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Über dieses Buch

Sie machten Furore, die Reportagen Meienbergs, erregten Aufsehen, wurden viel gelesen und diskutiert. Sie waren genau recherchiert, dramaturgisch sorgfältig gebaut und brillant geschrieben, ihr streitlustiges Engagement fuhr wie ein frischer Wind in den prätentiös-bildungsbürgerlichen Mief der Feuilletons, und bis heute haben sie ihre Frische bewahrt.

Der Inhalt dieses E-Books entspricht dem Kapitel «Lesen» aus Band 1 der Reportagen, ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli, Limmat Verlag, Zürich 2000:

Da taar me nöd

Ein Werkstattbesuch bei zwei hiesigen Subrealisten

Inglins Spiegelungen

Vom Heidi, seiner Reinheit und seinem Gebrauchswert

Sartre und sein kreativer Hass auf alle Apparate

Joy Joint Joyce Choice Rejoice

Auskünfte von Karola & Ernst Bloch betr. ihre Asylanten-Zeit in der Schweiz, nebst ein paar anderen Erwägungen

Überwachen & Bestrafen (I)

Des Philosophen Grabesstimme


Foto Roland Gretler

Niklaus Meienberg (1940–1993), Historiker, Schriftsteller und Journalist. Er erfand die Reportage neu und dichtete ungeniert mit dem überlieferten Material europäischer Lyrik. Mit seinen Texten zur Zeitgeschichte war er ein grosser Streiter, dessen «Sprachgewalt» auch seine Feinde bewunderten. Wie kein zweiter hat sich Niklaus Meienberg der Öffentlichkeit ausgesetzt, seine ganze Person hat er in seine Texte eingebracht, und mit seiner ganzen Person ist er für sie eingestanden.

Niklaus Meienberg

Lesen

Ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli

Limmat Verlag

Zürich

Da taar me nöd

Wer ein Buch oder einen Film veröffentlicht, setzt sich der Kritik aus. Die freut ihn oder ärgert ihn. Wer zu den literarischen Bundesratsparteien gehört, kann in unserm schweizerischen Konkordanzsystem auf wohlwollende oder doch schonende Kritik zählen. Es gibt hier einen Konsens, wonach Max Dürrenmatt Friedrich Frisch Adolf Bichsel Peter Muschg Otto F. Nizon Paul Walter keine langweiligen, schlechten oder ganz schlechten Bücher schreiben können. Die dürfen so etwas einfach nicht. Das Friedensabkommen in der Literaturindustrie schützt die Sozialpartner. Jeder ist auf den andern angewiesen, jeder kann den andern, von einem bestimmten Bekanntheitsgrad an, fördern oder behindern. Da ist einer z.B. nicht nur Schriftsteller, sondern auch Dozent, kann seine eigenen oder verwandten Produkte von einem Kollegen ins Lehrprogramm aufnehmen lassen (Hermann Burger). Er weiss, wie der germanistische Karren läuft, welche Bücher von den Mitgermanisten der Besprechungsindustrie erwartet werden, und kann das Gewünschte liefern. Oder er ist (Hermann Burger) ausserdem noch Feuilletonredaktor und kann Bücher besprechen. Oder er arbeitet (Hermann Burger) noch am Fernsehen und kann dort Kollegen vorstellen. Oder er bedient noch die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG und DIE WELTWOCHE und weitere allgemeine Zeitungen mit Literaturkritik (Hermann Burger). Ein anderer wiederum ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Verleger und hat glänzende Beziehungen zu allen möglichen Verlagshäusern, nicht nur zum eigenen. Wer ihn hart bespricht, muss damit rechnen, dass sein Buch von dem einflussreichen Mann verhindert oder behindert wird. Und da nicht wenige Kritiker (Burri, Fringeli etc.) auch als Autoren auftreten … Besprichst du mein Buch gut, dann besprech' ich deines gut oder lass es gut besprechen.

