Es ist kalt in Brandenburg

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Es ist kalt in Brandenburg
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Über dieses Buch



Maurice Bavaud, geboren 1916 in Neuenburg, technischer Zeichner und Theologiestudent, kam aus bescheidenen Verhältnissen. Der Vater war Pöstler, die Mutter führte einen Gemüseladen. Katholisches Milieu, sechs Kinder, Vertrauen in Kirche und Staat. Als Maurice Missionar werden wollte, war die Familie stolz. Er besuchte die Missionsschule Saint-Ilan in der Bretagne und kam von dort mit dem Plan zurück, Hitler umzubringen.



Im Berliner Gefängnis hat ihn zweieinhalb Jahre lang niemand besucht. Der Schweizer Gesandte in Berlin, Frölicher, wollte ihn am liebsten vergessen, er nannte den Attentatsversuch «ein verabscheuungswürdiges Verbrechen».



«‹Es ist kalt in Brandenburg› schrieb Meienberg nach dem Film. Das ist kein Materialbuch, kein Buch übers Filmen, auch keine Dokumentation eines Attentats, obwohl Meienberg sehr genau dokumentiert. Meienbergs Sprache schafft eine neue Stufe der Beteiligung. Präzise ist sie und klar, zurückhaltend, trocken (nie vernebelnd), schön.» Süddeutsche Zeitung









Niklaus Meienberg 1979.

Foto Walter Rutishauser/Bibliothek am Guisanplatz, Sammlung Rutishauser



Niklaus Meienberg (1940–1993), Historiker, Schriftsteller und Journalist. Er erfand die Reportage neu und dichtete ungeniert mit dem überlieferten Material europäischer Lyrik. Mit seinen Texten zur Zeitgeschichte war er ein grosser Streiter, dessen «Sprachgewalt» auch seine Feinde bewunderten. Wie kein zweiter hat sich Niklaus Meienberg der Öffentlichkeit ausgesetzt, seine ganze Person hat er in seine Texte eingebracht, und mit seiner ganzen Person ist er für sie eingestanden.



«Für mich ist Meienberg vor allem ein grosser Prosaautor. Wo diese Prosa schliesslich erschienen ist, das ist gleichgültig. Das ist ähnlich wie bei Heine. Heinrich Heine hat einen grossen Teil seines Werks für Zeitungen geschrieben. Das gehört heute zur verbindlichen deutschen Prosa.» Peter von Matt




Niklaus Meienberg



Es ist kalt in Brandenburg



Ein Hitler-Attentat



Limmat Verlag



Zürich




Reisen



Ici, dans le Brandebourg, c’est l’hiver perpétuel.

 Il pleut, il fait froid. Et en Helvétie?

 Hier, in Brandenburg, herrscht ein ewiger Winter.

 Es regnet, es ist kalt. Und in der Schweiz?



(aus einem Brief von Maurice Bavaud,

22. August 1940, geschrieben in Berlin-Plötzensee)



Das Essen sei saumässig gewesen, ein Saufrass, und er habe sich den Magen dabei verdorben und später eine Magenoperation gehabt deswegen, und sei der Magen nicht mehr richtig genussfähig geworden, weil die Internatskost ihn endgültig zerstört habe, der Abscheu vor dem damaligen Essen sitze ihm noch tief in der Magengrube heute, und werde wohl niemals mehr ganz daraus verschwinden, das Essen sei recht eigentlich eine Strafe gewesen, man habe sich, auch bei knurrendem Magen, gefürchtet vor den Mahlzeiten und sich regelrecht zwingen müssen zur Nahrungsaufnahme, und trage er also ewig in seinen Kutteln herum die Erinnerung an die Missionsschule von Saint-Ilan in der Bretagne, und sein Magen werde sich bis ins Grab daran erinnern, sagt Louis Bernet in Estavayer-le-Lac, der Mercerieladenbesitzer, bevor er seine, mit hunderterlei Strickwaren und wollenem Tand bis zur Decke gefüllte, Mercerieboutique verriegelt und sich empfiehlt und in den obern Stock geht; zum Mittagessen.



