Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Marcel Rothmund

Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs

Historischer Roman


Zum Buch

Verhängnisvolles Erbe Elisabeth Freistetter, genannt die Kräuterliesl, besitzt das letzte von fünf Heilbüchern ihrer Vorfahrinnen – das Konstanzer Kräuterbuch. Es enthält einen einzigartigen Wissensschatz an Heilrezepturen und stammt ursprünglich aus dem Kloster der Hildegard von Bingen. Zusammen mit ihrem Mann Adam lebt Elisabeth auf einem abgelegenen Hof im Linzgau am Bodensee. Von den Bewohnern der umliegenden Dörfer wird sie wegen ihrer Heilkunst geschätzt und häufig um Hilfe gebeten. Eines späten Abends findet sie den schwer verletzten Schuhmacher Kilian auf ihrem Hof und rettet ihm das Leben. Elisabeth erfährt, dass er Opfer eines Raubüberfalls geworden ist, und gewährt ihm weiterhin Schutz. Adam und sie gewöhnen sich an den jungen Gast, der ihnen aus Dankbarkeit bei der Arbeit zur Hand geht. Doch plötzlich unterstellt man Elisabeth mit ihren Heilfähigkeiten böse Absichten und sie wird zum Opfer einer fatalen Intrige. Fürchterliche Ereignisse nehmen ihren Lauf …

Marcel Rothmund, 1985 in Friedrichshafen geboren, ist in Salem am Bodensee aufgewachsen. In seiner Kindheit verbrachte er viel Zeit auf dem landwirtschaftlichen Hof seiner Großeltern. Schon während seiner Jugend interessierte er sich für das Leben in vergangenen Zeiten und lauschte fasziniert den Erzählungen von früher. Nach dem Abitur studierte er Geschichte in Konstanz und Heidelberg. Während des Studiums arbeitete er im Journalismus und entdeckte in den darauffolgenden Jahren seine Passion für das Schreiben. Heute lebt und arbeitet er in der Bodenseeregion.

Impressum

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2021 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Illustration_from_Medical_Botany,_digitally_enhanced_from_rawpixel’s_own_original_plates_157.jpg

ISBN 978-3-8392-6894-0

Widmung

Für Desirée

Prolog

Mit einer unbeschreiblichen Geschwindigkeit durchstreifte er im Flug die Finsternis. Es schien ihm eine Reise ohne Zeit und Ziel und doch fühlte er sich in dieser fremden Weite hier oben geborgen. Über ihm leuchteten unzählige Sterne schwach in der Ferne wie kleine Wegweiser zu unbekannten Orten. Unter ihm war alles vollkommen schwarz. Er flog einem Vogel gleich und spürte dabei die kühle Zugluft auf seiner Haut. Ein wärmendes Gefühl des Friedens und von großem Glück erfüllte ihn von innen. Gerne wäre er bis in alle Ewigkeit geflogen. Doch in einem Augenblick erloschen die leuchtenden Punkte am Firmament. Es wurde dunkel um ihn herum und mit jedem Atemzug kehrte die gewohnte Schwere seines Körpers zurück.

Er bemerkte, wie er wieder mehr und mehr zu Bewusstsein kam. Die friedliche Sternenwelt war verschwunden und mit ihr das traumhafte Gefühl vom Fliegen. Er lag auf hartem Boden mit dem Gesicht nach unten und spürte, wie in seinem Schädel ein grauenhafter Schmerz unablässig pochte. Er öffnete die Augen, doch um ihn herum blieb alles schwarz. Begleitet von dem Pochen im Kopf atmete er tief ein, wobei ein wohlbekannter Geruch seine Nase durchströmte. Ein Geruch, der Erinnerungen in ihm wach werden ließ. Schöne Erinnerungen an einen Tag, an dem er als kleiner Bub mit seinen größeren Brüdern Paul und Jakob am Waldrand eine Fuchsfalle gebaut hatte. Aus einer alten Holzkiste für Weinflaschen hatten sie damals eine ganz brauchbare Falle zusammengezimmert. Die Kiste hatten sie mit der offenen Seite nach unten gedreht und auf einen passenden Bretterboden genagelt. Eine der Seitenwände sägten sie auf und montierten sie mit einem Scharnier an die Holzkiste, das sie von einer alten Truhe abgetrennt hatten. Die Kiste hatte nun eine Falltür, die nach oben geöffnet werden konnte. Daran befestigten sie eine Schnur, die im Inneren mit einem Haken verbunden war, an dem ein Fleischköder hing. Es waren die Reste eines Schweins, die beim Nachbarhof nach der Schlachtung auf dem Misthaufen gelandet waren. Wenn ein angelockter Fuchs sich den Köder schnappen sollte, würde die geöffnete Tür durch die Bewegung an der Schnur sofort zuklappen. Ein Stein, den die Jungen zusätzlich auf der Falltür festbanden, sollte verhindern, dass der gefangene Fuchs die Tür öffnen konnte.

