Das eigene Leben

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Das eigene Leben
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Über dieses Buch

Sie machten Furore, die Reportagen Meienbergs, erregten Aufsehen, wurden viel gelesen und diskutiert. Sie waren genau recherchiert, dramaturgisch sorgfältig gebaut und brillant geschrieben, ihr streitlustiges Engagement fuhr wie ein frischer Wind in den prätentiös-bildungsbürgerlichen Mief der Feuilletons, und bis heute haben sie ihre Frische bewahrt.

Der Inhalt dieses E-Books entspricht dem Kapitel «Das eigene Leben» aus Band 1 der Reportagen, ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli, Limmat Verlag, Zürich 2000:

Inhalt

Aufenthalt in St.Gallen (670 m ü.M.). Eine Reportage aus der Kindheit

Wach auf du schönes Vögelein

O du weisse Arche am Rande des Gebirges! (1133 m ü.M.)

250 West 57th Street

Memoiren eines Chauffeurs

Die Enttäuschung des Fichierten über seine Fiche

Diese bestürzende, gewaltsame, abrupte Lust

Der souveräne Körper – ein veräusserliches Menschenrecht


Foto Roland Gretler

Niklaus Meienberg (1940–1993), Historiker, Schriftsteller und Journalist. Er erfand die Reportage neu und dichtete ungeniert mit dem überlieferten Material europäischer Lyrik. Mit seinen Texten zur Zeitgeschichte war er ein grosser Streiter, dessen «Sprachgewalt» auch seine Feinde bewunderten. Wie kein zweiter hat sich Niklaus Meienberg der Öffentlichkeit ausgesetzt, seine ganze Person hat er in seine Texte eingebracht, und mit seiner ganzen Person ist er für sie eingestanden.

Niklaus Meienberg

Das eigene Leben

Ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli

Limmat Verlag

Zürich

Aufenthalt in St. Gallen (670m ü.M.)
Eine Reportage aus der Kindheit

Aus wirtschaftlichen Überlegungen in die Schweiz getrieben, unter anderem nach St. Gallen, wo ich aufgewachsen bin, denn ein Motorrad kostet in der Schweiz ein Drittel weniger als in Frankreich, weil die Mehrwertsteuer wegfällt, aber wirklich nur gekommen, um diese Maschine zu kaufen und dann sehr schnell zu verzischen hinunter ins Pariserbecken, wurde ich im vergangenen April durch die anhaltend schlechte Witterung und ein für die Jahreszeit unverhältnismässig heftiges Schneetreiben in meiner Vaterstadt länger als geplant zurückgehalten, so dass der knirschend akzeptierte Aufenthalt ein Wiedersehn mit den Gespenstern der Kindheit ermöglichte.

*

Im Vaterhaus noch die Uhren und das alte Holz, die gedrechselten Lampen, ehemalige Ochsenjoche und Spinnräder, die der Vater zu Beleuchtungskörpern umgebaut hatte, drunten in seinem Reich der Drechslerwerkstatt neben der Zentralheizung, wo er auch die Uhren reparierte. Der Vater ist vor zwei Jahren gestorben auf seine stille Art, liegt jetzt auf dem Ostfriedhof unter einem schmiedeisernen Kreuz, von Maler Stecher leicht aufgefrischt. Wenn die Russen dann in St. Gallen einmarschieren, werden sie mit ihren Stiefeln nicht über die Gräber des Ostfriedhofs zu trampeln vergessen, denn sie haben keine Pietät. Das hatten wir in der Schule gelernt beim Lehrer Ziegler zur Zeit des Koreakrieges, im Krontalschulhaus bei den Kastanienbäumen. Die Russen wollten St. Gallen als Einfallstor benutzen, wie schon Hitler. St. Gallen ist ein unübertreffliches Einfallstor, das war ja auch den Hunnen aufgefallen. Der Vater hatte im Hinblick auf seinen Tod schon jahrelang Grabkreuze gesammelt, die nicht benützten hängen jetzt im Keller neben der Waschküche. So hat er vorgesorgt für seine ganze zahlreiche Familie, die jetzt in der Welt draussen zerstreut ist. In St. Gallen geblieben ist keines.

