Schreiben

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Über dieses Buch

Sie machten Furore, die Reportagen Meienbergs, erregten Aufsehen, wurden viel gelesen und diskutiert. Sie waren genau recherchiert, dramaturgisch sorgfältig gebaut und brillant geschrieben, ihr streitlustiges Engagement fuhr wie ein frischer Wind in den prätentiös-bildungsbürgerlichen Mief der Feuilletons, und bis heute haben sie ihre Frische bewahrt.

Dieses E-Book enthält die Texte zum Thema «Schreiben» aus Band 1 der Reportagen, ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli, Limmat Verlag, Zürich 2000:

Inhalt

Wer will unter die Journalisten?

Leichenrede für den Journalisten Peter Frey oder Plädoyer für ein verschollenes métier

Von unserem Pariser Korrespondenten (statt eines Vorworts)

Auf einem fremden Stern, 1983

Schwirrigkeiten des Bluck mit der Wirklklichkeit

Eine Adventsansprache, gehalten vor den Mitgliedern des Art Directors Club Zürich, der Dachorganisation für Reklamiker, am 12. Dezember ’88

Positiv denken! Utopien schenken!

Mut zur Feigheit. Ein offener Brief an Salman Rushdie

Zürich–Sarajevo. Offener Brief an den Chefredakteur von «Oslobodjenje» und sein Redaktionsteam

Gefühle beim Öffnen der täglichen Post und Hinweis auf das «Interstellar Gas Experiment»

St.Galler Diskurs bei der Preisübergabe


Foto Roland Gretler

Niklaus Meienberg (1940–1993), Historiker, Schriftsteller und Journalist. Er erfand die Reportage neu und dichtete ungeniert mit dem überlieferten Material europäischer Lyrik. Mit seinen Texten zur Zeitgeschichte war er ein grosser Streiter, dessen «Sprachgewalt» auch seine Feinde bewunderten. Wie kein zweiter hat sich Niklaus Meienberg der Öffentlichkeit ausgesetzt, seine ganze Person hat er in seine Texte eingebracht, und mit seiner ganzen Person ist er für sie eingestanden.

Niklaus Meienberg

Schreiben

Ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli

Limmat Verlag

Zürich

Wer will unter die Journalisten?
Eine Berufsberatung 1972

Da ist einer jung, kann zuhören, kann das Gehörte umsetzen in Geschriebenes, kann auch formulieren, das heisst denken, und denkt also, er möchte unter die Journalisten. Er hat Mut, hängt nicht am Geld und möchte vor allem schreiben.

Er meldet sich auf einer Redaktion. Erste Frage: Haben Sie studiert? (Nicht: Können Sie schreiben?) Unter Studieren versteht man auf den Redaktionen den Besuch einer Universität, wenn möglich mit sogenanntem Abschluss, oder doch einige Semester, welche den akademischen Jargon garantieren. Hat der Kandidat nicht «studiert», aber doch schon geschrieben, so wird ihm der abgeschlossene Akademiker vorgezogen, der noch nicht geschrieben hat. Eine normale Redaktion zieht den unbeschriebenen Akademling schon deshalb vor, weil er sich durch eigenes und eigensinniges Schreiben noch keine besondere Persönlichkeit schaffen konnte. Er ist unbeschränkt formbar und verwurstbar. Er hat auf der Uni gelernt, wie man den Mund hält und die Wut hinunterschluckt, wenn man dem Abschluss zustrebt. Er ist besser dressiert als einer, der sofort nach der Matura oder Lehre schreibt. Er hat die herrschende Kultur inhaliert, der Stempel «lic. phil.» oder «Dr.» wird ihm aufgedruckt wie dem Schlachtvieh. Er ist brauchbar. (Damit soll nicht behauptet werden, dass die Autodidakten in jedem Fall weniger integriert oder integrierbar sind. Oft schielen sie gierig nach den bürgerlichen Kulturinstrumenten und haben nichts Dringenderes zu tun, als das Bestehende zu äffen.)