Bücher sind Produkte, die auf handwerklich-altväterische Weise entstehen, in der Abgeschiedenheit von Schreibstuben, und auf industrielle Art vervielfältigt und vermarktet werden. Ihr Vertrieb ist auf die Zeitungen angewiesen. Ein Verriss in grossen Zeitungen behindert meist die Vermarktung und wird von den Autoren – das kann ich nachempfinden, das hab' ich auch schon so empfunden – als Geschäftsschädigung betrachtet. (Totschweigen oder eine laue Besprechung schadet aber noch mehr als ein Verriss.) Da hat man zwei oder mehr Jahre gearbeitet und wird von einer Hudelkritik, die in zwei, drei Stunden verfasst worden ist, zerfetzt. Das tut weh, tut der Auflage (meist) nicht gut und ist oft ungerecht. Aber es gibt Unterschiede. Ein schlechter Verriss unterstellt dem Schriftsteller einen Stil und Absichten, die er gar nicht hatte: um sie dann in den Boden zu stampfen. Er deformiert das Buch, damit es leichter verhohnepiepelt werden kann. Ein guter Verriss (und manche davon sind selbst Literatur geworden, sind unterdessen literarischer als die Bücher, auf welche sie zielen, vgl. Besprechungen aus der Feder von Voltaire, Lessing, Kraus) stellt das Buch möglichst sachgerecht und umfassend dem Leser vor, misst den Autor an seinem eigenen Anspruch, bevor er das Werk mit einleuchtenden, evtl. glänzenden, das heisst brillanten Argumenten auseinandernimmt. Aber auch solche Verrisse werden, wenn es um die Bücher unserer berühmten, unter Heimatschutz stehenden Autoren geht, als unanschtendig empfunden. Da taar me nöd. Hingegen darf man mündlich alles Wüste über die Kollegen erzählen, hinter ihren Rücken gifteln und schnöden – und dann eine nette, wenn auch etwas laue, Besprechung schreiben. Über BLAUBART von Max Frisch habe ich weitherum die verheerendsten Urteile gehört und nachher die nettesten Besprechungen gelesen, beides von denselben Leuten produziert. Ähnlich war es bei NOCH EIN WUNSCH von Adolf Muschg, da hatte nur Urs Herzog (im KONZEPT) sehr brillant den Konsens gestört, worauf ihm nicht wenige Germanistenkollegen mit Naserümpfen begegneten und mit vornehmer Abscheu.

Dieses unser Land ist klein, so klein. Der Besprecher trifft den scharf Besprochenen spätestens eine Woche nach der Besprechung wieder. Man verkehrt in denselben Kreisen, Radio-TVU-Zeitungen, ist in der gleichen Zunft gewerkschaftlich organisiert (Gruppe Olten) – kann man jetzt noch ein Bier miteinander trinken, ohne einen Teil davon sich an den Kopf zu schütten? Geht man mit abgewandten oder gesenkten Augen aneinander vorbei? Was schreibt der literarische Verhaltenskodex in solchen Fällen vor? Sagt man SALI oder SOUHONG oder gar nichts? Die Gruppe Olten hat für solche Fälle noch keine allgemein verbindlichen Regeln ausgearbeitet. Sich streicheln oder um den Hals fallen (ohne den Besprecher dort zu würgen!) kann man auch nicht, dann wäre die scharfe Besprechung nicht ernst gemeint gewesen vom Besprecher und vom Besprochenen nicht ernst genommen worden.

Die Schriftsteller sind in einer Zunft organisiert und verhalten sich nach aussen manchmal solidarisch, und innerhalb dieser Zunft sind sie Konkurrenten und hassen sich oft sehr, genau wie andere Gewerbetreibende. Der Markt ist klein, die Zahl der Schreibenden nimmt in letzter Zeit gewaltig zu, von den Älteren sterben nur wenige, und die Leute, welche Bücher lesen, werden nicht zahlreicher. Da muss jeder hart um seinen Marktanteil kämpfen. Erst ein minimaler Marktanteil garantiert ihm literarisches Prestige und ein Häuchlein Ruhm, und keiner bleibt gerne zeitlebens ein Geheimtip. Bücher, die nicht besprochen und kaum verkauft werden, existieren nicht. Einen kenne ich, der prüft in den Buchhandlungen, ob seine Bücher wirksam plaziert sind, eine aufreibende Beschäftigung. Ein anderer geht bei Gelegenheit mit einem Rosensträusschen bei seinem Verleger vorbei, um ihn bei Laune zu halten. Ein dritter lädt periodisch Rezensenten zu Tisch, und alle bedrängen den Frisch, er solle ihr neues Buch doch bitte, bitte im SPIEGEL besprechen, aber einer drängt so stark, bis Frisch es dann wirklich tut, und einer wird sauer, weil Silvio Blatter von Böll, und ein anderer wird grantig, weil Gerold Späth von Grass gesponsort wird, und einen kenne ich (mich), der hat schon eine Gegendarstellung geschrieben, als er eine böse Kritik bekam, und alle beobachten die Auflagen ihrer Kollegen, WIE VIEL HAST DU VERKAUFT ist eine gefürchtete oder beliebte Frage, und warum, denkt A, wird B zu so vielen Lesungen eingeladen und er nicht, und warum hat dieses Huhn den Aufmunterungsförderungsunterdiearmegreifenpreis bekommen und er nichts und C darf im Radio lesen oder wird gar, denkt D, von Hermann Burger oder Wehrli P.K. am Fernsehen vorgestellt, aber D, der seine eigenen Werke besser findet als die von C, nicht? Und warum darf E, denkt F, eine Kolumne schreiben, wo er doch gar nicht schreiben kann?