Er ist nicht, wie ursprünglich geplant, Missionar geworden, sondern Mercerieladenbesitzer in dieser kleinen Stadt, und ist auch kein Attentäter geworden wie Maurice Bavaud, mit dem er die gleichen Schulbänke abgewetzt hat in Saint-Ilan; und niemand schreibt seine Biographie, sein Territorium ist der Mercerieladen, und der wäre vielleicht auch einen Roman wert. Hingegen schreiben alle über Maurice Bavaud; manche machen sogar einen Film über ihn.



Was wäre aus dem jugendlichen und schönen Maurice geworden, mussten wir in Estavayer-le-Lac denken, wenn er nicht in Plötzensee sein Leben verloren hätte. Er ist schon lange tot und doch lebendiger geblieben als seine Mitschüler, zeitlos-ewig-jung und kann nicht altern. Sein Leben hat sich in einer kurzen Spanne verdichtet und zusammengedrängt, und jeder Tag davon wird mit der Lupe untersucht; staubsaugende Historiker und andere Forscher sind auf der Jagd nach seinen Aufsatzheften, Briefe werden durchleuchtet, Gefängnis- und Hotelregister geprüft, die Zellen besucht, in denen er gesessen hat, die Schulkameraden befragt, die Familie auskultiert, der Ort eruiert, wo seine sterblichen Überreste liegen, kurzum:



eine Persönlichkeit.



Tot ist einer erst, wenn sich niemand mehr an ihn erinnert. Auch Bavaud war lange tot, geköpft, gestorben und begraben, wiederauferstanden von den Toten erst nach langer Zeit. Das Andenken an ihn war von Staats wegen ausgemerzt gewesen, keine Spuren durften in der Öffentlichkeit erscheinen, die Erinnerung an ihn war lange Zeit so störend wie er selbst. Jetzt ist er wieder da, aber ein bisschen spät. Notizen, Tonbänder, Bilder, Fotos, Gesprächsfetzen, Dokumente, Gefühle, Dossiers, belichteter Film. Der Aushub häuft sich. Wir haben ein paar Jahre lang versucht, seine Spuren zu sichern, sind ihm nachgereist durch vier Länder und in verschiedene Vergangenheiten und Archive hinunter, Villi Hermann, Hans Stürm und ich.



Hans Stürm und ich sind katholischen Ursprungs und mit Internatsvergangenheit behaftet wie Maurice, sind wir doch beide in der Klosterschule D. eingeweckt gewesen, ich länger als Hans, so dass uns im Laufe der Erinnerungsarbeit die sauren Brocken der eigenen Vergangenheit wieder aufgestossen sind, aber auch die süssen Brocken, wir gehörten, und im Herzensgrund gehören wir vielleicht noch immer, zur katholischen Internationale und sind alle drei, Maurice, Hans und ich, an Fronleichnam hinter der Monstranz hergetrippelt und haben gesungen dabei O SALUTARIS HOSTIA



(– während Villi Hermann als Protestant von all dem nichts abbekommen hat –).



Und auch Roger Jendly aus Fribourg, der in unserm Film die Rolle von Bavaud vorzeigt, ist katholisch imprägniert worden im Collège Saint-Michel und man weiss, dass in Saint-Ilan (Bretagne), Fribourg und Disentis (Graubünden) derselbe lateinisch-gregorianische Choral praktiziert wurde, derselbe Saufrass kam auf den Tisch, und während wir Louis Bernet und seine Ess-Erinnerungen protokollieren, steigt der Geruch des Ess-Saals der Klosterschule D. ins Bewusstsein, und man hört die Mitschüler wütend mit den Löffeln auf die Tische trommeln und sieht sich selbst die immer gleichen tranigen Würste – ach, der unvertilgbare Geschmack dieser fettgeschwängerten Würste in unserem Internatsgaumen – klatschend auf den Tisch schmettern vor Wut und hört die eigene Stimme von weither skandieren SAUFRASS SAUFRASS SAUFRASS SAUFRASS



bis der Präfekt, so nannte man die schwarzberockte Aufsichtsperson, in Saint-Ilan hiess er Préfet de discipline, energisch die Glocke schwenkte und wir, nachdem das Schweigen, respektive das silentium, wie man sagte, augenblicklich eingekehrt war, in die Kirche hinunter trippelten und dort zur Vesper sangen



MAGNIFICAT ANIMA MEA DOMINUM;



meine Seele preist den Herrn.