Nehmen wir an, der junge Mann hält jetzt Einzug auf einer Redaktion. In grossen Zeitungen wird er zuerst durch die einzelnen Abteilungen geschleust, damit er einen Begriff vom Betrieb hat. Bald darf er redigieren, das heisst nicht schreiben, sondern das Geschriebene verwalten. Er wird mit dem Hausgeist vertraut. Er lernt die Tabus kennen und das Alphabet der Zeitungssprache. Er sieht, dass die Bombardierung der nordvietnamischen Zivilbevölkerung nicht «verbrecherisch», sondern «bedenklich» genannt wird. Er merkt, dass der Stadtpräsident nicht eine «Hetzrede» gegen die APO* * So wurden in den sech­ziger Jah­ren die Leute genannt, welche offen demons­trierten, was andere inwendig fühlten. Die Abkürzung bedeutet: Ausser­par­lamen­tari­sche Op­po­si­tion. hielt, obwohl es eine Hetzrede war, sondern, dass er «zur Besinnung» aufrief. Er lernt, dass Arbeiter nicht «auf die Strasse gestellt wurden», sondern «im Zuge der Rationalisierung eine Kompression des Personalbestandes» vorgenommen werden muss. Auch beobachtet er, wie aus den eingegangenen Meldungen einige gedruckt werden und andere nicht. Ein ganz natürlicher Vorgang, denn alles kann ja wirklich nicht gedruckt werden.

Der Neuling sagt sich: zuerst lernen, nicht aufmucken, jedes Handwerk hat seine Regeln usw. (Die Zensur wird ihm stets mit dem Hinweis aufs Handwerk und seine unabänderlichen Regeln erklärt.) Und er hofft auf die Zukunft, wie schon im Gymnasium und auf der Uni. Er gelobt sich auch, es später besser zu machen, wenn er zum Schreiben kommt, nicht mit den ganzen Politikern verhängt zu sein und nicht mit jedem Stadt-, National- und Bundesrat auf du zu stehen, die Dinge beim Namen zu nennen. Nach zwei, drei Jahren ist es soweit, er darf kommentieren, etwas Wichtiges.

Es trifft sich (nehmen wir an), dass er einen Kommentar zur Wahl des neuen Bundesrats X abgeben soll, der allgemein als verklemmter Streber bekannt ist und ausser seinem Machthunger nichts anzubieten hat. Unser Redaktor geht also hin, rekonstruiert den Aufstieg des X und schält die grossen Linien heraus. Manipulation der eigenen Partei durch X, Hervorkehrung des Biedersinns in den öffentlichen Ansprachen, hinterlistiges Abmeucheln von Konkurrenten, Abwesenheit von grossen Ideen, Bereicherung in Verwaltungsräten, Opportunismus in der Kommissionsarbeit, Verhinderung demokratischer Kontrolle in der eigenen Partei. Er geht hin und schreibt: «Bundesratskandidat X, der in seinem Heimatkanton allgemein als verklemmter Streber bekannt ist und ausser seinem Machthunger nichts anzubieten hat.» Er liest den Satz noch einmal, und da fällt ihm auf, dass der Ressort-Chef so etwas nicht durchgehen lässt. Also korrigiert er sich: «Bundesratskandidat X, dem allgemein eine etwas zu grosse Eilfertigkeit bei der Erklimmung der politischen Leitersprossen nachgesagt wird und ein etwas prononcierter Machtappetit –.» Und in dem Stil schreibt er weiter, nicht ohne Erwähnung der durchaus auch vorhandenen positiven Eigenschaften des X. Das Manuskript passiert knapp die Zensur des stirnrunzelnden Ressort-Chefs. Der Artikel erscheint, X liest ihn, telefoniert sofort dem Chefredaktor, seinem alten Kegelbruder und Jassfreund, und sagt: «Das hätte ich von dir nicht gedacht.» Der Chefredaktor zitiert den Jungredaktor, putzt ihm die Kutteln, und bei der nächsten Redaktionssitzung spricht er von Berücksichtigung aller Standpunkte, von nuanciertem Schreiben und ausgewogenem Journalismus, schwärmt von Objektivität und publizistischer Grundhaltung.