Bei den Filmern: ganz ähnlich, nur äussern sich die noch heimlicher übereinander als die Schreibenden. Es gedeihen dort die prächtigsten Hass- und Verabscheuungsblumen in der Einsamkeit der Herzen, oder am Biertisch, in Abwesenheit der Gehassten. Beim Filmen ist bekanntlich viel Geld auf dem Spiel, und alle sitzen im gleichen Boot, welches voll ist. Man will nichts riskieren, weil die meisten Kollegen ausserdem noch in einer Kommission sitzen und über Finanzierungen irgendwie mitentscheiden. Einige Filmer, die privat ebenso klare wie harte Äusserungen zu Koerfer, Lyssy etc. machten, wurden kürzlich angefragt: ob sie in der WOZ etwas in der Richtung schreiben möchten. Sie schlugen sozusagen die Hände über dem Kopf zusammen, und einer sagte: Das könne er sich nicht leisten.

*

Vor kurzem den Schriftsteller S. getroffen, beim Wein in Zürich, mit andern. Dies und das wird gemütlich beschwatzt, bis die Rede auf meinen Artikel über Koerfer/Walter kommt («Ein Werkstattbesuch bei zwei hiesigen Subrealisten»). S. droht, nur halb im Spass, unsern Tisch zu verlassen, wenn jener fürchterliche Schrieb nochmals erwähnt werde. Auf die Frage, was denn an der Argumentation nicht stimme und wie er selbst das Buch von Walter finde, sagt S., er habe erst einen kleinen Teil davon gelesen, aber so dürfe man einfach nicht über Walter schreiben. Kurz darauf sagt S.: Er habe gehört, von Walter, dass Walter bereits 18'000 Stück seines Buches verkauft habe, und das sei doch wohl nicht möglich, höchstens 8000 können es sein, oder was glaubt ihr?

 

Der Schriftsteller S. und andere Kollegen sind mir gram wegen meiner Kritik, ich komme mir schon fast ein wenig kriminell vor. Was ist das Delikt? Ich habe den Realitätsgehalt von Walters Buch (und Koerfers Film) nach meinem Gefühl und Verstand abgehandelt, habe den Autor an seinem eigenen Anspruch gemessen, in einer Zeitung mit kleiner Auflage, die vorher ganzseitig ein uneingeschränktes Lob auf dieses Buch gebracht hatte. Das Thema schien mir wichtig genug, ich schrieb so ehrlich wie möglich. (Natürlich bin ich nicht gegen Fiktion schlechthin, nur weil ich die verunglückte Fiktion von Otto F. Walter kritisiere, die von einer, wie mir scheint, ungenau erfassten Realität ausgeht. Mein Lieblingsautor ist Joyce, nicht unbedingt ein Dokumentarist, und als nach meinem Artikel über ihn, WOZ 6/82*, * Abgedruckt in «Vorspiegelung wahrer Tatsachen», S. 102. fünf Leute mir sagten, sie hätten IHN daraufhin zu lesen begonnen, war ich glücklich wie selten). Auf diesen Artikel konnte Walter antworten im Blatt, so viel über mich wie ich über ihn, ganz ausführlich. Darauf gab es noch Leserbriefe. Unterschlagen wurde nichts, jeder Leser kann sich eine Meinung bilden. Nicht anzunehmen, dass ein Artikel in der WOZ, bei der kleinen Auflage, für Walter geschäftsschädigend war: das Buch läuft weiterhin prima. Nachdem in den grossen Zeitungen alle Besprechungen hierzulande sehr positiv für Walter gewesen sind, komme ich abschliessend zur Überzeugung: Das Delikt ist der Dissens.