Der Vater war nicht nur ein Grabkreuzsammler, sondern ein Uhrensammler, in erster Linie. Die Uhren haben ihn überlebt und ticken auf ihre verschiedenen Arten. Die getriebenen Zifferblätter mit ihrem Kupferschimmer, die Bleigewichte, Uhrenschlüssel, die Unruhen in den Uhren, ziselierte Gehäuse, mannigfaltige Töne beim Viertelstundenschlag, mit Samt unterlegte allegorische Figuren, die grünlich getönten Summiswalder, auch zwei seltene Zappeler und eine vom Hofuhrenmacher Ludwigs XIV., Louis Martinot, und die vielen Perpendikel. Es tickte, knackte, tönte aus allen Ecken, es schlich auf vielen Zifferblättern, es ging ringsum, ringsum. Den Vater hatte es schon früh gepackt, so dass er überall im Ausland Uhren suchen musste, aus Wien und vom Flohmarkt in Paris kam er mit barocken Stücken heim. Einmal kam er mit einer Orgeluhr nach Hause, die zwölf verschiedene Volksweisen pfiff, für jede Stunde eine andere. «Jetzt gang i ans Brünnele, trink aber net» war die Einuhrmelodie. Diese Uhr war hörbar bis zur Tramhaltestelle St.Fiden, wo die Leute aufhorchten, wenn es hinausdrang in die Mittagsstille. Eine andere Uhr hat er heimgebracht mit einem ovalen kupfernen Zifferblatt, darauf war ein Lustgarten eingraviert, in der Mitte des Gartens ein Brunnen mit Frauenstatue, die Wasser aus ihren Brüsten spritzte, zwei Sprutz Liebfrauenmilch ins Becken, dem sich höfisch gekleidete Männer näherten, die ihren Frauen unter die Röcke griffen, ca. 1730, aus dem süddeutschen Raum. Wohin sie griffen, habe ich erst in der Pubertät begriffen, vorher war es für mich einfach ein golden schimmerndes Zifferblatt, aber in der Pubertät stand ich oft vor dieser Uhr und spürte meinen Schwengel wachsen. So hat mein Vater die Zeit gesammelt, die ihm sonst viel schneller verrieselt wäre, und hat die Zeit konzentriert in seinem Haus eingeschlossen, die vergangene höfische Weltzeit aus Frankreich und der Donaumonarchie. In dem verwunschenen Haus war alles gerichtet für den Empfang des Kaisers, vergilbte Stiche und Zinnplatten und alte halbblinde Florentinerspiegel und Intarsienschränke und Meissner-Porzellan und die Uhr des Hofuhrenmachers Louis Martinot und Silberbesteck, aber der Kaiser ist nicht gekommen, also füllte der Vater den Rahmen mit den nächstbesten Leuten, die zu haben waren, zu denen er nicht gehörte, zu denen er aber aufschaute, der Vater war nämlich dem Kleinbürgertum zugehörig, christlichsozial gestimmt sein Leben lang, war Revisor bei der Darlehenskasse System Raiffeisen, beruflich gesehen hätte er Umgang haben müssen mit Prokuristen und Kassierern. Doch der gediegene Rahmen schrie nach einem gediegenen Bild, und darum haben uns die Uhren einen leibhaftigen Bundesrat ins Haus getickt, Holenbein oder Holenstein oder Holbein, ich weiss nicht mehr genau, auch päpstliche Hausprälaten und Gardekapläne und sogar die Witwe Saurer, die Lastwagenerbin aus Schloss Eugensberg. Diese war sehr herablassend. So pendelte der Vater zwischen den Klassen, ein ewiger Perpendikel. Jetzt gang i ans Brünnele, trink aber net. In den Vater war eine Unruhe eingebaut.

