieben. Hat sich nie gegen mich aufgelehnt, immer seine Arbeit gewissenhaft gemacht. Er war ein einfacher Mensch, hat nie geblufft wie sein Vater. Seppi hat seine Familie aus dem Dreck gezogen. Bei mir unten hat er auch die Yvette kennengelernt, sie wohnte gegenüber dem Atelier.

Aufnahmeprüfung bei Frangi. Siffert musste 20 Fragen beantworten, eine Frage nach dem höchsten Punkt der Schweizer Geographie und eine Frage nach dem höchsten Punkt der politischen Landschaft (Dufour Spitze und Bundespräsident Etter).

Yvette P.

Sifferts Jugendfreundin Yvette P. hat die schwierigen Anfänge des Rennfahrers Siffert miterlebt und miterlitten, beobachtete die Entwicklung des Vornamens: Aus dem senslerischen Seppi wurde ein französisch oder welsch angehauchter Joseph, zurechtgestutzt für den linguistischen Gebrauch der Oberstadt, und aus Joseph wurde Jo, was auf französisch und englisch ebenso gängig ist. Yvette hat auch der Metamorphose beigewohnt, welche Seppis Charakter nach den Formel-I-Erfolgen durchlief. Ein ganzer Weibertross sei ihm da plötzlich auf den Fersen gewesen, und all die aktiven Freunde, Paul Blancpain und ähnliche Leute aus der guten Gesellschaft; Paul Blancpain, welcher früher die Kirchen des Freiburger Architekten Dumas in Frankreich verkauft habe, wollte jetzt Siffert verkaufen.

Seppi sei wenn immer möglich vor den Rennen zur Messe gegangen, während sie, Yvette, eigentlich nur an die Muttergottes glaube und deshalb in Bourguillon ihre Opferkerzen entzündete. (Im Restaurant neben der Wallfahrtskirche hängt heute ein Andachtsbild von Seppi.) In der Nacht vor Seppis Tod nahm sie das Unglück im Traum voraus. Und am Unglückstag, um 14.40 Uhr, hatte sie den Eindruck, als ob Seppi sie riefe.

Yvette ist verheiratet, mit einem Baumeister, der mindestens so gefährlich lebt wie Siffert. Sie hat Kinder und wohnt immer noch in der Unterstadt. Den Siffert-Kult findet sie lächerlich. «Er war vielleicht ein ausserordentlicher Typ, aber ein Held war er nicht.»

Bochenski, Freund

Als Siffert zur Prominenz gehörte, machte er nicht nur Reklame für Marlboro, Bio-Strath und Chronometer-Heuer, verdiente er nicht nur mit Porsche- und Alfa-Romeo-Prototypen und mit Alfa- und Porsche-Vertretung und ebenfalls im Rennstall von BRM (= British Racing Motors), frequentierte er nicht nur jene höhere Tochter (Simone Guhl), bewohnte er nicht nur eine Villa in Belfaux, sondern hatte auch Freunde, die seinem Lebensstandard entsprachen, nämlich Niki de Saint-Phalle und Jean Tinguely und den Eisenplastiker Luginbühl und sogar den Hochleistungsphilosophen Joseph Bochenski von der Universität Freiburg. Die beiden ergänzten sich sehr schön, der Dominikanermönch mit dem Raubvogelprofil und der philosophische Sensler mit seinem Todestrieb. Während Siffert den Freiburger Kantonalrekord im Geldscheffeln hielt, fährt Bochenski in Rekordzeit mit einem Jaguar E-Type von der Universität Freiburg ans Ost-Institut in Köln. Während Seppi dem Freiburger Kapitalismus auf die Beine hilft, gibt Joseph dem Kommunismus in der Bundesrepublik Deutschland den Gnadenstoss (er wurde von der Adenauer-Regierung zum Thema Kommunismus konsultiert und glaubt, das Kommunistenverbot sei auf seinen Ratschlag zurückzuführen). Während Siffert von Rennen zu Rennen fliegt, huscht Bochenski von Vorlesung zu Vorlesung, von Symposium zu Seminar. Der eine besucht des andern Rennstall, der andere des einen Universität. 1964 lädt Rektor Bochenski den Siffert als Ehrengast an den Dies academicus, an die gleiche Universität, wo seine Mutter noch für Fr. 1.10 Stundenlohn putzte. 1963 will Siffert dem Bochenski einen Aston-Martin andrehen, Bochenski merkt aber, dass es sich um einen Unfallwagen handelt.

Der Mönch Bochenski lebt in evangelischer Armut, darf aber alles haben, was er zum Leben braucht. Dazu gehören auch schnelle Autos und ein Flugbrevet, das er mit 70 Jahren noch absolviert hat. «Siffert ist ein Genie des Steuerrads. Während ich mit 100 in eine scharfe Kurve gehe, nimmt Siffert sie mit 130.» Die Rennfahrer geben ihr Leben hin für die normalen Autofahrer: all die technischen Verbesserungen, die wir ihnen zu verdanken haben! Als Bochenski 1918 seinen ersten Wagen fuhr, zur Zeit, als er noch Bierbrauer war, vor seiner Konversion, welche er mit 26 Jahren vollzog, als er noch in Polen residierte und als Kavallerist die Reiterarmee des russischen Generals Budjonny bekämpfte – zu jener Zeit also waren die Autos noch nicht perfekt, die ständigen Reifenpannen ärgerten ihn. Nur durch den Hochleistungssport sind die Autos unterdessen besser geworden, meint Joseph Bochenski op, ex ordine praedicatorum, der Dominikaner aus dem Prediger-Orden.

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