In der Politik lehnen die Linken den erstickenden Konsens ab, die erzwungene Konkordanz. Warum akzeptieren wir das in der Literaturkritik?

Ein Werkstattbesuch bei zwei hiesigen Subrealisten

«Ich bin nicht Dokumentarist.»

Thomas Koerfer

«Dummerweise bin ich kein Dokumentarist.»

Otto F. Walter

Zwei Produkte, die gleichzeitig auf den Markt kommen, zwei Autoren, die, unabhängig voneinander, fast gleich lautende Erklärungen betr. Wirklichkeitsbezug ihrer Werke abgeben; ein Buch und ein Film mit höchsten gesellschaftskritischen und ästhetischen Ansprüchen (Otto F. Walter lässt in seinem Buch den Autor Wander ein Buch über «Ein Wort von Flaubert» schreiben, Thomas Koerfer erläutert, im Gesprach mit NZZ-Filmkritiker Schlappner, eine Szene eines Films, welche ihn «auch dramaturgisch fast in einer shakespearschen Dimension» interessiere); eine Unisono-Kritik, die auf beide Produkte mit den höchsten Tönen reagiert, Klara Obermüller z.B. macht in der WELTWOCHE einen Handstand vor Begeisterung, Alois Bischof in der WOZ spricht von «einem ungeheuren reflexiven Potential» bei Otto F., Schlappner in der NZZ weiss vor Entzücken seine Tinte nicht mehr zu halten, endlich wird, dank Koerfer, ein Unternehmer im Schweizer-Film realistisch, d.h. «fair» geschildert –

Es ist Herbst geworden, die Herbst-Kollektion ist da und sind wir glücklich soweit, dass die Subversion von jenen, welche subversiert werden sollen, gelobt wird, die NZZ, mit welcher der Autor Walter «hart und unerbittlich ins Gericht geht» (Alois Bischof über die Darstellung der Pressefreiheit durch Walter), spricht von einem «zeitkritischen Bewusstseinsprozess». Endlich ist auch, wenn man der Kritik glauben will, zwei Autoren eine perfekte Verschmelzung von Privatem und Öffentlichem gelungen, auch die Frauenfrage ist gelöst, «eingebettet aber in diesen zeitkritischen Bewusstseinsprozess sind Liebesbegegnungen von lyrischer Zartheit, Frauenfiguren, die in ihrem sensiblen Wahrnehmen und spontan richtigen Handeln nicht anders als ideal anmuten, Naturschilderungen sodann von mythischer Abgründigkeit» (NZZ). Und wer müsste der NZZ nicht recht geben: die Frauen werden von Walter wirklich eingebettet, in den Himmelbetten der Allegorie, und dort liegen sie dann, unbeweglich. Wie es in den Betten, vor den Betten, nach den Betten wirklich zugeht, dafür braucht sich Walter, der dummerweise kein Dokumentarist ist, nicht zu interessieren. So wie Koerfer nicht darüber reflektieren muss, in welchem Ton ein schweizerischer Rüstungsindustrieller während des Krieges mit dem Nazi-Botschafter spricht, denn dieser Industrielle ist nicht mit Bührle identisch (lässt Koerfer verlauten), er heisst ja im Film auch wirklich Korb, nicht Bührle, obwohl es andrerseits in der Wirklichkeit nur einen Rüstungsindustriellen gab, und der hiess eben doch wirklich Bührle – so muss sich Walter keine präzisen Vorstellungen von Konfliktabläufen beim TAGES-ANZEIGER machen, von Redaktions-Sitzungen und Zensurmechanismen, denn der TAGES-ANZEIGER kommt ja nicht vor, nur die SCHWEIZER-ZEITUNG, aber die hat in Walters Buch ein Magazin, und ein Auto-Importeur sperrt ihr die Inserate (hat man das nicht auch schon gehört), aber indem Walter diese Zeitung SCHWEIZER-ZEITUNG nennt und nicht TAGES-ANZEIGER, ist er fein raus und kann auf den Vorwurf der mangelnden Präzision antworten, er sei ein «Autor, der versucht, Subjektives und Gesellschaftliches zusammenzubringen, wobei das Gesellschaftliche, das Dokumentarische als Exemplarisches Verwendung findet». Um exemplarisch werden zu können, müsste das Dokumentarische aber präzis gewesen sein.