Zur Herbstzeit stellten er und seine Brüder die Falle gemeinsam am Waldrand neben dem Feld ihres Vaters auf und als Tarnung verteilten sie Laub von Eichen und Buchen auf dem Boden der Kiste. Tagelang legten sie sich damals in der Abenddämmerung in einem Dickicht in nächster Nähe auf die Lauer und warteten gespannt auf einen Vierbeiner. Sie lagen dort mucksmäuschenstill unter den Sträuchern auf alten Rupfensäcken, das gelbbraune Laub direkt unter ihren Nasen, und warteten geduldig. Je weiter die Dämmerung voranschritt und die Feuchte der Luft zunahm, desto intensiver schien der Geruch des Laubs zu werden.

Von einem älteren Schulfreund hatte sein Bruder Paul erfahren, dass man bei einem Händler bis zu sechzig Reichsmark für ein Fuchsfell bekam. Die Hoffnung der Jungen war groß und tatsächlich war ihnen ein paar Tage später ein Fuchs in die Falle gegangen. Doch was dann passierte, hatten sie nicht erwartet. Zum Töten des Tieres stibitzten sie heimlich die Schrotflinte ihres Vaters. Durch einen Spalt in der Kiste wollten sie den Fuchs mit dem Gewehr möglichst am Kopf treffen, damit das Fell nicht durchlöchert wurde. Als sie nach langem Warten tatsächlich einen Fuchs in der Falle lärmen hörten, rannten sie siegessicher und voller Freude dorthin. Aber der Fuchs wehrte sich. In die Enge getrieben, entwickelte das Tier Kräfte, die ihm die Jungen im Leben nicht zugetraut hätten. Der Fuchs tobte wie wild in der Kiste und fauchte in schrillen Tönen. Im Rückblick ging alles in Sekundenschnelle. Jakob hielt die wackelnde Kiste fest, in welcher der Fuchs sich immer heftiger hin und her warf. Paul legte das Gewehr an und er selbst sollte den Fuchs mit Stöcken, die er durch die Ritzen der Kiste schob, in Position bringen. Allerdings war der Stein auf der Falltür nicht schwer genug. Der Fuchs konnte sie einen Spalt aufdrücken und war mit dem Kopf schon beinahe draußen. Paul schrie, Jakob solle die Falltür fester zudrücken. Doch der Fuchs hatte sich, flink, wie er war, bereits zur Hälfte mit seinem Körper durchgezwängt und biss Jakob in den Arm. Er schrie auf und ließ die Falltür los, sodass der Fuchs in den dunklen Wald entwischen konnte. Die Bisswunde an Jakobs Arm blutete stark. Schockiert ließ Paul das Gewehr fallen und kam seinem Bruder zur Hilfe. Mit zitternden Fingern band er sein Halstuch um den Arm des Bruders und knotete es fest zu. Nach kurzem Zögern waren sie zusammen wie geschlagene Krieger nach Hause gegangen. Ihre Mutter war entsetzt gewesen und ihr Vater hatte sie für ihre Torheit bestraft. Als Ältester hatte Paul wegen seiner Verantwortungslosigkeit die meisten Ohrfeigen einstecken müssen.

Das war über zwanzig Jahre her, und genau diese Erinnerung an frisches, herbstlich duftendes Laub, feucht und kühl, war ihm wieder ins Gedächtnis gekommen, als er nun, Jahre später, irgendwo in der Finsternis auf dem Boden lag und mit der Ohnmacht kämpfte.