Wenn man aus dem Haus nach Norden geht, ist man sofort beim Primarschulhaus. Noch immer die Gerüche aus der Kindheit, die Bodenwichse und der Kiesplatz, nur der Abwart Merz ist nicht mehr da. Und dort hinter der Tür im ersten Stock das Pissoir, schwarz gestrichen, wo der Lehrer Tagwerker, der immer von Müllern und Mühlsteinen und Mühlrädern vorlas, jeden Tag pünktlich um fünf nach zehn brünzelte, es klappert die Mühle am rauschenden Bach klippklapp, man konnte seine Uhr danach richten, wenn man schon eine geschenkt bekommen hatte zur Firmung oder Konfirmation. Wir wurden angehalten, ebenso pünktlich zu brünzeln in der Pause. Nicht alle haben es gelernt, Seppli Allenspach, der immer in löchrigen Strümpfen und mit seiner Schnudernase in die Schule kam vom Hagenbuchquartier herunter und der später in der Nähe des Gaskessels wohnte, hat es nie kapiert, streckte mitten in der Geschichte vom Grafen Eichenfels seinen Arm auf und wollte hinaus, musste sein Wasser zur Strafe dann einige Minuten zurückbehalten. Er ist dann auch in der dritten Klasse sitzengeblieben. Der Lehrer war kein Tyrann, nur sehr ordentlich, er galt als Reform-Lehrer, hatte viele neue pädagogische Ideen, Tatzen haben wir selten bekommen. Bei ihm haben wir auch gelernt, dass man die Tätigkeit des Scheissens nicht Scheissen nennen darf, sondern: ein Geschäft machen, äs Gschäft, auch seichen durften wir nicht mehr, sondern nur noch brünzeln oder brünnele. Sehr jung haben wir gelernt in St.Fiden-St. Gallen, dass ein Geschäft etwas Selbstloses ist, man gibt das Liebste her, das man hat, und verspürt Erleichterung dabei. Oder war damit etwas Schmutziges, aber Naturnotwendiges gemeint? Jedenfalls war Geben und nicht Nehmen gemeint. Rolf Ehrenzeller, der Sohn des Tramkondukteurs, und Seppli Allenspach haben weiterhin geschissen bis weit in die dritte Klasse hinauf, vielleicht machen sie auch heute noch keine Geschäfte, sie hatten Schwierigkeiten mit der neuen Sprache, durften die altvertraute Tätigkeit plötzlich nicht mehr beim Namen nennen. Dem Lehrer Tagwerker bin ich viel später einmal im Trolleybus begegnet und habe ihm seine Krawatte öffentlich straffgezogen, die mir unordentlich gebunden schien. Da wurde er ganz blass in seinem zeitlosen Gesicht, das unverändert in die Welt hinaus glänzt.

Wenn man vom Vaterhaus weg in den Süden geht, kommt man über eine lange Stiege zur Speicherstrasse, die ins Appenzellische führt, hat einen weiten Ausblick über den Bodensee bis ans deutsche Ufer. Zuerst eine Anstrengung auf der langen Stiege, dann der schöne Weitblick. Der Vater nannte das einen lohnenden Spaziergang. Ich war etwa vier Jahre alt, da haben sich die St.Galler in lauen Kriegsnächten dort oben versammelt und nach Friedrichshafen geglotzt, wo ein Feuerwerk abgebrannt wurde bei den Dornier-Flugzeugwerken. Mir schien dort drüben ein besonders lohnender Erstaugust gefeiert zu werden, Geräusche wie von Raketen und Knallfröschen und ein Feuer wie das Bundesfeuer auf dem Freudenberg, manchmal bebte auch die Erde wie beim Vorbeifahren der Speicherbahn, und lustige Feuergarben und Leuchtkugeln standen am süddeutschen Himmel, und über unsern Köpfen war ein dumpfes Rollen, ein Tram fuhr den Himmel entlang. Am nächsten Sonntag predigte der Vikar Hugenmatter in der Kirche von St.Fiden, der sanfte Hugenmatter mit den Haselnussaugen und dem welligen Haar, nahm Bezug auf den Feuerschein, sagte, der hl. Landesvater Bruder Klaus habe die Heimat wieder einmal gnädig behütet, nach der Predigt singen wir das Lied: «O Zier der Heimat Bruder Klaus o Vorbild aller Eidgenossen.» Seit dieser Zeit hat der Vater eine Abneigung gegen die Schwaben gehabt, die er in zwei Aktivdiensten bekämpfte, zuletzt als Brückenwache in Gonten/ai. Der Gefreite Alois M. hat seine militärischen Effekten immer in einwandfreiem Zustand gehalten, die Schwaben sind dann auch wirklich nicht bis nach St. Gallen vorgedrungen, dieser Hitler, der dank dem Frauenstimmrecht an die Macht gekommen ist, wie der Vater immer mit einem triumphierenden Lächeln zur Mutter sagte, wenn die Rede aufs Frauenstimmrecht kam oder auf Hitler. Nachdem der Abwehrkampf nach aussen erfolgreich verlaufen war und die Deutschen 15 km vor St. Gallen gestoppt werden konnten, auf der Linie Buchs–St. Margrethen–Rorschach, hat es der Vater sehr empfunden, dass ich ihm lange nach Kriegsende eine Deutsche in die Familie einschleppte, die Byrgit aus Hamburg, die ich vor der Verlobung, die dann nicht zustande kam, einige Tage in St. Gallen akklimatisieren wollte. Aber obwohl Byrgit grosses Interesse für seine Uhren entwickelte, hat der Vater all die Tage kaum ein Wort mit ihr gewechselt. Ich habe damals nicht viel gehabt von der Byrgit und ihren Zitterbrüsten, ihren steifen Wärzchen und flaumig-schwäbischen Schenkeln, wir wurden getrennt untergebracht im ersten und im dritten Stock, der Vater wollte den Lustgarten nur auf Zifferblättern dulden. Es war ein bitterkalter Winter, und wir versuchten auf einen Heustock auszuweichen ins Appenzellische hinauf, verkrochen uns in einen Stall in der Nähe von Trogen, wo damals die Maul-und-Klauen-Seuche herrschte, und alle Ställe mit einem Sägemehlkreis umgeben waren, zum Zeichen, dass man nicht eindringen dürfe wegen Ansteckungsgefahr. Aber wir durchbrachen den Sägemehlkreis, bestiegen den Heustock, schälten uns aus den Kleidern, die Halme stachen ins Fleisch, wegen der Kälte ging es zuerst nicht richtig, als ich endlich in die Byrgit eindringen konnte, tönte ein Hundegebell vor dem Stall, knarrend ging die Tür auf, und ein Appenzeller-Bauer mit seinem Bläss rief: Was treibt ihr dort oben? Die Kleider zusammenraffend, sagte ich: Wir machen ein Picknick, es ist kalt draussen. Der Bauer eskortierte uns auf den Polizeiposten nach Trogen, wo die Personalien überprüft und wir auf die Symptome der Maul- und-Klauen-Seuche aufmerksam gemacht wurden, die wir vielleicht jetzt mit uns herumtrügen. Wer weiss, sagte der Kantonspolizist, denn sie sei auch auf Menschen übertragbar.