*

Kein Autor kann sich freuen, wenn Bücher oder Filme missglücken. Im Gegenteil, jeder ist darauf angewiesen, dass ihn die Produkte der Kollegen weiterbringen, anregen, in Frage stellen, beissen, zwicken, fördern. Ich stelle mir die Schreib-Arbeit, Film-Arbeit nicht nur als einsame, manchmal verzweifelte Tat vor, sondern auch als Resultat eines kollektiven Schubs, von dem wir alle gepresst werden, oder als Beitrag zu einer nie fertigen Tapisserie, wo jeder sein Stück einsetzt und jeder sich besser entwickeln kann, wenn das zuletzt entstandene Produkt mit kunstverständiger Sinnlichkeit gemacht worden ist. Als Koerfers Produzent Hubschmid mir im Frühling von diesem Film erzählte, der ganz unumwunden, manchmal drastisch, jedenfalls deutlich die Welt des Rüstungsindustriellen schildere, und als ich von Otto F. Walters Bemühen hörte, den TAGES-ANZEIGER und dessen Konflikte in sein Buch einzubauen, habe ich mich selbstverständlich gefreut. Man freut sich immer, wenn ein bisschen Wirklichkeit aufs Tapet kommt, nicht mehr um sie herumgeschrieben oder gefilmt, sondern in sie hineingeschrieben wird, wie in einen Abszess, den man zum Platzen bringt. (Die Schreibkunst von Flaubert wurde nicht ohne Grund mit einem Skalpell verglichen.) Natürlich habe ich mir keinen Abklatsch der Wirklichkeit vorgestellt, den gibt es auch im rein Dokumentarischen nicht, sogar die «härteste» Reportage, und die vielleicht ganz besonders, braucht Phantasie, Notieren und Montieren geht nicht ohne Einbildungskraft (– wie hört man zu? wie bringt man wen zum Reden? wie setzt man in Sprache und Bilder um? was spart man aus, um hervorzuheben?) – aber ich habe mir vorgestellt, Walter und Koerfer, die beiden schönen Flugmaschinen, würden sich einen harten Boden aussuchen, damit sie die richtige Startgeschwindigkeit erreichen auf der Grundlage des Realistisch-Dokumentarischen und sie dann WIRKLICH abheben können, und ich ihnen aus der Tiefe, ganz ausgeflippt vor Begeisterung, zuwinken darf … Hätte ich doch viel lieber getan, statt ihren Fehlstart zu beklagen. Das Beschreiben der Wracks am Ende der Piste ist keine schöne Aufgabe. Muss aber sein. Leider!

*

Zum Vergleich: Federspiel oder wie man es auch machen kann. In seiner Ballade von der typhoiden Mary steckt, nach Aussagen des Autors, etwa 3% Dokumentarisches, der Rest ist «erfunden» oder gefunden. Wo? In zeitgenössischen Berichten über New York und Amerika. Federspiel hat so lange in Bibliotheken gearbeitet, bis er sich eine genaue Vorstellung vom realen New York machen konnte, wo dann seine Mary völlig surreale Dinge unternimmt, die wirklicher sind als die Wirklichkeit, jedenfalls mögliche Sachen, die mit logischer Phantasie aus den Umständen entwickelt werden, und so denkt der Leser denn auch nie: Das ist abstrus, sondern: That's it, genau so werden die Herrschaften eben von einer Küchenmamsell vergiftet. Das denkt der Leser, weil Federspiel eine Anschauung von New York hat und einen Begriff von der Sprache in allen Etagen von Herrschaftshäusern.

Oder auch zum Vergleich: Imhoof, das Boot ist voll. Man kann einiges gegen diesen Film einwenden (die Wut des Zuschauers fährt auf einen kleinen Pinggel, den Dorfpolizisten, ab, der Zuschauer darf sich allzu schnell erleichtern), aber das Dorf im Schaffhausischen, welches kollektiv die Flüchtlinge in den Tod nach Deutschland zurückschickt, ist möglich, auch wenn es nie existiert hat, die Sprache stimmt, der gförchige Wirt ist einleuchtend, der Schaffhauser-Dialekt geht dem Zuschauer an die Nieren, es findet eine Beängstigung statt. Ich nehme an, Imhoof hat solche Dörfer gekannt, er hat sich dokumentiert, das Dorf ist kein Versatz-Stück, sondern es redet seine eigene wirkliche Sprache. Der Film geht nicht ÜBE, sondern aus dem Dorf heraus. Das Dokumentarische findet dann als Exemplarisches Verwendung …