Langsam stützte er sich auf seine Hände und bemerkte, dass sein Kopf und Oberkörper mit etwas bedeckt waren. Es war sein Mantel, der ihm irgendwie über Rücken und Kopf gefallen sein musste. Der raue Stoff war nicht das Einzige, was er auf seiner Haut verspürte. Seine Haare und vor allem seine rechte Gesichtshälfte schienen ihm mit irgendetwas verklebt. Mit den Fingern tastete er vorsichtig über sein Gesicht, dabei schoss ein Schmerz von tausend Nadelstichen durch seinen Schädel. Er zuckte zusammen und atmete tief durch. Dann ging er langsam auf die Knie und legte den Mantel beiseite, damit er endlich etwas sehen konnte. Um ihn herum war es Nacht, nur der halbvolle Mond spendete ein bisschen Licht in der Dunkelheit. Trotz der lähmenden Schmerzen gelang es ihm aufzustehen. Er betrachtete seine Hand. Im fahlen Mondschein konnte er eine dunkle Substanz erkennen. Zaghaft roch er daran und leckte an einem seiner Finger. Ein seltsam vertrauter Geschmack wanderte über seine Zunge. Ihm wurde klar, dass es Blut war – sein Blut! Aber warum er blutete und wie das alles passiert war, wollte ihm nicht in den Sinn kommen. Das Pochen im Kopf war zu groß, als dass er hätte nachdenken können. Schwindel überkam ihn und seine Beine begannen nachzugeben. Er brauchte dringend Hilfe. Mit aufkommender Panik sah er sich um und nahm dabei die Landschaft in Augenschein. Er befand sich auf einer großen Lichtung, die von finsterem Wald eingerahmt wurde. Im nahen Unterholz raschelte etwas und der gespenstische Ruf eines Uhus durchdrang die Nacht. Etwa fünfzig Schritt entfernt von ihm stand ein altes Haus. Das Fachwerk war teilweise mit Efeu oder etwas Ähnlichem bewachsen, doch seine Sehkraft war von der Dunkelheit und den starken Schmerzen so getrübt, dass er es nicht recht erkennen konnte. Die Fensterläden waren geschlossen und dennoch entdeckte er an einem der unteren Fenster schwaches Licht. Es drang durch die Spalte der Fensterläden und ließ seine Hoffnung auf Hilfe wachsen. Entschlossen atmete er tief ein und ging auf den verheißungsvollen Schein zu. Wie ein Betrunkener schwankte er über die Lichtung. Als er direkt vor dem Fenster stand, öffnete er schwerfällig einen der beiden Holzläden. Im Inneren des Zimmers schummerte das Licht einer Petroleumlampe. Dort schien jemand an einem Tisch zu stehen. Er konnte es nicht recht erkennen, denn sein Sichtfeld verschwamm immer mehr zu einem Brei aus hellen und dunklen Streifen. Er begann zu schlottern, und von der schrecklichen Angst erfüllt, es könnte mit ihm zu Ende gehen, rief er um Hilfe. Doch seine Stimme versagte, sodass nur ein schwaches »Hiill …« zu hören war. Mit letzter Kraft klammerte er sich am Fensterbrett fest, kratzte mit seinen Fingernägeln über das Holz und sackte schließlich in sich zusammen. Dann wurde ihm wieder schwarz vor Augen.

 

Der dürre Georg

Ernatsreute im Linzgau, September 1903

Georg Back war ein Raubmörder, der stets unentdeckt blieb. Seine Opfer waren ausschließlich Fremde und den Leuten im Dorf war er nur als gewöhnlicher Wegewart und Tagelöhner bekannt. Wegen seines Aussehens nannten sie ihn den »dürren Georg«, denn er war recht groß und auffällig schmal. Dennoch war Georg kräftig und für seine über fünfzig Jahre äußerst zäh. Sein Gesicht prägten kantige Wangenknochen und eine markante Hakennase, und unter seinen Augen hatte er dunkle Ränder, dass die Leute im Dorf meinten, er leide an der Wurmkrankheit. Zudem hatte er dünnes Haar, das meistens von einem kurzkrempigen Schäferhut verdeckt wurde. Dass ihm seine Beute buchstäblich über den Weg lief, lag daran, dass Georg Back als Wegewart auf den Wegen und Straßen von Ernatsreute tätig war. Auf diese Weise waren ihm so manche Opfer nichts ahnend in die Fänge geraten. Er lockte sie meist in einen Hinterhalt, beraubte sie und entledigte sich ihrer auf brutale Art und Weise. Ob Reisende, fahrende Krämer oder Landstreicher, letztendlich war Georg jedes Opfer recht, solange es ein bisschen Geld bei sich trug und allein unterwegs war.

Als Georg an diesem Nachmittag von der Arbeit auf dem Weg nach Hause war, erspähte er von Weitem den jungen Burschen, der vor ihm allein auf der Landstraße nach Ernatsreute lief. Er trug einen Korb auf dem Rücken, was Georg auf einen fahrenden Händler oder dergleichen schließen ließ. Georg fuhr mit seinem Schäferwagen langsam an ihn heran.

