Forschen

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Über dieses Buch

Sie machten Furore, die Reportagen Meienbergs, erregten Aufsehen, wurden viel gelesen und diskutiert. Sie waren genau recherchiert, dramaturgisch sorgfältig gebaut und brillant geschrieben, ihr streitlustiges Engagement fuhr wie ein frischer Wind in den prätentiös-bildungsbürgerlichen Mief der Feuilletons, und bis heute haben sie ihre Frische bewahrt.

Der Inhalt dieses E-Books entspricht dem Kapitel «Forschen» aus Band 1 der Reportagen, ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli Limmat Verlag, Zürich 2000:

Quellen und wie man sie zum Sprudeln bringt

Die beste Zigarette seines Lebens

Hptm. Hackhofers mirakulöse Kartonschachtel

Zahl nünt, du bist nünt scholdig

Die Schonfrist

Bonsoir, Herr Bonjour

Bonjour Monsieur

Vorwärts zur gedächtnisfreien Gesellschaft!

Eidg. Judenhass (Fragmente)

1798 – Vorschläge für ein Jubiläum

Die Schweiz als Schnickschnack & Mummenschanz

Die Schweiz als Staats-Splitter


Foto Roland Gretler

Niklaus Meienberg (1940–1993), Historiker, Schriftsteller und Journalist. Er erfand die Reportage neu und dichtete ungeniert mit dem überlieferten Material europäischer Lyrik. Mit seinen Texten zur Zeitgeschichte war er ein grosser Streiter, dessen «Sprachgewalt» auch seine Feinde bewunderten. Wie kein zweiter hat sich Niklaus Meienberg der Öffentlichkeit ausgesetzt, seine ganze Person hat er in seine Texte eingebracht, und mit seiner ganzen Person ist er für sie eingestanden.

Niklaus Meienberg

Forschen

Ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli

Limmat Verlag

Zürich

Quellen und wie man sie zum Sprudeln bringt*

«Die Reformazzen memen immer, nur die schriftl. Überlieferung sei gültig. Ha!, sagten die Katholen, es gibt auch noch die mündliche. Das ist ein alter Religionskrieg. Und siehe da, deswegen ist die Tradition und ihre Schreibung, die Geschichts-Schreibung, bei K. Urner und G. Kreis und bei der NZZ so fad und so schal, so lau und so schmal, weil sie nicht schöpfet aus dem lebendigen Wasser der Mündlichkeit. Dich aber will ich ausspucken aus meinem Maul, sprach der herr god zebaoth, weil Du mir Langweile erregest unter der Zunge, unter meiner armen lingua, hinter dem Gaumensegel wird es mir so trocken hierzuland, heilantonner, und will Dich verpfeien bis Dir Dein Hendli verdorret, hui bis es tör ist. Und vom gregorianischen Koran verstehen sie auch nichts & haben ein ganz lüggenhaftes Weltgebewde! Gib mir die verlorne Zounge wieder pange lingua gloriosum corporis mysterium, und jetzt, Körperlichkeit in die Sprache sus tätschts.»

Thomas von Aquin, 1983

Es gibt * Eine Antwort auf Äusserungen von Professor Edgar Bonjour in den LNN vom 16. Juli 1977. Bonjour erklärte u.a., mündlichen Quellen könne man weniger vertrauen als schriftlichen, Dokumente seien also in jedem Fall vertrauenswürdiger als Interviews, die ein Historiker mit den betroffenen Personen der Zeitgeschichte führt. Ausserdem müsse der Historiker, also er z.B., «untendenziös» sein und arbeiten. Bonjour: «Der Historiker kommt – unvoreingenommen – aufgrund der Fakten zu einer Wertung. Meienberg hat eine – vorgefasste – Meinung und unterlegt sie mit Interviews und solchen Fakten, die seine These stützen. Das nennt man Tendenz.» Andrerseits müsse es «einem jungen Filmautor durchaus erlaubt sein, eine Tendenz zu haben, eine selbständige, von der offiziellen Meinung unabhängige, kritische Auffassung der Zeitgeschichte zu vertreten. Ein tendenziöser Film braucht keineswegs ein schlechter Film zu sein.» (Film von R. Dindo und N. Meienberg über den Landesverräter Ernst S.) also noch ein liberales Bürgertum, oder wenigstens liberale Bürger. Die Erklärungen von Edgar Bonjour gegenüber der LNN bilden einen hübschen Kontrast zu den Verunglimpfungen, Unterstellungen und Anschwärzungen, die man im Zusammenhang mit Buch und Film über den Landesverräter Ernst S. seit zwei Jahren aus dem konservativ-verstockten Teil des Bürgertums schallen hört.