***



Wer filmt, nähert sich der Geschichte anders als wer schreibt. Es geht nicht ohne Augenschein. Man muss die Örtlichkeiten abschreiten, Augen brauchen, Ohren, bevor Kamera und Tonband die Arbeit beginnen. Man kann sich nicht damit begnügen, ein Buch über Plötzensee, wo Maurice Bavaud gefangen war, zu exzerpieren, man sollte die Zelle sehen und ausleuchten (ein Stück Vergangenheit ausleuchten). Dabei lässt es sich nicht vermeiden, dass auch der heutige Zustand der Strafanstalt ins Bild kommt. Man kann nicht so tun, als ob die Geschichte 1941 eingefroren wäre (beim Tod von Maurice), seither ist viel passiert, auf allen Gebieten, 1955 wurde zum Beispiel die Strafsache Bavaud wieder aufgerollt im sogenannten Wiedergutmachungsprozess, und dieser zweite Prozess ist vielleicht so wahnwitzig wie der erste.



Wir haben einen Film gemacht und sind, mit der Kamera bewaffnet, Bavaud nachgereist, welcher mit der Pistole bewaffnet war und einem Diktator nachgereist ist.



Wozu Geschichte?



Der Diktator ist tot, seine Zeit auch, und wird in dieser Form nicht auferstehen. Maurice ist auch tot, der Film nützt ihm nichts, und ob er der Familie Bavaud, den fünf hinterbliebenen Geschwistern nützt und der greisen Mutter, ist unsicher. Statt dieses Attentat mit der Kamera nachzuvollziehen, hätten wir in all der aufgewendeten Zeit selbst ein Attentat vorbereiten können, an Diktatoren mangelt es nicht, Pinochet, Somoza, der Schah war auch noch im Saft, als wir zu filmen begannen. (Bavaud hat für seine Attentatsvorbereitungen weniger Zeit gebraucht als wir für den Film.)



Wir haben nicht genügend Courage für ein Attentat, sind vielleicht auch nicht von seiner Nützlichkeit überzeugt; oder reden uns das nur ein, weil wir nicht genügend Courage haben.



Beim Filmen haben wir nichts riskiert ausser Nerven und viel Zeit. Der tote Attentäter hat uns jahrelang den Lebensrhythmus diktiert. Maurice hat bei seinen Reisen in Deutschland das Leben gewagt, das gibt ein Missverhältnis zwischen ihm und uns. Man kann jetzt in den beiden Deutschländern ohne Gefahr herumreisen und forschen, nur manchmal wird man ein bisschen schikaniert, und eine historische Erinnerung läuft vielleicht den Rücken herunter, wenn man heute im einen Deutschland die schwerbewachten Gefängnisse, in denen Bavaud damals eingesperrt war, und all die Maschinenpistolen und Polizisten sieht und die gründlichen Sicherheitsmassnahmen, und im andern Deutschland die Stiefel paradieren sieht – aber davon später.

 



Übrigens sind die Gefängnisse heute in Deutschland besser gesichert als damals. Auch der Bundeskanzler wird schärfer bewacht als der Reichskanzler im Jahre ’38. Das ist nötig, weil auch die Attentäter effizienter geworden sind.



(Effizient, aber nutzlos. Seltsame Zeitverschiebung. Die Baader-Meinhof-Gruppe hat sich in der Epoche geirrt, ist zu spät gekommen. Im Jahre ’38 ein paar gut und generalstabsmässig durchgeführte Attentate: und jeder Demokrat hätte sich gefreut, nicht nur klammheimlich. Eins für Himmler, eins für Göring, eins für H.)