Nachdem ihm derart auf den Schwanz getrampt wurde, geht der lädierte Jungmann in sich. Zwar durfte er anlässlich des Zusammenstosses viel Teilnahme erfahren, ein Teil der jüngeren Kollegen hat ihn unterstützt, auch einige von den älteren, er hat aufmunternde Telefonanrufe und Briefe erhalten (nebst einigen andern). Aber die Spontaneität ist angeschlagen, besser gesagt der Restbestand an Spontaneität, welcher nach seinen Lehrjahren übrigblieb. Er zieht sich ins Redigieren zurück, das wenige, was er schreibt, überprüft er auf seine Gefährlichkeit. Bald langweilt ihn seine Verwaltungsarbeit, er ist nicht zum Funktionär geboren und schliesslich Journalist geworden, weil er etwas zu sagen hat, und nicht, weil er etwas unterdrücken will. Er bittet um Versetzung in ein anderes Ressort. Man entschliesst sich, ihn als Reporter «einzusetzen», da kann er beobachten und muss nicht immer Stellung nehmen. Er beobachtet also sehr scharf die Gesichter der Polizisten, welche die Demonstration Y auflösen, und schreibt von diesen Gesichtern: «wutverzerrt». Nach genauer Befragung von 10 Demonstranten verschiedenen Alters stellt sich heraus, dass der Polizeivorstand die Keilerei geschickt provoziert hat. Der Reporter schreibt: «provoziert». Befriedigt lächelnd gibt der Polizeivorstand sogar zu, dass die Provokation gelungen ist. Der Reporter schreibt, er kann nicht anders: «Befriedigt lächelnd.» Da der Chef vom Dienst grad ein wenig schläfrig war, geht die Reportage durch. Anschliessend wird unser Reporter vom Lokalredaktor kräftig zusammengeschissen, da dieser ein Spezi des Polizeivorstands ist, und deshalb weiss der Lokalredaktor, dass der Polizeivorstand so etwas einfach nicht gemacht und gesagt haben kann, es liegt nicht in seiner Natur, er kennt ihn seit Studienzeiten. Fortan wird unser Reporter nur noch an Festakte und Einweihungen geschickt. Zwar hat er auch hier noch Lust, vom «langweiligen Gesumse einer stadtpräsidentlichen Rede» zu schreiben oder die Jahresversammlung des Rotary-Clubs ein «Symposium der regierenden Extremisten» zu nennen, aber er tut's nicht, seine Frau hat eben das zweite Kind bekommen, und seine Zeitung, die nette Firma, hat ihm einen Kredit gewährt, damit er ein Haus kaufen kann und damit er noch ein bisschen mehr von ihr abhängig ist.

Nach einigem Vegetieren bittet er um Versetzung ins Feuilleton. Er hat nämlich beobachtet, dass im Feuilleton mit Abstand die kräftigste Sprache geführt werden kann. Nun darf er über Ausstellungen, Filme, Happenings und Bücher schreiben, darf die jungen Künstler fördern oder behindern. Er blüht auf. Er wird gedruckt. Meeresstille und glückliche Fahrt. Es wird so still um ihn, er wird für seine zuverlässige, wenn auch zupackende Art so allgemein gerühmt, sogar vom Chefredaktor, dass ihm unheimlich wird. Es kann nicht an seiner Methode liegen, denn er schreibt so, wie er es immer erträumt hat, so kritisch und unbestechlich-unbarmherzig. Also muss es am Gegenstand liegen. Langsam dämmert ihm, dass die Kultur nicht ernst genommen wird, weil sie nur von wenigen esoterischen Wesen goutiert werden kann, und ausserdem sind die Künstler keine Pressuregroup, welche so auf die Zeitung einwirken könnte wie ein Stadt- oder Bankpräsident. Auch entdeckt er ihre Ventilfunktion: die oppositionellen Energien, welche im Wirtschafts- oder politischen Teil nicht ausgetobt werden können, dürfen gefahrlos im Feuilleton verpuffen. Man lässt ihn also machen, unsern begabten Hofnarr, welchem aber die Lust am Schreiben entweicht, nachdem er seine Funktion entdeckt hat. Eines Tages hat er dann die Idee, den Begriff Kultur auch auf die Stadtplanung auszudehnen. Nach einigem Zögern, und da er nicht Grossgrundbesitzer ist und nur seine Arbeitskraft zu verkaufen hat, schlägt er sich auf die Seite der Allgemeinheit und schreibt im Namen der vorausblickenden Vernunft gegen die Partikularinteressen, welche die Stadt verstümmeln und ihre Umgebung unwirtlich machen. Nun hat er plötzlich wieder Echo, die Kollegen vom Wirtschaftsteil warnen vor gefährlichen Utopien, die Notabilitäten und Spektabilitäten schneiden bedenkliche Gesichter. Da er genau weiss, was kommt, wenn er weitermacht, und da sich auf der Redaktion nie eine Mehrheit für intelligente Stadtplanung ergeben wird und da er jetzt neben Frau und Kind auch noch eine recht teure Freundin hat, zieht er den Schwanz wieder ein und schreibt in seiner kühnen Art wieder über Filme, welche die Verhunzung der Städte zum Thema haben, oder über Bücher, die von korrupten Politikern berichten. Bücher und Filme beschreiben Zustände im Ausland. Dort ist alles viel schlimmer.