Man durfte von dorther wirklich viel Schrilles vernehmen: Professoren der Universität Bern beklagen sich beim Oberbürgermeister der Stadt Mannheim über die Auszeichnung, welche «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» am Festival von Mannheim gekriegt hatte; es handle sich dabei, so schrieben die 18 Professoren, von denen 17 den Film gar nicht gesehen hatten, um «neomarxistische Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg». Und in der NZZ unterstellt uns am 7.7.77 ein gewisser Georg Kreis, wir hätten die historische Auseinandersetzung mit «unlauteren Mitteln» geführt (jeder Kaufmann, dem angelastet wird, er führe den Konkurrenzkampf mit «unlauteren Mitteln», würde notabene sofort einen Prozess anstrengen); ausserdem hätten wir unsere Interviewpartner «manipuliert» (eine Frechheit: alle von uns befragten Personen können das Gegenteil bestätigen) und stünden wir insgesamt unter «neolinkem Faschismusverdacht» und würden Elemente einer «totalitären Ideologie» verbreiten.

Der Kontrast zwischen dem aufgeklärten und dem verunklärten Flügel des Bürgertums ist enorm: Hier der suchende, offene Edgar Bonjour, der trotz (oder wegen?) seines hohen Alters immer noch forscht und weiterdenkt, mit einer gewissen Altersradikalität und ohne Rücksichten auf eine Karriere, die hinter ihm liegt, dort die sauertöpfisch-eifernden Ideologen der blockierten Bürgerlichkeit, heftige Streber, die trotz ihrer Jugend nicht mehr suchen müssen, sondern schon alles gefunden haben. Hier der Forscher, dort die Forschen. Hier die Gewissheit von Edgar Bonjour, dass die Schweiz eine unbewältigte Vergangenheit hat; dort die Behauptung, dass Vergangenheitsbewältigung nur ein Vorwand für Agitation sei.

Aber «dort» gibt es betreffs Vergangenheit und ihrer Bewältigung so viele Verrenkungen, Verstockungen und Verstopfungen, dass ein spezieller Artikel diesen Erscheinungen gewidmet werden muss. Hier nur ein paar Gedanken zur Geschichts-Konzeption von Edgar Bonjour. Das Schöne bei Bonjour liegt nämlich darin, dass man ihm widersprechen kann, ohne dass er beleidigt ist. Man kann debattieren mit ihm. Ein Liberaler, von denen die meisten heute ausgestorben sind.

Bonjour schreibt Geschichte aufgrund von schriftlichen Quellen, weil er die Geschichte der Aussenpolitik schreibt, und die kann man natürlich in klassischer Weise aufarbeiten: mit Dokumenten. Bonjour ist skeptisch gegenüber mündlichen Quellen: «Ein von mir dreimal – zum gleichen, wichtigen Gegenstand – befragter Staatsmann beispielsweise hat mir diesen Sachverhalt in drei verschiedenen Versionen geschildert.» Es ist normal, dass «Staatsmänner» ihre mündlichen Erklärungen taktisch dosieren. Ein Pilet-Golaz zum Beispiel, der die Angleichung der Schweiz ans Dritte Reich aktiv betrieb, hätte je nach politischen Umständen und Gesprächspartnern verschiedene Antworten gegeben. Nach dem Sieg der Alliierten über Hitler hatte er alles Interesse, seine Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland zu vertuschen. Wäre aber Hitler siegreich geblieben, hätte Pilet-Golaz seine Pionier-Rolle triumphierend hervorgehoben, und die dankbare Heimat hätte ihm Denkmäler errichtet, und nicht dem General Guisan das nette Reiterstandbild.

Mit schriftlichen Quellen hingegen kann nicht gemogelt werden, da steht auch nach 35 Jahren noch schwarz auf weiss, wenn auch leicht vergilbt, dass Pilet-Golaz zum Beispiel den deutschen Gesandten um Nachsicht gegenüber diesen «Bergbewohnern» bittet, welche die neuen Verhältnisse noch nicht ganz kapiert hätten, während die Regierung doch schon alles vorkehre, um die Schweiz dem «Neuen Europa» einzugliedern. Was man schwarz auf weiss besitzt, kann man getrost nach Hause tragen – aber man besitzt halt nicht mehr alles.