 

St. Gallen und sein Hinterland, Gallen- und Nierenstadt, eine Gegend, wo die Liebe reglementiert war und die Blasen reguliert wurden und die Eingeborenen den wöchentlich einmal stattfindenden Geschlechtsverkehr mörgele nannten. Dieser fand im allgemeinen am Sonntagmorgen früh statt. Die Woche über war die Liebe zugunsten der Geschäfte unterdrückt, die Stickereiblüte war mit werktäglichem mörgele nicht vereinbar. Die Liebe überall zurückgebunden, sogar im Freudenbergwald sah ich die St.Galler immer nur spazieren. Die Lust hatte sich in Ortsbezeichnungen hineingeflüchtet, und dort bleibt sie auch, Lustmühle, Nest, Freudenberg. Der Freudenberg hat seinen Namen von der Freude, welche die spazierenden St.Galler empfinden, wenn sie auf den gegenüberliegenden Rosenberg blicken, der herrschaftlich überbaut ist durch die Residenzen der reichen Mitbürger, die es durch ihre Tüchtigkeit zu einer Villa gebracht haben, während es die meisten St.Galler nur zu einem lohnenden Spaziergang bringen, etwa durch das Tal der Demut zum Wenigerweiher. Sie konnten auch aufblicken zur Handelshochschule, welche den Rosenberg krönend abschliesst, oder den Blick verweilen lassen in der Niederung bei der Strafanstalt St. Jakob, welche den Rosenberg unten säumt. Soweit ich mich zurückerinnern kann, hat man in St. Gallen das Gefängnis nie Gefängnis genannt, sondern immer: Strafanstalt. Nur die Grossmutter, die im ländlichen Thurgau aufgewachsen war und sich nicht gerade genierte, sprach in ihrer unkultivierten Art vom «Chäfig».