 

Nun sitzt er still hinter seinem Pültchen und redigiert. Gestriegelt und geputzt. Heruntergeputzt. Brauchbar. Gereift. Ein angesehenes Mitglied der Redaktion, mit seinem launigen Stil. Er hat gemerkt, dass zwischen Denken und Schreiben ein Unterschied ist, und so abgestumpft ist er noch nicht, dass er glaubt, was er schreibt. Aber er sieht jetzt ein, dass Journalismus eine Möglichkeit ist, sein Leben zu verdienen, so wie Erdnüsschenverkaufen oder Marronirösten. An Veränderung innerhalb der angestammten Zeitung ist nicht mehr zu denken, in den Wirtschaftsteil kann er nicht, es ist ihm nicht gegeben, so unverständlich zu schreiben und so konstant an den Dingen vorbei. Für den Sport kommt er nicht in Frage, da ist er zu wenig rasant, es fehlt ihm der Dampf und die immerwährende Fröhlichkeit, auch die gewisse Trottelhaftigkeit, welche ihn an den Sport glauben liesse. Aber vielleicht ins Ausland, als Korrespondent, ein hübscher Posten in Paris oder London? Da hockt er an der Peripherie und hat noch weniger Einfluss. Vielleicht Mitarbeit bei «Roter Gallus», «Agitation», «Focus» oder «zürcher student»? Davon kann er nicht leben, und er will nicht nur für die Eingeweihten schreiben, will unter die Leute kommen mit seinen Artikeln. Bleibt noch ein Umsteigen in andere Zeitungen, Radio und/oder Fernsehen. Mit seinen Freunden, welche dort arbeiten, hat er das Problem am Stammtisch in der «Stadt Madrid» besprochen. Sie raten ihm ab: er würde genau dieselben oder noch viel ärgere Verhältnisse treffen als bei der angestammten Zeitung.

Also bleibt er, wie schon gesagt, hinter seinem Pültchen sitzen, mit fünfunddreissig resigniert, charakterlich gefestigt und bekannt für seinen geistreichen Stil. Seine Widerborstigkeit schwindet, immer weniger geht ihm gegen den Strich. Einige Zeit noch beobachtet er bitter den Zerfall seiner Berufskultur, später nennt er diesen Zerfall: Realismus. Er gilt jetzt nicht mehr als Querulant und Psychopath, er wird normal im Sinn der journalistischen Norm. Das Leben ist kurz, er möchte noch etwas davon haben, bevor seine Genussfähigkeit abnimmt. Und überhaupt, was soll der Einzelkampf, er kann sich mit keiner Gruppe solidarisieren. Kein Journalistenverein, auch keine Fraktion, kämpft für diesen Journalismus, der ihm vorschwebte.

An Sonn- und allgemeinen Feiertagen hat er manchmal noch eine Vision. Er träumt von einer brauchbaren Zeitung. Mit Redaktoren, die nicht immer von Lesern (die sie nicht kennen) schwatzen, denen man dies und das nicht zutrauen könne. Sondern welche gemerkt haben, dass sich auch der Leser ändern kann. Eine Zeitung, welche ihre Mitarbeiter nach den Kriterien der Intelligenz und Unbestechlichkeit und Schreibfähigkeit aussucht und nicht nach ihrer Willfährigkeit gegenüber der wirtschaftlichen und politischen Macht. Eine bewusste Zeitung, aus einem Guss und mit Konzept. Die sich von ein paar wütenden Anrufen und Abbestellungen nicht aus dem Konzept bringen lässt. Geleitet von einem demokratisch gewählten Chefredaktor oder Redaktionskollegium und im Besitz der Mitarbeiter. Eine Zeitung ungefähr wie «Le Monde», welche die Herrschenden einmal so sehr gestört hat, dass sie durch einen speziell gegründeten «Anti-Le Monde» liquidiert werden sollte. (Was dank der redaktionellen Solidarität von «Le Monde» misslang.) Oder eine Zeitung wenigstens, wo alle Mitarbeiter sofort streiken und den Betrieb besetzen, wenn der Verleger einen guten Mann entfernen will. Oder ein Organ, wo Leute wie Karl Kraus und Kurt Tucholsky ständig schreiben könnten. Oder ein Blatt, wo einer wenigstens nicht bestraft wird, wenn er gründlich recherchiert und brillant formuliert …