Der Generalstab wagte damals kein Attentat. Nur Bavaud hatte schon den Mut.



Der muss beschrieben werden, nachdem er gefilmt wurde. Wenn man gefilmt hat, schreibt man anders, als wenn man nur zu Schreibzwecken unterwegs gewesen ist – vier sehen mehr als einer, und die Kamera protokolliert.



***



Weil wir der Geschichte von Maurice jetzt nachgegangen sind, 1978–1980, können wir von der Gegenwart nicht abstrahieren. Es spielt eine Rolle, ob man diese Biographie 1947, 1955, 1968 oder 1979 erforscht. Wir sind 1938 nicht dabeigewesen.



Aber von den Leuten, welche Bavaud damals angetroffen hat, leben einige noch, und was sie heute meinen, ist vielleicht so erheblich wie ihre Gedanken von gestern. Die Geschichte ist nicht ein sauber abgezirkeltes Gärtchen, ein chemisch herauspräpariertes Produkt, das im Fall Bavaud von der Jahreszahl 1941 eingehagt wird. Und sie entsteht nicht unabhängig von den Geschichts-Schreibern. Weil die Mutter seiner Frau in Plötzensee enthauptet wurde wie Maurice, schreibt Hochhuth anders als Urner, der behütete NZZ-Historiker. Ein etablierter Mensch wird für die Unberechenbarkeit und das jugendliche Draufgängertum von Maurice weniger übrig haben als Nicht-Etablierte, und die Zustände in einem katholischen Internat bedeuten etwas anderes für ehemalige Internatszöglinge, als für einen akademischen Dörrkopf.



Das sind Binsenwahrheiten, aber weil es immer noch Historiker gibt, welche im Ernst meinen, wie der Heilige Geist in völliger Abgelöstheit respektive Objektivität über der Wirklichkeit zu schweben, und ihre eigenen Arbeits- und Karrierebedingungen nicht reflektieren, muss nochmals kurz daran erinnert werden.



Auch ist es nutzlos, sich rückwirkend zu ereifern über die Grausamkeit des Dritten Reichs und längst vergangene Zustände des langen und breiten zu schildern, damit sich der Bürger einen behaglichen Nachmittag macht mit dieser Lektüre und feststellt: Wie schlimm war es damals, wie gut ist es heute; und angenehm frösteln darf in Erinnerung an böse Zeiten – nutzlos, wenn man dabei vergisst, dass Spurenelemente von damals noch vorhanden sind und Anpassung, Feigheit, Unterwürfigkeit, Mangel an rebellischem Geist, Staats-Hörigkeit, Untertanengeist, Behördengläubigkeit, Bravheit, Bequemlichkeit, Borniertheit, Karrierismus, Verklemmtheit und Strebertum, welche das Terrorregime nicht geschaffen, aber ermöglicht haben, immer noch leben.



Man kann ihnen nicht ausweichen, wenn man heute auf den Spuren von Maurice Bavaud unterwegs ist.




Vielfach Nebel und Hochnebel



Die Urteilsbegründung des Volksgerichtshofes, 2. Senat, betr. die öffentliche Sitzung vom 18. Dezember 1939, hält fest:





Nachdem der Angeklagte auf der Nebenstelle der Dresdner Bank unter den Linden noch den gesamten Restbetrag seines Reisekreditbriefes in Höhe von 305.– RM sich hatte auszahlen lassen, begab er sich nach dem Anhalter Bahnhof und fuhr nach Berchtesgaden ab. Dort traf er im Laufe des 25. Oktober 1938 ein, nahm im dortigen Hotel «Stiftskeller» Wohnung und blieb bis zum 31. Oktober 1938 im genannten Ort.