Von Emile Zola weiss man, dass er mehrere Male auf dem Führerstand einer Lokomotive mitgefahren ist, bevor er «La bête humaine» geschrieben hat (Eisenbahnmilieu! Die Lokomotiven stimmen), und Gustave Flaubert – man darf ihn nochmals erwähnen, weil Walter sich ausdrücklich auf ihn bezieht – hat sich so gründlich mit der Wirkung des Rattengiftes auf den menschlichen Organismus beschäftigt, dass er echte Vergiftungserscheinungen aufwies, durch Empathie, als er mit der Beschreibung der Vergiftung seiner Madame Bovary beschäftigt wa, – und so kommt sich denn auch der Leser wie vergiftet vor, wenn er diese Stelle liest.

Bei Walter & Koerfer habe ich dieses Gefühl (Gewissheit!), dass die Fiktion eine neue Wirklichkeit ist, nie, weil ihre Fiktionen der Wirklichkeit nicht zuerst aufs Maul geschaut und sie erst dann überhöht haben, sondern willkürlich ins Blaue hinaus fiktioniert sind. Es sind mühsame Konstrukte, die jeder Wahrscheinlichkeit entbehren, zurückgeblieben hinter der Realität, sub-realistisch statt, wie vermutlich angestrebt, mit einem Hauch von Sur-Realismus belebt. Beide bringen, wenn es besonders dämonisch und/oder traumhaft werden soll, Tiere ins Spiel: Walter lässt eine wunderbare Prozession von Lurchen (bekannte urnerische Landplage) über die Gotthardstrasse kriechen, auf welchen Lurchen jenes Auto, das unser Liebespaar nach Italien bringen soll, ausschlipft, sodass dann im Maderanertal übernachtet werden muss statt in Italien; in welchem Maderanertal nachts im Licht von Jeepscheinwerfern ein Stier auf garantiert bestialische Art ÜBER DIE DÖRFER und lebend angebraten wird (vgl. die wiederholte Kampagne des Tierschutzes gegen das Uri-Stier-Kreuzigen), und Koerfer lässt einen Teddy-Bär plötzlich zur Lebensgrösse anschwellen, Achtung Kinderphantasie, und den Industriellen Korb erlegen, welcher ausserdem von einem Adler zu Tode gehackt wird, nachdem er sein italienisches Dienstmädchen gevögelt hat. Der Umgang mit plötzlich auftauchenden Tieren ist aber etwas vom Heikelsten. Buñuel kann das, Abel Gance auch, sein Napoleon-Adler ist einleuchtend; Koerfers und Walters Tiere sind ausgestopft.