Spazieren, bewundern, aufschauen, Erholung für das Volk: spazierend am Sonntag den Reichtum der Reichen betrachten, welchen es werktags geschaffen hatte. Monumente bewundern, über den Klosterplatz, der ins Sonntagnachmittagslicht gebadet war, Sonnenschein am Boden sehen wir und trockenen Staub, nicht jeder kann eine Villa haben, hatten sie in der Schule gelernt, es muss auch Strassenputzer geben, wohin geht sonst der Staub und das Fettpapier, es gibt keine schmutzigen Berufe, und jeder Beruf hat seinen Stolz, lieber ein guter Strassenwischer als ein schlechter Doktor. Sie hatten es nie andersherum gehört: lieber ein guter Doktor als ein schlechter Strassenputzer. Bald aber wird, wie ein Hund, umgehn in der Hitze meine Stimme auf den Gassen. Hat einer gewohnt in der Nähe von St. Gallen, war Hauslehrer in Hauptwil im Landhaus eines sanktgallischen Industriellen, mit einem Strassenputzerlohn, nur zehn Kilometer nördlich im Thurgau, gehörte zur Dienerschaft, kam dem Industriellen billig zu stehen, ass am Katzentisch, hiess Hölderlin Friedrich. Rauscht so um der Türme Kronen/Sanfter Schwalben Geschrei. Wer die Primarschule überlebt hatte, nicht sitzengeblieben und nicht in die Förderklasse oder die siebte Klasse gekommen war, wurde, wenn er nicht ein katholischer St.Galler war, normalerweise im Schatten der Klostertürme versorgt, wo die Kath. Sekundarschule liegt, gleich neben der Sparkasse des Kath. Administrationsrates, Mädchen und Buben getrennt, nur in der Schulmesse und für den Lateinunterricht im gleichen Raum. Latein durfte nehmen, wer für einen höheren Bildungsgang vorgesehen war, und das waren zu meiner Zeit wie durch Zufall oft solche, deren Väter auch schon Latein gehabt hatten. Gut so, da konnte der Vater bei den Lateinaufgaben helfen. Latein war ja sehr streng, da konnte man nur die Besten brauchen, es war auch sehr viel Wille verlangt für die fremdartigen Vokabeln, ein gutes Elternhaus zur Unterstützung des Schülerwillens war notwendig. Der Lateinlehrer wurde Präfekt genannt, da waren wir gleich ins alte Rom versetzt. War ein bleicher Kobold, spitz und bleich, hatte es auf der Galle, hatte viel aus den stalinistischen Schauprozessen gelernt, hatte wieder dieses zeitlos pergamentene Lehrergesicht, hatte schon nach der Schlacht von Bibracte den Helvetiern die a-Konjugation eingebläut. Der unvergessliche Präfekt! Nicht dass er ungerecht gewesen wäre, er bewertete streng nach Leistungen, ganz wie Stalin. Beim Zurückgeben der Lateinklausuren hatte er eine Art, seine Teilnahme zu steigern, je weiter die Noten sanken. Je schlechter die Leistung eines Zöglings war, desto genussvoller wurde sie besprochen, gegeisselt, wie ein amputiertes Organ kunstvoll präpariert und herumgezeigt, mit wonnigem Schmatzen ins rechte Licht gestellt. Es waren ungemein scharfsinnige Rezensionen, die uns das zapplige Priesterlein dort bereitete, und bald war der anfängliche Bestand an Lateinschülern auf die Hälfte zusammengeschrumpft. Da ich den Unterschied zwischen Akkusativ und Ablativ immer als pervers empfand und die reinen i-Stämme sitis turris puppis vis febris Neapolis Tiberis kaum von den unreinen unterscheiden konnte und überhaupt am römischen Getue wenig Freude empfand, hatte ich bald Anrecht auf die längsten und kunstvollsten Ansprachen des Präfekten, stand fortwährend als oberster akkreditierter Lateintrottel im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Davon bekam ich eine dicke Haut und hätte mich wohl klaglos mit den Geisselungen abgefunden, suum cuique, jedem das Seine, da ich das Latein nicht kapierte, musste ich von niederer Intelligenz sein und hatte die Kasteiungen verdient. Und hätte auch den Lateinunterricht längst quittiert, wäre er nicht in dieser Schule die einzige Möglichkeit gewesen, Cécile E. aus der Nähe zu betrachten, nachdem für alle übrigen Fächer eine strikte Geschlechtertrennung herrschte; in welche Cécile ich mich sehr verliebte. Vielleicht war es nicht nur die Person, sondern auch ihre hervorragenden Leistungen auf dem Lateinsektor, welche die Liebe erzeugten, die unerreichbaren Sechser und Fünf-bis-sechser, zu welchen ich bewundernd aufschauen konnte, denn ihre Leistungen waren monumental. Es war eine ausweglos-tragische Situation. Ging ich weiter ins Latein, so wurde ich regelmässig im Angesicht der still verehrten Cécile E., welcher meine Liebe nicht bekannt war, gedemütigt. Gab ich das Latein auf, so wurde mir der Anblick des sanften Mädchens entzogen. Es war ja damals noch nicht so, dass man sich in der Freizeit treffen, umarmen und lieben durfte, das war in jener Zeit auch den freisinnigen ausgewachsenen St.Gallern kaum gestattet, viel weniger noch den konservativen Halbwüchsigen. Blieb nur die Möglichkeit des stillen Verschmachtens während des Unterrichts, und nach dem Latein konnte man ihr durch den St.Galler Herbstnebel nachschleichen, sah die geliebten Konturen von weitem und ihren Atem in der harten Luft gefrieren. Bald stellte sich heraus, dass sie am Rosenberg wohnte, droben bei den Dichtern, welche die Reichen konfisziert hatten: Lessingstrasse, Hölderlinstrasse, Goethestrasse. Und es kam auch an den Tag, dass ihr Vater Direktor war in derselben Bank, wo mein Vater Prokurist war. Der Abstand zwischen ihrem Vater und meinem war so gross wie die Kluft zwischen meinen Lateinkenntnissen und den ihrigen. Ach, die ferne unerreichbare Cécile dort am Rosenberg, wo Geld, Latein, deutsche Dichter und höhere Töchter den Abhang besetzt halten! Eine ungeheure Gier und Hemmungslosigkeit wären nötig gewesen, um diese Schranke zu überspringen, ein grosser ungezügelter Appetit.