Nachdem er einmal besonders schön geträumt hatte, nahm er einen Strick und, in einem letzten Aufwallen beruflichen Stolzes, hängte sich auf. Im Lokalteil kam ein Nachruf: «… und werden wir den allseits geschätzten, pflichtbewusst-treuen Mitarbeiter nicht so schnell vergessen, der, von einer Depression heimgesucht, FREIWILLIG aus dem Leben geschieden ist.» Pfarrer Vogelsanger hielt die Abdankung, der gemischte Chor Fraumünster sang: «So nimm denn meine Hände und führe mich.» Der Verschiedene wurde versenkt und verfaulte sofort.

Leichenrede für den Journalisten Peter Frey
oder Plädoyer für ein verschollenes Métier

Der geht mir nicht klanglos zum Orkus hinab! Nicht der.

«Eines Morgens Ende April 1945 sahen die Anwohner des kleinen Halensees in Berlin unzählige weisse Flecken auf der Oberfläche des schwarzen Wassers. Bei genauerem Hinsehen erkannten sie Gipsmodelle, wie sie Bildhauer anfertigen, bevor sie eine Skulptur in Metall giessen. Diese Gipsmodelle hatten die Sonderbarkeit, dass sie die Gesichtszüge von Würdenträgern des Naziregimes trugen. Dass sie jetzt wie Schwäne auf dem See herumschwammen, hatte seine Ursache in der Panik ihres Schöpfers. Beim Herannahen der sowjetischen Truppen wollte der Bildhauer Schimmelpfennig, der am Seeufer ein Atelier hatte, jede Spur seiner nazifreundlichen Tätigkeit zum Verschwinden bringen, und da die Gipsköpfe eindeutige Beweise seiner Arbeit zur künstlerischen Verherrlichung von Leuten wie Hitler, Göring, Goebbels und anderen darstellten, versuchte er, sie zu versenken. In seiner Aufbruchstimmung vergass er aber, dass die Köpfe hohl waren und Gips zudem leichter ist als Wasser. Die Modelle schwammen.

Als die ukrainischen Grenadiere der 3. sowjetischen Gardepanzerarmee des Generalobersten P.S. Rybalko auf der nahen Chaussee vorbeimarschierten, wunderten sie sich über die sonderbaren Wasservögel. Sie veranstalteten ein improvisiertes Tontaubenschiessen, zielten auf die Gipsfiguren (sie hatten seit 24 Stunden keinen kämpfenden deutschen Soldaten gesehen), und die Hohlköpfe explodierten einer nach dem anderen in tausend Gipssplitter. Die Sowjets hatten keine Ahnung, welche Hinrichtung in effigie sie hier vollzogen.

Nur die Bewohner der Etage über dem Bildhaueratelier, ein antifaschistischer Architekt und seine Frau, eine Journalistin, konnten die sinnbildliche Tragweite der Exekution ermessen und sich daran erfreuen. Sie waren es, die mir das Ereignis erzählten, in einer verschneiten und von Feuerwerk erhellten Silvesternacht.»

Diese Passage stammt aus einem unveröffentlichten Text von Peter Frey, den er vor wenigen Wochen verfasst hat. Wenn ich ihn mir zu Gemüte führe, sehe ich den Redaktor, wie er so dasass in seinem relativ bescheidenen Büro der siebziger Jahre, die Arme meist verschränkt beim Zuhören, konzentriert zuhörend, gespannt, aber unverkrampft, und immer ein bisschen gierig, aber höflich gierig auf die neusten Nachrichten aus Frankreich, und wie er einem dann mit gescheiten Fragen auf die Sprünge helfen konnte, weil er halt sehr viel wusste über Frankreich, aber auch über die übrige Welt –

so wird er mir im Gedächtnis bleiben.