Mit der Liebe ist es auch nicht einfach. Wie sehnt man sich nach Liebesszenen in unserer Literatur! Nach Leidenschaft! Walters Held Wander ist ein hölzernes Männchen, das alle feministischen Theoreme plakativ vor seinen Bauch hält oder als Sprechblase absondert. Von seiner Frau ist er geschieden, aber da ist keine Bitterkeit zurückgeblieben, obwohl es eine teuflische Ehe war, man trifft sich unschuldig wie Bruder und Schwester (bisschen Inzest wäre nicht schlecht), sie studiert jetzt halt Psychologie an der Uni, isst während des friedlichen, harmonischen Beisammenseins Seezunge mit Zitrone und parliert ganz nett. Mit Ruth will er ins Bett (in die Pfanne), getraut sich aber zuerst nicht recht, weil das doch allzusehr einer Situation ähneln könnte, die Winter, sein anderer Romanheld, im Roman schon vorausgenommen hat, schliesslich gelingt das aber doch noch leidlich und beschert uns eine der bedeutendsten Kitsch-Szenen der hiesigen Literatur: «Er fühlte das winzige Zittern in ihren Schultern, und selbst als ihr Mund sich ganz wenig öffnete und ‹Du› sagte …», und als sie dann «Du» gesagt hatte wie in einem Bastei-Roman Modell 1955, muss man sich hin und her überlegen, ob ein politisch bewusstes Liebespaar, wenn es brünstig wird, nach Italien fahren darf, weil dort ist auch nicht alles ideal, Streiks werden unterdrückt und viel Polizei, viel Korruption und die Genossen von Lotta Continua (Lotta, wollen wir nicht kontinuieren statt immer interruptieren?) werden auch verfolgt, jedoch andrerseits die Städte schön, vor allem die Altstädte, und viel gesundes Brauchtum noch im Schwang, Italien Italien, und wären sie nach allem Abwägen des Dafür und Dawider auch dorthin gefahren, wenn nicht die Lurche ihre Reise frühzeitig durchlurcht hätten (Kt. Uri). Immerhin entdecken sie dann ganz in der urnerischen Höhe ein Hotel, wo sie die einzigen Gäste sind, immer höher geht es hinauf, man merkt: Jetzt soll die Stimmung unheimlich werden in dieser Bergeinsamkeit, aber das Unheimliche (shining!) kommt und kommt nicht, weil die Sprache nicht unheimlich ist, hingegen kommt Adalbert Gamma, der Hotelier in seinem vergammelten Hotel, das kurz vor der Schliessung steht. Im Zimmer, wo sie dann endlich allein sind, enfin seuls, passiert auch wieder nichts von dem, was passieren könnte, wenn zwei Menschen Lust aufeinander haben, hingegen macht man sich Sorgen, ob die Genossen drunten in Zürich, welche die Abreise des Liebespaares mit scheelen Augen beobachtet haben, ist doch bei der SCHWEIZER-ZEITUNG eben ein kleiner Aufstand im Gang, ob die Genossen nicht unzufrieden seien über ihre Abwesenheit. Nachdem noch das Waldsterben (das auch noch, nach allen andern aktuellen Themen: Zeitungssterben, Freiheitssterben, Kurdensterben) in diese Szene hineingestopft und der mythische Stier gekreuzigt worden ist, fahren die beiden zurück und helfen den Genossen in Zürich, welche romantische Sitzungen in einem Hinterstübchen abhalten (viel Zigarettenrauch!) beim Basteln einer wackeren neuen Welt. Über die Beschreibung des TAGES-ANZEIGERS, alias SCHWEIZER-ZEITUNG, hat einer, der es wissen muss, nämlich Christoph Kuhn, geschrieben: «Ich stelle als einer, der seit siebzehn Jahren bei dieser Zeitung arbeitet, fest, dass wir die Irritationen, Entwicklungen und Veränderungen an unseren Sitzungen sehr viel unreiner, banaler, pragmatischer erlebt haben, weniger pathetisch und weniger dramatisch» (TAGES-ANZEIGER vom 20. September 1983). Und wer das nicht glaubt, der soll im letzten Buch von Laure Wyss – auch eine, die es wissen muss – das Kapitel «Der Korridor» nachlesen. Das ist sehr beängstigend: wie Laure Wyss das quälend langsame, als persönliches Drama erlebte Mutieren «ihrer» Zeitung beschreibt. Sie hat etwas zu diesem Thema zu sagen, darum sagt sie es genau. Sie ist an Genauigkeit interessiert. Die Heldenfiguren von Walter, die «Frauenfiguren von lyrischer Zartheit» (wie die NZZ richtig sagt), die politischen Gruppierungen in diesem Buch, welche ganze Schlagwortkataloge herunterraspeln, die bringen keine Wirklichkeit, und ihre «Phantasie» ist derart abgehoben, uninkarniert, dass sie nicht auf die Realität zurückwirken kann. Natürlich ist der Roman «raffiniert» konstruiert: mit seinen verschiedenen Ebenen. Es ist die Raffinesse eines Baumeisters, der mit den Lego-Bauklötzchen aus dem Lego-Baukasten hantiert, d.h. mit den netten, zurechtgefeilten Elementchen einer vorrealen Welt. Soviel Naivität ist dann nicht mehr unschuldig, sie kämpft auch nicht «Wider die Resignation», sondern für Entwirklichung.

 