Der genannte Ort muss damals, wenn man dem «Berchtesgadener Anzeiger» Glauben schenken kann, eine beträchtliche Anziehung auf Touristen ausgeübt haben. Für den Monat August 1938 wurden, wie das Fachorgan «Der Fremdenverkehr» vermerkte, in Berchtesgaden und Umgebung 77 948 Übernachtungen gezählt. Man konnte hier oben Schuhplattler-Aufführungen sehen, verträumte Kapellen, eine bedeutende Stiftskirche, relativ unberührte Berge, ein Ganghofer-Denkmal und Hitler. Dieser hatte, seit er in seinem Berghof die Landschaft genoss, eine erkleckliche Vermehrung des Fremdenverkehrs bewirkt. Man hatte ihm auf einer Erhebung, der Reichskanzler-Adolf-Hitler-Höhe, einen Gedenkstein hingesetzt, das dankbare Gewerbe hatte allen Grund dazu. Die Präsenz des bekannten Politikers brachte nicht nur zusätzliche Touristen ins Gebirge, sondern auch einen Tross von Bediensteten, Polizisten, Soldaten, Ministerialbeamten. Gleich hinter Berchtesgaden, in Bischofswiesen, war eine Aussenstelle der Reichskanzlei gebaut worden.



«Fast jeden Tag», schreibt Josef Geiss in seiner schön bebilderten Broschüre, «besuchten Hitler Hunderte von Menschen». Er hat sich ihnen gern und oft gezeigt und Tuchfühlung mit dem Volk gehabt, Hände gedrückt, Kinder gestreichelt, ein paar freundliche Worte gewechselt. Hier war er zugänglicher als in Berlin, volkstümlicher, fast unzeremoniös, die Höhenluft hat ihn halt entspannt. Man konnte gruppenweise zum Berghof pilgern, Metalldetektoren wie heute in den Flughäfen gab es nicht, eine manuelle Durchsuchung fand nur in Ausnahmefällen statt, die Besuchergruppen wurden von den Wachtposten oberflächlich gemustert.



Er war populär.



Im Oktober war allerdings die Führer-Sightseeing-Sason schon vorbei, es gab nur noch wenige Gruppen, denen ein unauffälliger Schweizer Tourist sich hätte anschliessen können. Aber so ganz unmöglich war das nicht. Ein PR-Film des Verkehrsvereins Berchtesgaden, der im Archiv des Verkehrsvereins Berchtesgaden liegt und heute vom Verkehrsverein Berchtesgaden nicht mehr propagandistisch eingesetzt wird, denn er ist ein Stummfilm und auch politisch nicht ganz auf dem neuesten Stand, zeigt, auf eine muntere Art, wie nahe man dem Führer auf die Haut rücken konnte. Man sieht eine Reisegesellschaft, die irgendwo im Unterland den Zug besteigt, einfache Leute, die sich an der Natur und den Monumenten freuen, erster Halt München, Frauenkirche, Feldherrnhalle, Braunes Haus. Dann zunehmend gebirgige Landschaft, Winken aus den Fenstern, Verzehr von Reiseproviant, gute Laune, Ankunft in Berchtesgaden, Schuhplattler von der brünstigsten Art, ein Hotel, zufällig der «Stiftskeller», wo Bavaud abgestiegen ist, samt behäbigem Wirt, die Kapelle St. Bartholomä mit Watzmann-Ostwand, ein monumentales Berg-Kruzifix und abschließend, Sehenswürdigkeit neben andern, der Berghof. Die Reisegesellschaft säumt die schmale Strasse, auf welcher gleich der Wagen des Reichskanzlers herunterkurven wird.



Da kommt er schon, langsam, ein schönes Kabriolett, vermutlich Mercedes, der Chef lässig neben dem Fahrer, ein Dackel rennt knapp vor dem Wagen über die Strasse, das Kabriolett bremst, fährt Schritt-Tempo, der Volkskanzler ein bis zwei Meter vom Spalier der Leute entfernt und ungeschützt in nächster Nähe des Volkes – kein schlechter Moment für einen Pistolenschützen.



Der Film des Verkehrsvereins Berchtesgaden stammt aus dem Jahre 1935, als das Gelände um den Berghof noch nicht abgesperrt war. 1938 war der Zutritt viel schwieriger geworden.