Wie er dann lachte, wenn man gemeinsam der Lächerlichkeit der Macht auf die Schliche gekommen war, wie es ihn manchmal richtig schüttelte von innen heraus und er dann jeweils sagte: Isch scho verruckt! Und wie er also immer wieder staunen konnte über die Verrückten, welche ihre Verrücktheit als Normalität deklarieren oder gar zur Norm erheben, weil ihre Machtfülle ihnen das gestattet, und wie er dann fragte, ob man nicht einmal etwas mit diesem Foucault machen könne, der etwas von der Macht verstand, und wie er dann das Interview auch wirklich druckte, ein langes, fast ungekürztes Gespräch zu einer Zeit, vor zwanzig Jahren, als das universitäre Milieu der Schweiz Foucault noch kaum registriert hatte, und wie es dann ins Blatt kam, ohne Schnickschnack in der Aufmachung, sondern mit einem Layout, welches dem Text angemessen war – nämlich so, dass die Leserinnen und Leser eine redaktionelle Seite ohne weiteres von einer Inserateseite unterscheiden konnten –

ja, das wird man nicht vergessen.

Immer wieder staunen konnte er. Staunen als Subversion, und nach dreissig Jahren Journalismus noch nicht ausgestaunt und abgebrüht. Arbeitete ohne Autotelefon, ohne Laptop und Modem, aber mit Bibliothek. Hat sich seine demokratische Seele nicht verbrühen lassen in der Lauge des Managertums und der organisationellen Gschaftlhuberei. Vom Text-Management hielt er nichts, er nannte sich Redaktor, war auch kein Bereichsleiter. Kein Freund von redaktionellen Organigrammen und anderen Machtinstrumenten, und hat seine Meinung geschrieben, bevor eine Marktforschung oder eine Meinungsumfrage geklärt hatte, was die Mehrheit lesen wollte. Er war mehr am Gedankenfluss als am cash flow interessiert. Nur waren seine Meinungen halt derart solid verwurzelt, dass die Motsch-Köpfe und Sirup-Fröschli, welche Journalismus und Beruhigungstherapie miteinander verwechseln oder Denken mit Design, ihm nicht am Zeug flicken konnten, denn sie wussten immer weniger als er, und das war genierlich, aber nicht für ihn. Und doch ist er auf seine nette Art immer ein bisschen verlegen geworden, wenn man ihn wieder dabei ertappte, dass er über die Ming-Dynastie oder Mao Tse-tung besser orientiert war als seine Gesprächspartner, oder über Ho Tschi Minh oder Merleau-Ponty oder de Gaulle oder Helder Camara oder Louis Althusser oder Pablo Neruda oder Gracchus Babeuf oder Furgler oder Robespierre oder Fouqier-Tinville oder Bartolomé de las Casas oder Juan Gines Sepúlveda oder Jacques Monod und die neuesten Erkenntnisse der Biochemie, denn ach, auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet war er uns über, und vermutlich hat ihn sein Studium als ingénieur agronome gegen alle Ideologien geimpft und gegen die Versuchungen des Totalitarismus, dem die sogenannten Geisteswissenschaftler manchmal hurtig aufgesessen sind, bis sie wieder davon herunterkamen und aus Beschämung zu rabiaten Antikommunisten wurden, in Frankreich zum Beispiel. Er musste also nie gegen die Sünden seiner Jugend anschreiben. Sein Zweitstudium, die Soziologie, hat ihn aber auch nicht zum Positivisten und, obwohl er trefflich über das Wesen der Statistik schreiben konnte, nicht zum Fliegenbeinzähler gemacht. Übrigens war er natürlich viel zu höflich, um die weniger hellen Kollegen als «Sirup-Fröschli» oder «Motsch-Köpfe» zu bezeichnen, nicht einmal «Sängerknaben» hat er sie genannt, wie sein Magazin-Kollege Hugo Leber das zu tun pflegte, doch freute er sich immerhin, wenn ein anderer in seiner Anwesenheit diese Nomenklaturen benützte. Dann schüttelte ihn das Lachen so schön von innen heraus. Wie er es fertigbrachte, bei all seinem Wissen kein Museum zu werden, aber ebensowenig simplizistisch, alles Geschraubte zu vermeiden und mit seiner clarté latine die verschiedensten Stoffe durchsichtig zu machen auf den springenden Punkt hin – das war sein Geheimnis und seine jetzt mit ihm untergegangene Kunst. Vermutlich hatte er einfach die Leute gern, wenn ich es so simpel sagen darf, und wollte ihnen ein Licht aufstecken, als Aufklärer, damit sie über die eigene Nase hinaussehen konnten. Jedes Bildungsprivileg empfand er als Greuel, auch sein eigenes; was er hatte, wollte er weitergeben. «Je ne veux pas mourir idiot», dieser Slogan aus dem Mai 68 hat ihm gefallen, und wenn die allgemeine Idiotie ein paar Millimeter zurückgedrängt werden konnte, wohlte es ihm jeweils.