Bonjour erwähnt Akten, die frühere Bundesräte «kofferweise» mit nach Hause genommen haben. Und laut NZZ wurden zum Beispiel sämtliche Akten des militärischen Nachrichtendienstes nach dem Krieg im Gaswerk Fribourg verbrannt. Und Jürg Wille, zur Zeit Hausherr im Willeschen Familiengut Marienfeld, antwortete mir 1974 auf die Frage, ob nicht vielleicht doch Dokumente, die seinen Vater, den Oberstkorpskommandanten Ulrich Wille, belasten könnten, aus dem Familienarchiv verschwunden seien: «Im Prinzip nicht, aber es wäre möglich, mit allem Vorbehalt möchte ich das sagen, dass die zweite Frau meines Vaters, die enorm reinlich war und immer viel geputzt hat, einiges zufällig vernichtete» (Jürg Willes Äusserungen wurden vom Schweizer Fernsehen ausgestrahlt).

Die Nachfahren umstrittener Persönlichkeiten sind bekanntlich immer sehr putzfreudig, oder dann schliessen sie die Nachlässe ein und lassen nur solche Historiker darin «forschen», die ihre Vorfahren in einem lieben, familiären Licht beschreiben. So hat die Familie Wille zum Beispiel einem Herrn Röthlisberger Zutritt zu General Ulrich Willes Korrespondenzen mit seiner Frau (eine der äusseren Form nach private, dem Inhalt nach hochpolitische Korrespondenz) gewährt, und Herr Röthlisberger hat dann auch wirklich allerliebste Sachen über das echt demokratische Wesen des bekanntlich höchst selbstherrlichen Generals geschrieben.

Die Familie Weizsäcker (pardon, von Weizsäcker), das heisst die Nachfahren des ehemaligen Nazigesandten in der Schweiz (er hat auch nach seiner Beförderung zum Staatssekretär die Befehle Ribbentrops treu und bieder ausgeführt), dessen Sohn mit einer Tochter des Oberstkorpskommandanten Wille verheiratet wurde, hat die sogenannten «Weizsäcker Papers» einem kanadischen Historiker exklusiv überlassen, welcher den Papa weissgewaschen und bewiesen hat, dass der kultivierte Herr in seines Herzens Grunde nie ein Nazi gewesen war. Wie hätte er auch können, der Aristokrat!

 

Manche von diesen privaten Nachlässen sind übrigens nicht so ganz privat: Es befinden sich meist auch Staatspapiere darin, die bei der Pensionierung «kofferweise» mitgenommen wurden. Es fragt sich also, ob man «keiner Familie vorschreiben kann, was damit zu geschehen hat» (Bonjour). Vielleicht könnte mal der Herr Bundesarchivar Gauye, sozusagen als eidgenössischer Kommissar, in diesen Archiven spazierengehn und – sofern noch etwas zu finden ist – konfiszieren beziehungsweise rückverstaatlichen, was dem Staat gehört: bei Sprechers, Wetters (Bundespräsident 1941), Pilet-Golaz' etc. Denn bei uns ist die Geschichte mächtiger Familien immer auch Geschichte des Staates, und umgekehrt sind die Grundlagen des öffentlichen Bewusstseins, nämlich wichtige Archivalien, auf weite Strecken privatisiert.

Eine solche Verstaatlichung angeblich privater Dokumente böte den unschätzbaren Vorteil, dass nicht nur bürgerliche Historiker, die sich fast untertänig ins Vertrauen der herrschenden Familien einschmeicheln, Zugang zu wesentlichen Dokumenten haben. Hingegen bessert sich die lamentable Quellenlage auch dann nicht, wenn «darauf hingewirkt wird, dass solche Nachlässe möglichst unversehrt als private Deposita in öffentliche Archive gelangen» (Bonjour) und dabei die betreffende Familie immer noch selbst entscheiden kann, wer die Dokumente sehen darf: Auf diese Weise entsteht zum Beispiel die burleske Situation, dass die Familien von Wattenwyl und Egli (Abkömmlinge der in den sogenannten «Oberstenhandel» verwickelten Militärs) noch ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen die Archive sperren können. Der Historiker Schoch, Spezialist auf diesem Gebiet, weiss davon ein Liedlein zu singen, oder zwei.