»So wie es aussieht, bist du schon länger unterwegs«, sagte er und lächelte den jungen Kerl freundlich an. »Wohin soll es denn gehen?«

»Nach Owingen«, antwortete der Bursche.

»Ich kann dich gern ein Stückle mitnehmen, denn ich fahr in diese Richtung.«

Der Fremde willigte ein, stieg neben ihm auf den Kutschbock und gemeinsam fuhren sie weiter.

»Woher kommst du denn?«, fragte Georg wissbegierig.

»Von Ravensburg«, antwortete der Kerl.

»Bist du ein fahrender Händler?«

»Ein fahrender Schuhmacher, um genau zu sein. Ich habe einen langen Tagesmarsch hinter mir und bin dir sehr dankbar, dass du mich mitnimmst. Ich weiß nicht, wie lange meine Füße mich noch getragen hätten.«

»Dann hast du bestimmt Durst und einen rechten Hunger?«, fragte Georg vielversprechend.

»Das kann man sagen, ja«, entgegnete der Bursche eifrig nickend.

Georg spielte den Mitleidsvollen. »Herrje, ich kenne so arme Kerle wie dich, die die längste Zeit auf der Straße unterwegs sind und fast nix zu essen dabeihaben. Von denen habe ich schon viele gesehen. Darum lade ich dich zum Vesper ein. Mein Hof liegt auf dem Weg. Und danach fahre ich dich weiter nach Owingen. Was meinst du?«

Der Schuster stimmte dankend zu und kurze Zeit später saßen sie gemeinsam in Georgs Küche am gedeckten Tisch.

Georg Back lebte seit Jahren allein in seinem Tagelöhnerhaus, dem sogenannten Schäfergütle. Das kleine Haus lag auf der großen Wiese unterhalb der Burghöfe, dort wo die Landstraße von Ernatsreute nach Owingen führte. Die Wiese hatte in alten Zeiten den Flurnamen Wolfsgalgen bekommen, denn um der zunehmenden Wolfsplage Herr zu werden, hatten die Schäfer früher dort Fleischköder an kleinen Sicheln aufgehängt. Die gefräßigen Wölfe schnappten nach dem Fleisch in der Höhe und hängten sich dadurch selbst am Wolfsgalgen auf. Doch Wölfe waren im Linzgau seit fast hundert Jahren nicht mehr gesehen worden. Unterhalb der Wiese floss der Geißbach den Hang hinunter. Der Bach entsprang im Wald Fronholz auf der Anhöhe schräg gegenüber, durchquerte die Felder hinter Ernatsreute und floss an der Landstraße unterhalb vom Schäfergütle unter einer Brücke hindurch. Kurz danach wurde der Geißbach zu einem kleinen Weiher angestaut. Dieser speiste weiter unten den Zufluss zu einer Sägemühle, der Hangmühle von Gerhard Frommel. Durch die Mühle geleitet, gab der Geißbach dem oberschlächtigen Wasserrad den nötigen Antrieb für die Säge und floss danach weiter in den Aachtobel hinab. Gegenüber dem Schäfergütle, auf der anderen Seite der Landstraße, stand auf dem Gewann Öschle ein weiteres Tagelöhnerhaus, das ähnlich aussah wie das von Georg. Dort wohnte die alte Witwe Rechle.

Georg Backs Vater Johannes war Schäfer gewesen sowie auch dessen Vater. Mit Georg sollte die Tradition des Schäferdaseins der Familie Back jedoch enden, denn er konnte der Arbeit mit den Viechern nichts abgewinnen. Deshalb hatte er nach einer anderen Tätigkeit gesucht und war zum Wegewart von Ernatsreute geworden, zuständig für alle Straßen, Wege und Brücken, die zum Dorf und seiner Gemarkung gehörten. Die Gemarkungsgrenze von Ernatsreute reichte im Norden bis hinauf zu den Burghöfen, im Osten bis kurz vor Wackenhausen, im Süden bis zum Schönbuchhof und im Westen bis zum Fronholz. Als sein Vater verstorben war, erbte der junge Georg Haus und Hof. Wobei das Schäfergütle der Backs schon damals in einem schlechten Zustand gewesen war. Seine Mutter war kurz nach dem Vater gestorben und seine beiden Schwestern hatten später auf andere Höfe eingeheiratet. Der junge Georg verkaufte die Schafe und konnte so einen Teil der Schulden bezahlen, die auf dem Grundbesitz lasteten. Weniger aus Liebe, sondern vielmehr aus der Not heraus hatte er Antonia Gerster aus Lippertsreute geheiratet, denn er hatte schließlich ein Weibsbild für seinen Haushalt gebraucht. Ihr Gesicht hatte nicht die Reize einer jungen Frau gehabt, stattdessen hatte es ihn mit den groben Zügen mehr an ein Mannsbild erinnert. Antonia stammte ebenfalls aus einer kleinen Tagelöhnerfamilie, dementsprechend gering war ihre Mitgift bei der Heirat ausgefallen.