 

Alles Militärische war ihm zuwider, und so konnte er denn die argentinischen, aber auch die schweizerischen Generäle mit der gebührenden Abneigung darstellen und hinstellen. So deutlich wie er hat's niemand in der grossen Presse gesagt. Das Befehl-und-Gehorsam-System habe, so glaubte er, im Journalismus nichts zu suchen, er betrieb management by conviction und hat immer wieder darüber gestaunt, der grosse Stauner, wie viele höhere Feldgraue an den Schaltstellen seiner Firma sassen, die dann auch feldgrau schrieben. (Während er eher das Cézanne-Blau bevorzugte.) Vor dem Militärdienst hatte ihn sein lädierter Fuss bewahrt und vor dem militärischen Denken sein intakter Intellekt. Er freute sich, wenn man ihn darauf hinwies, dass auch der Teufel ein hinkender Bote sei und auf ungleichen Füssen daherkomme wie er selbst, und sagte zu diesem Thema: «Besser ein Bocksfuss als zwei Engelsfüsse» und fügte noch bei, dass er leider kein Schwefelgerüchlein zu verströmen vermöge wie der oder jener und das Dämonische sei bei ihm auf diesen struppierten Fuss beschränkt, leider. Mit solcher Behinderung kommt man weniger gleitig durchs Leben als die Langstreckenläufer des Managertums, und auch beim Erklimmen der Karriereleiter ist so was abträglich, und wenn man dazu auch noch von den Ellenbogen keinen richtigen Gebrauch zu machen weiss und nach der Maxime lebt, dass ein Journalist so viel wert ist wie seine Produktion und nicht so viel wie seine Büroorganisation – ja, dann ist einer selber schuld, wenn er nicht Chef wird. Führen wollte er nur durch die Qualität seiner Ideen und Texte, «der Laden läuft ja von selbst», pflegte er zu sagen, und die formale Hierarchie könnte das Denken nicht herstellen, sondern nur behindern. Da war er schon sehr platonisch eingestellt. In seinem unveröffentlichten Text hat er geschrieben: «Nein, ich habe keine gute Beziehung zur Macht, weder zur aktiven noch zur passiven. Ich übe nicht gern Macht aus, ich ertrage es auch nicht, wenn man auf mich Macht ausübt. In der Chefredaktion, in Vorständen und Exekutivräten nationaler und internationaler Organisationen fühlte ich mich nie wohl. Ich war zwar legitimiert, aber das half mir nichts, wenn ich an einer Redaktionskonferenz, die ich leitete, Kollegen anhalten musste, das oder jenes zu tun. Ich vergass die Legitimation und litt an der verqueren Situation: ein Mensch, der einen andern dazu bringt, etwas zu vollbringen. Grotesk.»

Das könnte von Orwell sein, den er bewunderte, der auch nie Chefredaktor geworden ist, und mit dieser Einstellung hätte man sich in Barcelona zu Durrutis Zeiten das Leben denken können oder zu Bakunins Zeiten im Jura; aber weniger gut im Zürich der kontrollierten Kontrolleure. Hier wird anders gefuhrwerkt. Ganz im stillen muss auch der bescheidene Peter Frey darunter gelitten haben, dass seine bürokratische Macht sich nie auf der Höhe seines ausgedehnten Wissens und Könnens befand, und manchmal wünschte er sich eine Zeitung, die im Besitz der Produzenten ist wie «Le Monde», wo die unumstrittene journalistische und politische Autorität des Gründers Hubert Beuve-Méry organisch in die administrative Autorität mündete. Peter Frey wurde demgegenüber nur stellvertretender Chefredaktor und dann Mitglied der Chefredaktion, die Weichen konnte er nicht stellen. Gegen den gesellschaftlichen Komfort und die verführerischen Privilegien, welche ihm dieser Posten trotz seiner Machtlosigkeit verschaffte, war er nicht immer gefeit. Wer wäre das? Man wird es sagen dürfen, ohne sein Andenken zu beschädigen.