Dass dieser schöne Appetit nicht aufloderte, dafür war der Rektor der Kath. Sekundarschule besorgt, aus ganzer Seele, ganzem Herzen und all seinen Kräften, welche beträchtlich waren. Er hatte immer irgendeine Kampagne gegen die Erotik laufen, ob es nun die Anti-Familienbad-Kampagne war, die Kampagne für eine angemessene Länge der kurzen Hosen, die Kampagne gegen schüchterne Ansätze von Paarbildung auf dem Schulweg, die Kampagne gegen die tödlichen Gefahren des Onanierens. Bei der Anti-Familienbad-Kampagne gelang es ihm, ganz katholisch St. Gallen einzuspannen, vom aufstrebenden christlich-sozialen Politiker namens Fu. bis zu Jungwachtführern und Müttervereinspräsidentinnen. Um die Vermischung der Geschlechter zu verhindern und jeden fehlbaren Zögling sofort im Griff zu haben, hatte dieser Rektor besonders abgehärtete und gegenüber den Verlockungen des Fleisches widerstandsfähige Burschen (oder Porschten, wie man in St. Gallen sagt) in den verschiedenen sanktgallischen Familienbädern postiert, wo sie die Namen der Fehlbaren notieren mussten, welche sodann hinter den gepolsterten Türen des Rektorats einer postbalnearen Massage unterzogen wurden. Es waren dick gepolsterte Türen, aber sie waren nicht undurchlässig genug für die herausdringenden Schreie, wobei es sich in den wenigsten Fällen um Lust-Schreie handelte. Unvergesslicher Rektor, unvergessene Schreie! Ausschweifender, lasziver Rokokobau, im ersten Stock die Stiftsbibliothek mit den alten Manuskripten und der ägyptischen Mumie, der heilige Gallus hat das Christentum aus Irland eingeschleppt, und gleich anschliessend im zweiten Stock das Kabinett des Rektors. Dieser, im Gegensatz zum spitzig-bleichen Präfekten, war ein kolossal wuchtiges Mannsbild mit blauen Porzellanaugen, ein schwitzender Koloss voll unerlöster Männlichkeit, wusste genau, in welchem Glied der Teufel hockte, hat die Höllenpein geschildert, die auf alle Pörschtli wartet, die fahrlässig mit dem Glied spielten. Der heilige Gallus hatte das Christentum seinerzeit gebracht, ohne lange zu fackeln, hatte es den Alemannen aufgehalst, die mit ihren heidnischen Faunen eigentlich gut gefahren waren. Als Medizin gegen die teuflischen Verlockungen empfahl der Rektor kalte Duschen, Abhärtung durch Langlauf und Weitsprung, in besonders hartnäckigen Fällen den Verzehr von Gemüse und, falls unsere Schwänze trotzdem nicht stillhalten wollten und der Saft nach einer gelungenen Abreibung hervorspritzte, einen sofortigen Gang zum Beichtvater, damit er uns die Todsünde nachliesse. Wer nämlich sofort anschliessend an die Todsünde starb ohne beichtväterliche Nachlassung, der fuhr stracks zur Hölle, so stand es in den Beichtspiegeln. Den Genuss von Gemüse hat er übrigens nicht mehr empfohlen, nachdem einst zur schwülen Sommerszeit, als die Mädchenbrüste besonders lustig an der Kath. Sekundarschule vorbeiwippten und es überall nach Fruchtbarkeit roch, ein Zögling mit brünstiger Stimme in den Pausenhof hinunterschrie: Gemüüüse, Gemüüüse!