Es leuchtet also nicht ganz ein, dass, wie Bonjour sagt, «vieles von dem, was so verborgen werden sollte, mit ein bisschen Spürsinn rekonstruiert und anderswo aufgetrieben beziehungsweise erfahren werden kann» (Bonjour). Wie denn? Durch Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung? (Einbruch in private Archive). Durch Rekonstruktion der Aschenteilchen der verbrannten Dokumente? Oder indem man die «Fähigkeit des Historikers zu warten» kultiviert (Bonjour)? Die «Fähigkeit zu warten» kann auch eine «Unfähigkeit zu trauern» verdecken und kann die Bewältigung der Vergangenheit auf den Sanktnimmerleinstag verschieben.

Nun muss man allerdings fragen, für wen der Historiker schreibt und «bewältigt». Für seine Historikerkollegen? Im Hinblick auf die Erklimmung eines Lehrstuhls? Um ein Nationalfonds-Stipendium zu ergattern? In der Schweiz herrscht, im Gegensatz zu Frankreich, ausgerechnet bei jungen Historikern die Ansicht, dass nur garstig-langweilig geschriebene Darstellungen als wissenschaftlich zu betrachten sind. Die zeitgeschichtliche Literatur (Ausnahme: Bonjour) ist denn auch entsprechend: In kleinen Auflagen kommt sie nicht unters Volk, sondern unter die Spezialisten, wird kurz von «Fachleuten» diskutiert und schnell vergessen, hat keine Folgen, ausser eben das Nationalfonds-Stipendium oder ein Lehrstühlchen.

Man hat ein bisschen übersehen, dass die bedeutenden Historiker immer auch brillante Stilisten waren, Toynbee, Mommsen, Michelet, und dass sie eine politische Massenwirkung hatten. Das waren keineswegs «unvoreingenommene» (Bonjour) Wissenschaftler, sondern tendenziöse Kämpfernaturen, welche von ihrer Leidenschaft aufgefressen wurden. Sie würden heute, weil sie Massenwirkung anstrebten, eine Geschichtsschreibung auch durch Film und Radio versuchen, welche laut Bonjour «heikel» ist. Heikel, jawohl! Man kommt nämlich unter die Leute damit und muss sich der öffentlichen Debatte stellen, es gibt ein «Feedback» und vielleicht auch einen Streit. Historisch exakt kann man trotzdem sein, man muss es sogar ganz besonders. Was öffentlich von vielen kontrolliert werden kann, ist zu einer grösseren Exaktheit gezwungen, muss härter und umfassender recherchiert sein als die heimlichen Seminararbeiten im Spezialistenghetto.

Eine solche Geschichtsschreibung, ob durch Buch, Radio oder Film, kann nicht auf mündliche Quellen verzichten, welche Bonjour «problematisch» findet. (Sind es die lückenhaften, manipulierten, zum Teil gesperrten schriftlichen Quellen etwa nicht auch?) Wer nämlich Sozialgeschichte erhellen will, der hat mit anderen Leuten zu tun, als ein Historiker der Aussenpolitik, welcher bei abgebrüht-routinierten Diplomaten und Politikern seine Auskünfte holt, die je nach politischer Konjunktur verschieden tönen können.

Wenn man also bei der Erforschung der Biographie von Ernst S. sich nur auf schriftliche Quellen stützen wollte, hätte man zum Beispiel nie erfahren, dass Oberst Birenstihl seine Offiziers-Freunde zur Hinrichtung eingeladen hat, um sie zu unterhalten. Diese Einladung war nämlich reglementswidrig und hat offenbar keine Spuren in den Akten hinterlassen, jedoch präzise Erinnerungen im Kopf von beteiligten Offizieren, die allesamt schockiert waren und von denen keiner ein Interesse hatte, die Armee schlechter zu machen, als sie ist: alles Leute, welche die Hinrichtung des Ernst S. «sonst» ganz in Ordnung fanden. Wenn nun mehrere mündliche Zeugnisse aus solch unverdächtigen Quellen übereinstimmen, so darf man das betreffende Faktum wohl als erhärtet betrachten.