*

Wie hätte Peter Frey diese Abdankungsrede gern gehabt? Ein bisschen sentimental? Oder religiös? Heulen musste ich bei seinem Anblick, einen Tag bevor er starb, der Krebs hatte ihn verwüstet, röchelnd lag er auf dem Sterbebett, schreien hätte ich mögen vor Wut, dass der bescheidene grosse Mann so elend aus der Welt gehen musste und wir jetzt nie mehr etwas von ihm lesen werden, das ist so unerträglich ungerecht. Sein Kopf hat bis vor kurzem gearbeitet wie immer, er hätte doch wohl noch gute zehn Schreib- und Lebensjahre vor sich gehabt. Warum verschwindet er, so kurz nach der Pensionierung? War da nicht vieles noch in seinem Kopf, das heraus wollte? Und das jetzt von seinem Körper sabotiert wurde? Oder war er ausgeschrieben? Seine Art von Schreiben muss mit einer ungeheuren, zehrenden Anstrengung verbunden gewesen sein, wir hatten sein Leben auf dem Papier vor uns, er hatte die Erschöpfung. Noch an der kleinsten Glosse hat er geschuftet wie ein Schriftsteller an einem ganzen Romankapitel. Seine stilistische Eleganz war ein Produkt von Schwerarbeit.

Also, wie hätte er die Abdankung gern gehabt? Vielleicht kommt er gern nochmal zu Wort? Es gibt da einen unveröffentlichten Text von ihm, der handelt von der Macht. Also z.B. von einem befreundeten Bundesrat, der ihn zum Botschafter in Madrid machen wollte und der dann aus seltsamen Gründen jeden Kontakt mit ihm abgebrochen hat. (Es ist nicht Bundesrat Ogi.) Auch der ehemalige Arbeitsplatz kommt vor, zutreffender hat wohl niemand über die Entwicklung des «Tages-Anzeigers» in den letzten zwanzig Jahren geschrieben. Und da ihm diese Zeitung am Herzen lag, er dieses Segment der Gesellschaft am besten kannte, darf man evtl. ein paar unsentimentale Passagen zitieren:

«In den 70er Jahren leitete die Redaktion des ‹Tages-Anzeigers›, in der ich zunächst stellvertretender Chefredaktor und dann Mitglied der Chefredaktion war, mit der Genehmigung der Geschäftsleitung einen Demokratisierungsprozess ein. Die Geschäftsleitung war damals in den Händen von Dr. Otto Coninx, dem Chef der Familie dieses Namens. Ich vergleiche ihn gern mit dem französischen König Ludwig XVI.: ein wenig liberal, ein wenig absolutistisch. Seine liberale Seite erlaubte es der Redaktion, ein fortschrittliches, wenn auch begrenztes Mitbestimmungsmodell zu erarbeiten und in einem Redaktionsstatut festzuschreiben. Um beim Vergleich mit der französischen Geschichte zu bleiben: Es war die revolutionäre Ära der Konstituante und der Legislative. Die absolutistische Seite des Dr. Coninx offenbarte sich aber im statutwidrigen Schreibverbot für den Journalisten N.M. Die Redaktion reagierte nicht gerade mit einer Revolution, es gab auch keine Diktatur der Kommune wie im revolutionären Frankreich. Dr. Coninx wurde nicht enthauptet, aber er nahm bald einmal seinen Rücktritt und überliess die Regierung einer zuerst fünf-, dann vierköpfigen Geschäftsleitung. Diesen Vorgang kann man mit dem Revolutionsstopp des 9. Thermidor in Frankreich vergleichen, der die Bildung eines fünfköpfigen Direktoriums und vier Jahre später eines Konsulats mit beinah diktatorialer Machtfülle zur Folge hatte.

Im ‹Tages-Anzeiger› schwang sich einer der ‹Konsuln›, Rico Hächler, dank seinen Führungsqualitäten geradezu napoleonischen Zuschnitts, zum Ersten Konsul und zum ungekrönten Kaiser des Unternehmens auf. Einer seiner Generale verstand sich nicht mit dem Kaiser: Wie Jean-Baptiste Bernadotte, der sich von Napoleon trennte und zum König von Schweden wurde, trat Peter Studer aus der Geschäftsleitung aus und wurde Chefredaktor beim Fernsehen drs.»

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?