 

So war das im Schatten der Klostertürme, im Herzen St. Gallens, dort beim Steinachwasserfall, wo Gallus gestolpert und dann auf die Idee gekommen war, die Gegend mit Christentum zu überziehen. So war das in dieser Schule. It seems so long ago, wie Leonard Cohen sagen würde. So weit entfernt und abseits scheint diese Zeit zu liegen, obwohl es erst 18 Jahre her sind, dass man sie nur noch als Archäologe und Paläontologe der eigenen Vergangenheit erfassen kann, so eingeschrumpft und verdorrt wie die Mumie der ägyptischen Königstochter in der Stiftsbibliothek. Und doch steht die Kathedrale noch im alten Glanz, wurde sogar restauriert, wo wir immer zur Schulmesse gingen, wo die vielen geilen Barockengel herumflattern und Maria Magdalena in ihrer Brunst die Hände verwirft und der sinnliche Stuck uns Zöglingen den Kopf verdrehte. Und dann die Kuppel mit der hemmungslosen Durcheinandermischung verzückter Frauen und Männer, besonders schöne Leistung des Barockmalers Joseph Wannenmacher aus Tomerdingen bei Ulm, eine richtige Seelenbadewanne, wenn man sich die Kuppel umgekehrt vorstellte, das schamlose Familienbad mitten im Sakralraum. Manchmal haben wir uns die Kathedrale während langen Hochämtern oder Maiandachten auch als spanische Reithalle vorgestellt, ein vorzüglicher Rahmen für die internationalen St.Galler Pferdesporttage. Erst wenn man die enthemmte Sinnlichkeit dieser Kathedrale kennt, wird man die Leistung des Rektors vollumfänglich würdigen: uns mitten in dieser lüsternen Architektur zur Enthaltsamkeit vergattern, das wäre nicht jedem gelungen. Aber wenn man's richtig bedenkt, lag es eventuell doch in der Natur der Sache. Der Barock stachelte unsere Sinnlichkeit an, und weil die Sinnlichkeit nirgendwo anders herauskonnte, mussten wir sie voyeurhaft am Barock befriedigen. Der Präfekt hätte gesagt: Diese Kunst ist terminus a quo und terminus ad quem. Der Barock biss sich in den Schwanz, wie man vielleicht sagen könnte. Die Brunst konnte aber nicht nur zu den Augen hinaus, sondern auch über die Stimmbänder entweichen, indem die Zöglinge dem Domchor beitraten. Der Domchor war weitherum berühmt für die Qualität seiner Aufführungen.

Die nächste Anstalt in St. Gallen, in die ich gesteckt wurde, war die Kaserne auf der Kreuzbleiche. Es war noch nicht die Zeit der Dienstverweigerer und auch nicht die Zeit der Aufrührer, die gerne in der Rekrutenschule ausharren, weil man dort schiessen lernt. Die Kaserne war überhaupt nicht mehr barock, sondern im klassizistischen Stil gehalten, wie das Schlachthaus und die Kantonsschule. Der Klassizismus entspricht dem aufblühenden Bundesstaat, so wie der Barock dem absterbenden Ancien régime der sanktgallischen Äbte entspricht. Das Schweizerkreuz auf den Militärwolldecken musste sich immer genau im Zentrum der eisernen Betten befinden. Das sanktgallische Liktorenbündel, die sogenannten fasces, war hier nirgends zu erblicken. Neue Manieren wurden eingeführt, eine Steigerung der Sekundarschulmanieren fand statt. Man musste den Vorgesetzten, welche an ihrem feinen Tuch erkennbar waren, seinen Namen über fünfzig Meter weit lauthals entgegenschreien. Sie nannten es grüssen oder melden. Ärschlings musste man sich eine grosse Verkniffenheit und Straffung angewöhnen. Sie nannten es strammstehen. Der Feldweibel prüfte die Strammheit der Arschmuskeln. Sollte ich einst liegenbleiben in der blutüberfüllten Schlacht, sollt ihr mir ein Kreuzlein schneiden auf den dunklen tiefen Schacht. Die Armee dient sowohl der Abwehr von Angriffen von aussen als auch der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung nach innen. Die Ordnung des Lehrers Tagwerker wurde in letzter Instanz auf der Kreuzbleiche garantiert, ebenso die Ordnung am Rosenberg. In der dritten Woche war Bajonettexerzieren. Parade vor, Parade rückwärts, Leiche abstreifen hiess der Befehl, dazu wird eine Bewegung mit dem aufgepflanzten Bajonett ausgeführt, indem man zuerst horizontal in den Feindkörper hineinsticht, der vorläufig noch imaginär war, und sodann den Leichnam mit dem linken Fuss abstreift, dabei mit dem rechten Fuss Posten fassend. Nachdenklich geworden, weil uns in der Kath. Sekundarschule die Liebe zum Feind eingeflösst worden war, auch das Hinhalten der linken Wange, wenn der Rektor auf die rechte geschlagen hatte, und weil wir die Feindesliebe so weit getrieben hatten, sogar den Rektor und Präfekten zu lieben, liess ich mich bei Leutnant R. für die Sprechstunde vormerken, die immer nach dem Hauptverlesen stattfand. Kommt nur zu mir, wenn ihr ein Problem habt, hatte er gesagt. Leutnant R. hörte sich mein Problem an: Warum sollten wir einen abstrakten Feind abstechen, wenn wir bisher unsere konkreten Peiniger in der Schule hatten lieben müssen?