Am 25. Oktober ist Bavaud in Berchtesgaden eingetroffen, am 28. Oktober kam H. «Der Führer wieder auf dem Obersalzberg, bei einem Besuch auf dem Kehlstein mit seinen Gästen, Reichsminister Dr. Goebbels und Frau und ihren Kindern Helga, Hilde und Helmut», steht im Lokalblatt unter einem entsprechenden Foto. Während H., der Kinderfreund, mit den Kindern von Goebbels poussierte, trainierte Bavaud im Wald das Pistolenschiessen; er habe, so heisst es in der Anklageschrift, zu diesem Zweck während der Spaziergänge im Walde auf Bäume aus kurzer Entfernung, etwa auf sieben bis acht Meter, insgesamt ungefähr 25 Schüsse abgegeben.



Die Schiessübungen sind nicht aufgefallen, keine Polizei ist eingeschritten. Das ist eigenartig, denn Berchtesgaden liegt nicht dort, wo Schützenvereine und Milizsoldaten das Schiessen zu einem festen Bestandteil der Landschaft machen.



Schüsse sind in dieser stillen Natur deutlich hörbar, auch solche aus einer kleinkalibrigen Pistole, der Schall trägt kilometerweit.








PR-Film des Verkehrsverein Berchtesgaden, 1935. Touristen in unmittelbarer Nähe des «Berghofs». Im Kabriolett vorne rechts: H.



(Wir haben für den Film die Szene nachgestellt. Man kann den Ton weit in der Runde nicht überhören. Und Bavaud besass keinen Schalldämpfer.)



In Berchtesgaden ging damals alles seinen gewohnten friedlichen Gang. Ende Oktober spielte das Mirabell-Tonkino an der Rainerstrasse «Diskretion Ehrensache» mit Heli Finkenzeller, Hans Holt, Theo Lingen u. d. gr. Komikeraufgebot. Der Wetterbericht des Reichswetterdienstes stellte für den 26. Oktober in Aussicht: Vielfach Nebel und Hochnebel, der sich auch tagsüber nur stellenweise auflöst, weiterhin schwachwindig und kalt, in Höhen vorwiegend heiter, leichter Nachtfrost. Im «Berchtesgadener Anzeiger» suchte gebildetes älteres Frl. mit jahrel. Erfahrung in Pensionsbetrieb, gesund und arbeitsfreudig, gewandt im Verkehr, Maschinenschr., Nähen u. beste Köchin, auch Diät und Veget., passende Stellung, Schriftl. Angebote unter C. L. an die Geschäftsstelle. Auf dem Wimbachlehen, Ramsen, war eine Kuh, beim Kalb stehend, zu verkaufen, in Bad Reichenhall kam der Jud Veilchenblau vor den Richter, und die Bergführer waren unterbeschäftigt, wie das Lokalblatt vermerkte: «Dass sich die Eingliederung der Ostmark in bezug auf Nachfrage nach Bergführern in unserem Gebiet ungünstig auswirken würde, war wohl vorauszusehen nach der langen Grenzsperre und dem begreiflichen Verlangen des deutschen Bergsteigers nach verhältnismässig leicht auszuführenden Hochtouren in den Gletschergebieten.»



Bavaud war hier fremd, er sprach fast kein Deutsch und suchte Anschluss. Die Anklageschrift hält fest:



Auf Anregung des Betriebsführers des Hotels «Stiftskeller» suchte der Angeklagte während der Schulzeit in der Oberschule in Berchtesgaden den dort tätigen Studienassessor Ehrenspeck auf und brachte diesem gegenüber nach der Vorstellung zum Ausdruck, dass er infolge seiner mangelhaften Kenntnis der deutschen Sprache einen Verkehr mit französisch sprechenden Personen in Berchtesgaden suche. In der Folgezeit waren dann der genannte Studienassessor Ehrenspeck und der von diesem weiter hinzugezogene Studienassessor Reuther wiederholt mit dem Angeklagten in verschiedenen Gaststätten in Berchtesgaden zusammen.