Auch der Soldat Lamprecht, welcher vor unserer Kamera sich erinnert und diese Erinnerung aufarbeitet; der am Tatort Auskunft gibt über das Ereignis und ausserdem kein politisches Interesse am Frisieren von Tatsachen hat (er ist kein Prominenter, kein Politiker, der seine Worte abwägen muss): Die Erschiessung hat sich seinem Gedächtnis eingebrannt, lag dann tiefgekühlt jahrzehntelang auf dem Grund seiner Erinnerung und taut jetzt vor der Kamera auf: Sie ist frisch und präzis, sie hat ihn geprägt. Sie lässt sich ausserdem kontrollieren und vergleichen mit anderen mündlichen Zeugnissen. Von den Eindrücken der Soldaten steht nichts in den Akten, denn über die Akten verfügen Offiziere, nicht Soldaten. Die Schrift-Gelehrten beherrschen das Schriftliche, und ein Historiker, der die schriftlichen Quellen fetischisiert (was man von Bonjour nicht sagen kann) und zur einzigen Auskunft erhebt, schreibt bald automatisch eine Geschichte der Herrschenden, und die wird bei uns im Handkehrum zur herrschenden Geschichte (auch «objektive Geschichte» genannt).

Ein weiteres Beispiel, um bei Ernst S. zu bleiben: Im Bericht des Psychiaters Hans-Oscar Pfister heisst es von der Familie S., sie habe «einen Hang zum Vagantentum» gezeigt. Die Geschwister des Hingerichteten wechselten nämlich alle paar Monate die Stelle. Diese Tatsache ist in den Akten unbestritten. Wenn man sich nun auf die Socken macht und mit den überlebenden Brüdern spricht, so bestätigt sich auch mündlich, dass tatsächlich ein häufiger Stellenwechsel vorkam. Aber man erfährt dann auch, weshalb: In den dreissiger Jahren konnte manche Fabrik nur Saisonarbeit offerieren, und die Geschwister S. mussten die Stelle wechseln. Von psychologisch motiviertem «Vagantentum» keine Rede.

Was die Arbeitsbedingungen in jenen Fabriken betrifft, so steht zum Beispiel in keinem Jahresbericht der Färberei Sitterthal, wieviel die Arbeiter verdienten, in welchen Verhältnissen punkto Hygiene sie gehalten wurden; kein Wort auch über die Unterdrückung der Gewerkschaften. All das ist nur aus mündlichen Zeugnissen erfahrbar. Und man kann sich darauf verlassen, dass die meisten Arbeiter die Hungerlöhne auf den Rappen genau im Gedächtnis behalten haben. (Wogegen die Direktoren davon, wie zufällig, nichts mehr wissen.)

Die Geschichtsschreibung mittels mündlicher Quellen ist also durchaus «problematisch», aber in einem andern Sinn, als Bonjour meint: nicht deshalb, weil sie unpräzise wäre (das sind im Gegenteil oft die Dokumente, welche einen riesigen Teil der Wirklichkeit unterschlagen), sondern weil sie ein neues Geschichtsbild entwirft und das alte relativiert. Problematisch für wen? Geschichte des Volkes, vom Volk selbst verfasst, das ohne Hemmungen frisch von der Leber weg erzählt, kann recht problematisch werden für alle Arten von Machthabern.

Der Intellektuelle hat bei dieser «Schreibung» nicht mehr die Funktion des allmächtigen, einsamen Interpreten und Schreibtisch-Strategen, er spürt nur die Leute auf, die sich genau erinnern, und überlässt ihnen das Wort. Er ist eine Art von Mikrophon, funktioniert vor allem als Zuhörer, wie der Psycho-Analytiker. Durch geduldiges Zuhören bringt er die widerborstige Wahrheit an den Tag. Natürlich montiert er die verstreuten Aussagen schlussendlich zu einem Ganzen. Aber wenn diese subjektive Montage im Widerspruch steht zur Grundströmung der objektiv geäusserten Meinungen, dann blamiert er sich selbst vor dem Leser (oder Zuschauer).

Übrigens sei natürlich nichts gegen die Verwendung von schriftlichen Quellen gesagt: Sie dürfen nur keine Exklusivität beanspruchen, sollen in einem dialektischen Verhältnis zu den mündlichen Zeugnissen stehen.