Er lächelte kurz und sagte: Sie sind doch Katholik, oder? Also dann. Die schweizerischen Bischöfe haben erklärt, dass die Ableistung des Militärdienstes mit dem christlichen Gewissen vereinbar ist. Ich hoffe, damit auf Ihre Frage geantwortet zu haben.

Seit diesem Gespräch hatte es mir in der Rekrutenschule, obwohl man dort viel Nützliches über den Umgang mit Sprengkörpern lernt, nicht mehr richtig gefallen wollen, und nach insgesamt drei Wochen Aufenthalt in dem langgestreckten klassizistischen Gebäude war der Dienst für mich zu Ende. Ich hatte ein altes Röntgenbild finden können, welches unerträgliche Schmerzen an der Wirbelsäule nachwies, einen alten Scheuermann. Mein Vater schaute bitter auf den dienstuntauglichen Sohn, als ich in Zivil nach Hause kam. Jetzt musst du Militärersatz zahlen, sagte er, und das Militär hätte dir gutgetan.

Als das Wetter aufhellte und die Gespenster im Schneetreiben untergegangen waren und das Motorrad strotzend bereitstand für die Fahrt in eine mildere Stadt, schlenderte ich mit B. noch ein wenig durch die Altstadt, Metzgergasse, Goliathgasse, Augustinergasse. Vieles hat sich geändert seit jenen Zeiten, sagte B., eine gewisse Humanisierung hat auch hier stattgefunden, wollen jetzt abschliessend eins trinken. Wir tranken Rotwein im Restaurant «Alt-St.-Gallen», an der Augustinergasse. Das ist eine freundliche Pinte mit falschem Renaissancetäfer und falschen Butzenscheiben, wodurch der Eindruck des Alten entsteht. Rentner und Arbeiter, auch ausrangierte Huren verkehren hier. Die Wirtsstube mit niedriger Decke und gemütlich, Stumpenrauch, Sangallerschöblig, Bratwörscht, Bierflecken, Stimmen. Und die Sanktgaller Freisinnigen, welche jetzt die Wiedereinführung der Todesstrafe verlangen? Nach einiger Zeit sagte er, zur Serviertochter gewandt: Fräulein, könnten Sie uns einmal den Schrank dort öffnen? Das Fräulein öffnete den Schrank für eine Gebühr von 20 Rappen. Eine Guillotine kam zum Vorschein, kein nachgebautes Modell, sondern eine richtige Guillotine aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, ein fahrbares Stück, das in Süddeutschland auf den Dörfern gedient hatte. Die Serviertochter nannte sie Güllotine. Früher sei sie offen im Restaurant gestanden, sagte das Fräulein, aber weil die Leute sie immer betätigen wollten und das Fallbeil heruntertätschen liessen, habe man die Güllotine einschliessen müssen, sie sei ausserordentlich heikel, und man könne sie nicht versichern. Wo normalerweise der Nacken liegt, ist jetzt ein Holzscheit mit einer tiefen Kerbe zu sehen.

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