Die beiden Studienassessoren haben sich gefreut, sie konnten ihr Französisch praktizieren, und Ehrenspeck liess den jungen Schweizer in der Schule auftreten; endlich jemand, der den Gymnasiasten einen französischen Originalton vorführte. (Vielleicht hat Maurice mit ihnen den subjonctif durchgenommen oder eine Passage aus «Les Lettres de mon moulin» vorgelesen.)



Ehrenspeck ist unterdessen gestorben, aber Reuther, der in Würzburg lebt, erinnert sich genau an den manierlichen, sauber gekleideten jungen Mann, welcher kurze Zeit bei Ehrenspeck hospitiert und einen vortrefflichen Eindruck gemacht habe. Er habe sich als Bewunderer des Nationalsozialismus ausgegeben und sich nach den Möglichkeiten erkundigt, auf den Berghof zu gelangen und den Führer zu sprechen. So etwas sei damals häufig vorgekommen, schwärmerische Leute aus aller Herren Länder seien in Berchtesgaden aufgetaucht, um einen Blick auf den Führer zu erhaschen, und der junge Schweizer sei deshalb nicht besonders aufgefallen. Man habe ihm bedeutet, dass es wohl unmöglich sein dürfte, in einer Privataudienz von H. im Berghof empfangen zu werden; und weil dieser sich sehr unregelmässig dort oben aufhielt, habe auch keine Garantie bestanden, ihn irgendwie, wenn auch nur kurz, zu Gesicht zu bekommen. Deshalb habe man dem jungen Mann empfohlen, sich am 9. 11. nach München zu begeben, weil H. mit Sicherheit immer am Erinnerungsmarsch teilgenommen habe und Maurice dort den Gegenstand seiner Verehrung ohne jeden Zweifel würde sehen können.



Er, Reuther, sei dann aus allen Wolken gefallen, als ihn die Gestapo wegen Maurice verhört habe; desgleichen Ehrenspeck. Man habe dem jungen Mann nie und nimmer ein Attentatsvorhaben zugetraut, er sei auch nicht im geringsten nervös gewesen, und nichts, aber auch gar nichts in seinem Verhalten, hätte sie misstrauisch stimmen können. Auch Major Deckert von der Sicherungsgruppe Berchtesgaden, der hin und wieder an ihrem Stammtisch in der «Post» aufgekreuzt sei, habe keinen Verdacht geschöpft und wäre doch, als Mit-Verantwortlicher für die Sicherheit des Führers, sozusagen professionell in der Lage gewesen, etwaige unlautere Absichten des Hospitanten Bavaud zu durchschauen; dieser habe sich jedoch auch in des Majors Anwesenheit völlig locker verhalten. Man habe sich eben gar nicht vorstellen können, dass ein so korrekt gekleideter, anständiger, sanfter, ehrerbietiger junger Mann etwas Finsteres im Schilde führe; Attentäter habe man sich als dunkle, fanatische, eventuell glutäugige Individuen ausgemalt; und gar ein Attentäter aus der lieblich-harmlosen Schweiz –.

 



Der Vetter von Ehrenspeck, Adolf Ehrenspeck, der heute noch als Anwalt in Berchtesgaden tätig ist, hat Bavaud nicht kennengelernt, aber Willy hat ihm von der Geschichte erzählt. Auch ihm sei der Hospitant in keiner Weise verdächtig erschienen, und Attentate habe man sich generell nicht vorstellen können in dieser reinen Bergwelt. Sein Vetter sei übrigens nicht allzu gut angeschrieben gewesen bei der vorgesetzten Schulbehörde, weil er erstens nicht der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei beigetreten und zweitens, obwohl schon längst im heiratsfähigen Alter, immer noch ledig geblieben war; das sei übel vermerkt worden, einen anständigen Schulmeister habe man sich damals nur verheiratet vorstellen können, und nachdem sein Vetter mehrmals freundlich darauf hingewiesen worden sei, habe er dann doch noch geheiratet, und zwar standesgemäss, nämlich die Tochter eines Oberbergrates aus den nahen Salzbergwerken, eine ehemalige Schülerin, und sei diese Ehe mit Elfriede aber nicht glücklich geworden, weil sein Vetter eher ein Einzelgänger gewesen sei und für die Ehe nicht talentiert. Auf dessen Schulkarriere habe es sich nicht positiv ausgewirkt, dass er, obwohl unwissentlich und unwillentlich, in die Sache mit diesem Attentäter verwickelt gewesen sei, eventuell sei ein kleiner Verdacht an ihm hängen geblieben, weil schon andere Minuspunkte gegen ihn vorgelegen hätten.