«Ein tendenziöser Film braucht keineswegs ein schlechter Film zu sein.» Ich finde es – wenn ich an die Reaktion bürgerlich-konservativer Kreise denke – sehr bemerkenswert, wenn ein Historiker vom Rang Bonjours eine solche Feststellung macht. Bemerkenswert ist allerdings auch das hier deutlich werdende Verständnis von «Tendenz». Jeder Historiker – auch einer, der das Volk reden lässt – hat bekanntlich eine Welt-Anschauung, eine politische Farbe, welche abfärbt auf seine Produktion, eine Tendenz. Aber die Produktion kann umgekehrt auch die politische Farbe verändern. Ich kenne einen bürgerlichen Zeitgeschichtler im Bundesarchiv von Bern, Spezialist für die Beziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz, der mir kürzlich sagte: Bei der Entdeckung von gewissen Dokumenten, die eine schlimme Nazifreundlichkeit unserer einheimischen Wirtschaftsführer verraten, sei es ihm oft kalt den Rücken heruntergelaufen und der Gedanke an das Schicksal der Schweiz, das zum Teil in den Händen dieser problematischen Leute gelegen habe, könne einen schon tüchtig radikalisieren.

Ich habe meine Meinung ebenfalls durch Faktenzwang revidiert und eine Entwicklung durchgemacht im Laufe der Recherchen über Ernst S. Eine gewisse Radikalisierung war nicht aufzuhalten, wenn man das haarsträubende Gutachten des Psychiaters Hans-Oscar Pfister durchgeblättert hat und mit den Geschwistern des Erschossenen viel und gründlich diskutierte. Ich habe dann dank dieser Tendenz, die von Fakten geschaffen wurde, wieder neue tendenziöse Fakten gefunden, das Verhalten des nazifreundlichen Industriellen Mettler zum Beispiel.

Bonjour hat ebenfalls eine Tendenz, er tendiert unter anderem auf eine, wenn auch gemässigte, Armee-Gläubigkeit. Wenn er zum Beispiel schreibt: «Korpskommandant Wille war durch unzweifelhafte Meriten als militärischer Erzieher zu sehr mit der Schweiz verbunden, als dass man in seiner Handlungsweise landesverräterische Motive sehen dürfte», dann liegt seinem Gedankengang eine deutliche Tendenz zugrunde: a) die Armee ist in jedem Fall ein Teil des Volksganzen und handelt im Interesse der Nation, b) Wille hat für die Ausbildung dieser Armee in der Zwischenkriegszeit viel geleistet, c) also kann er keine Handlungen begehen, welche das Land sabotieren und eventuell landesverräterisch sind. (Es kann nicht sein, was nicht sein darf.)

Man mag jedoch in guten Treuen über diese Armee tendenziell auch anders denken: die Büezer, welche den unsäglich preussischen Drill im Militär erdulden mussten, werden Oberstkorpskommandant Wille kaum einen «Soldatenerzieher» genannt, sondern vermutlich einen wüsten, eventuell juristisch fassbaren Ausdruck gebraucht haben. Und es ist auf dem Hintergrund von neueren geschichtlichen Erfahrungen durchaus möglich, dass eine Offizierskaste vor allem ihre Spezialinteressen vertritt, welche mit dem Nationalinteresse nicht identisch sind. So waren die französischen Generäle Challe, Salan, Jouhaud, Zeller, die kurz vor dem Ende des Algerienkrieges gegen die Republik putschten, bestimmt auch gute «Soldatenerzieher» (das heisst Soldatenschleifer) mit unzweifelhaften Meriten gewesen – und trotzdem musste de Gaulle sie dann als Verräter einsperren. Bei Ulrich Wille sehe auch ich keine landesverräterischen Motive. Aber ich sehe sie nicht deshalb nicht, weil der Korpskommandant Soldatenerzieher gewesen ist …

In jedem Adjektiv, das ein Historiker benützt, spiegelt sich also die Tendenz, und auch in den Substantiven. Und die wollen wir ihm nicht ankreiden und halt nur hoffen, dass er die andern Historiker nicht im abwertenden Sinne «tendenziös» nennt.

PS: Weitere Notizen zur schriftl. und mündlichen Überlieferung: «Frau Arnold reist nach Amerika».