Ganz ähnlich unwirklich Koerfers Liebe, nur andersherum. Während Walter alle Liebes-Szenen entsinnlicht, trägt Koerfer mit dem grossen Verruchtheits-Pinsel auf. So eine geile Madame, die auf dem Kaminsims mit einer kostbaren Metallplastik masturbiert: so eine Plastik und so eine Frau hätte jeder Zuschauer auch gern zu Hause. Das wäre ja ein richtiger Softporno geworden, wenn Koerfer in diesem Stil weitergemacht hätte. Viel interessanter als diese geile Nudel, so wage ich zu behaupten, sind die wirklichen Gattinnen der Industriellen in unserm puritanischen Zürich, oder auch ihre Schwestern: echte «précieuses ridicules», und eben gar nicht so sinnlich, sondern brav im Haushalt und bei der Repräsentation ihres Gatten mitwirkend und auf ihre bescheidene Art die Reputation des Hauses mehrend und das Kapital vermehrend. Wäre Korb (Bührle) mit einer solchen Frau, wie sie im Film agiert, gesegnet gewesen: er hätte in der harten Industriewelt nicht Karriere machen können. Das Erschütternde an unsern Industriellen ist ja eben, dass es keine viscontischen Götter, weder Krupps noch Schneiders (Schneider-Creusot, Frankreich) sind, sondern verklemmte, brave, auch brav Kunst sammelnde Spiesser, die sich nach unten ans Kleinbürgertum anpassen und nicht auffallen dürfen, was ihren Lebensstil betrifft. Aber das interessiert Koerfer, der eine gewaltige Freske der Verruchtheit entwerfen wollte, nicht. Zwar strotzt sein Film von historischen Figuren, genau benennbaren, wie z.B. General Guisan, den es wirklich nur in einer einzigen Ausführung gegeben hat, in der Wirklichkeit – und der bei Koerfer ein klappriges, vor dem Rüstungsindustriellen Korb scharwenzelndes Männchen wird. Auch einen englischen Botschafter hat es während des Krieges in der Schweiz wirklich gegeben: auf den damals wichtigen Posten (Spionage etc.) hat man nicht den naivsten aller Diplomaten gestellt. Genau so wirkt er aber bei Koerfer: ein zittriger Greis (Parkinson), der von dem kleinen Polen-Mädchen, das Familie Korb aufgenommen hat, erfährt, wie grausam die Nazis in Polen wüten – und der darauf voller Entrüstung die Party bei Herrn Korb verlässt und ihn mit englischen Sanktionen bedroht. Hier wird der Film besonders peinlich, denn Koerfer hat dokumentarische Fotos von wirklichen Konzentrationslagern eingeblendet; wobei jedermann heute weiss, dass die Alliierten über die Vernichtungslager in Polen genau orientiert waren und nur deshalb nicht eingegriffen hatten, weil ihnen ihre Flugzeuge zu schade und andere militärische Aufgaben vordringlich waren. Also wirkt es lächerlich, wenn im Film der englische Botschafter sich von einem Kind über die deutschen Grausamkeiten orientieren lässt und dann eine grosse Gemütswallung zeigt und eine Änderung der englischen Politik in Aussicht stellt …

Auch hier, bei Koerfer, das raffinierte Spiel mit zwei Ebenen. Nur stimmt keine von beiden, der historische Teil ist fahrlässig-unverbindlich-melodramatisch dargestellt, und der aktuelle Part (Wehrschau) gleitet in Lächerlichkeit ab, z.B., wenn die aufgedonnerte polnische Journalistin ihre aufgeregten Fragen stellt. Schweizerische Offiziere antworten übrigens, trotz allem, nicht so doof an einer Pressekonferenz. Eine politische Diskussion wird es um Koerfers Film nicht geben. Man kann über diese Unwirklichkeit nicht diskutieren.

Noch ein gemeinsamer Nenner, auf den man Walter & Koerfer bringen kann: die Humorlosigkeit. Humor, und besonders seine schwarze Variante, entsteht bekanntlich aus genauem Hinschauen, aus exakter Beschreibung von Menschen und Situationen. Siehe Flaubert oder Frisch. Das Gegenteil der Präzision, idealistisch-ungenaues Schreiben und Filmen, die Degradierung von Personen zu Ideenkleiderständern, produziert scheppernde Pathetik, das Gegenteil von echtem Pathos, also eine Form von Kitsch, d.h. unfreiwilligen Humor. Diesbezüglich haben die beiden Autoren neues Terrain erschlossen.

*

Aber vielleicht darf man vom Wirklichkeitsbezug bei Walter & Koerfer wirklich nicht reden, sie haben jede Kritik mit der Bemerkung, sie seien keine Dokumentaristen, abgeschmettert. Dummerweise.

… und jetzt noch ein Wort über Flaubert: (aus dem Vorwort zu «TROIS CONTES», Flammarion 1965): «Er verwandte grösste Sorgfalt darauf, die Fiktion mit höchst exakt recherchierten Einzelheiten glaubwürdig zu machen, er machte sich zur Pflicht, eine Menge historische Details, Sitten und Gebräuche zu überprüfen, und vernachlässigte dabei weder die Geographie noch die Astronomie, noch die sprache des Landes, das er heraufbeschwören wollte. Er befragte ständig die Spezialisten.»

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