Das Gymnasium gibt es immer noch, und Studienrat Schertl, der schon zu Bavauds Zeiten dort unterrichtet hat, ist immer noch im Amt und sagt, alles sei damals, 1938, ganz normal gewesen, nichts Ausserordentliches sei passiert in jenen Zeiten. Er hat deutsche Literatur, Altphilologie, Geschichte und Kunstgeschichte unterrichtet, damals. Gewisse Dichter seien in der Schule nicht behandelt worden, das empfinde er als ganz normal, auch ohne staatliches Geheiss hätte er keine Lust gehabt, Brecht, Thomas Mann, Alfred Döblin durchzunehmen. Juden habe man natürlich nicht im Schuldienst toleriert, auch Kommunisten nicht, das sei selbstverständlich gewesen. Er selbst sei politisch nicht engagiert gewesen, sondern habe sich ganz normal, wie andere Lehrer, verhalten.



Alles ganz normal, sagt Schertl nach jedem dritten Satz.



In der Geschichte habe man den Akzent mehr auf die Mythen-Forschung gelegt, zum Beispiel seien die Sagen rings um den Watzmann, den bekannten Berchtesgadener-Berg, ein beliebter Schul-Stoff gewesen, auch die Geschichte des Oktoberfestes habe dazugehört. Vor dem Unterricht habe die Schülerschaft mit dem Hitlergruss gegrüsst, und nur wenige seien nicht Mitglied der HJ gewesen, Kinder von Generälen etc., deren Eltern mit Verachtung auf die Nazis heruntergeschaut hätten.



Hitler-Bilder seien, soweit vorrätig, in jedes Zimmer gehängt und dafür die Kruzifixe entfernt worden, was allerdings die überzeugten Katholiken nicht als schön empfunden hätten, in dieser traditionell frommen Gegend, und so sei denn die Mutter eines Schülers, eine spinnerte Person, nachts durch ein Schulfenster eingestiegen und habe ein Hitler-Bild ab- und das Kruzifix wieder aufgehängt.



Der Zwischenfall habe für die Frau keine Weiterungen gebracht, weil man sie als deppert angeschaut habe, so was mache ein normaler Mensch nicht. Abgesehen davon habe stets eine gute Disziplin und tadellose Ordnung geherrscht zu jener Zeit, die Kinder von Göring und Bormann seien hier zur Schule gegangen, ganz normal, ihre Väter hatten auf dem Obersalzberg den zweiten Wohnsitz. (Vielleicht hat Bavaud auch mit den Göring- und Bormann-Kindern die französische Grammatik geübt.)



Nur ganz zum Schluss sei ein unangenehmer Zwischenfall zu verzeichnen gewesen. Eine fanatische Lehrerin, die nicht merkte, dass sich das Blatt wendete, habe sich im Frühjahr 1945 auf die Strasse gestellt und einen amerikanischen Panzer mit dem Hitler-Gruss begrüsst, worauf der Panzer mit einer Maschinengewehr-Garbe geantwortet habe und die Lehrerin tot umgefallen sei. Sonst habe die Politik im Lehrkörper keine Opfer gefordert, nur im Krieg seien einige Lehrer, und natürlich auch Schüler, umgekommen.



***



Auf dem Friedhof von Berchtesgaden sind innen an der Umfassungsmauer zahlreiche Grabplatten eingelassen. Es handelt sich nicht um eigentliche Gräber, die entsprechenden Gebeine sind abwesend. Jede Platte zeigt ein wetterbeständi