Das ebenerdige Haus der Backs war aus einfachem Fachwerk gebaut, mit einem strohbedeckten Dach. Im rechten Teil des Hauses war eine kleine Tenne mit dem Stall für die Ziegen und Hühner. Hinten führte von dort eine Tür in das Außengatter. In der linken Haushälfte hauste Georg allein, seit Antonia vor acht Jahren an einem Hirnschlag gestorben war. Kinder hatte er keine, schon aus dem einfachen Grund nicht, weil er und Antonia für sich selbst nicht immer ausreichend zu essen gehabt hatten. Dazu kam, dass Georg Kinder schlichtweg hasste. In den vergangenen Jahren war das Haus ohne Antonia immer mehr verkommen, aber der Dreck und die Unordnung störten Georg nicht. Er war die meiste Zeit mit dem alten Schäferwagen seines Vaters unterwegs, in dem er tagelang hausen konnte. Das Schäfergütle war so die meiste Zeit verwaist.

Während sie aßen, schenkte Georg seinem Gast reichlich Most ein und ließ dessen Glas nicht leer werden. Nach ein paar Gläsern schien ihm der ideale Zeitpunkt für einen Angriff, denn dann würde der junge Kerl sich nicht mehr so gut wehren können, dachte er sich. Anders als sein Opfer hielt Georg sich beim Most zurück, gerade so, dass es nicht auffiel. Während des Vespers unterhielten sie sich die ganze Zeit über das Handwerk des Schuhmachers und dessen Verlobte, die er bald heiraten wollte. Nach dem vierten Glas sah Georg den passenden Moment gekommen. Er wollte sein Opfer niederschlagen, es ausrauben und letztendlich töten. Als fahrender Schuhmacher führte der Bursche sicher einiges an Geld in seinen Taschen mit sich, vermutete er.

»Ich danke Gott, dass ich meine Anna gefunden habe«, faselte der Kerl schon leicht betrunken. »Ich werde sie bald heiraten und dann ist sie endlich mein Weibsbild. Und um Geld für eine Familie brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Mindestens zehn Kinder soll sie mir schenken. Schließlich habe ich ja einen reichen Großonkel«, protzte er und lachte angeheitert.

Bei diesen Worten wurde Georg hellhörig. Der Bursche war von dem vielen Most inzwischen so redselig geworden, dass er nicht mehr aufhören wollte. »Und ich weiß auch ganz genau, wo der Onkel das Geld versteckt hat, nämlich in einer Milchkanne auf dem Dachboden«, erzählte er.

Ab diesem Moment konnte sich Georg nicht mehr zurückhalten.

»Da hast du aber ein Glück«, sagte er. »Wo wohnt denn dein Onkel?«

»In Owingen. Deswegen will ich dorthin«, antwortete der Schuhmacher. Dann nahm er einen großen Schluck Most und redete wieder über seine Anna. Aber Georg, der das Vermögen des Großonkels schon zum Greifen nah vor sich sah, ließ nicht locker. Wie ein Raubtier biss er sich an der Erzählung über das viele Geld fest und kam wieder darauf zu sprechen. »Wie ist denn dein Großonkel an so viel Geld gekommen?«

»Der alte Mann hat ein Leben lang gespart. Das wäre nichts für mich«, antwortete der Bursche und schüttelte den Kopf. »Das muss schon ein eintöniges Leben sein. Aber wenigstens hat er dabei an mich und meine Anna gedacht.« Er lachte freudig.

Wieder ging das Gespräch in eine andere Richtung, als Georg es wollte, weshalb er langsam ungeduldig wurde. Schließlich musste er wissen, wo genau der Großonkel wohnte. In Owingen gab es viele Häuser und Höfe und ohne den Namen konnte die Suche schwierig werden. Bereitwillig ließ Georg seinen Gast noch ein paar Sätze zu seinem dummen Weib erzählen, dann riss ihm der Geduldsfaden. »Wo zum Teufel wohnt er denn?«, schrie er laut.

In diesem Moment wirkte der junge Schuhmacher wie aus einem Traum gerissen. Er sah Georg skeptisch an. »Warum willst du das wissen?«

»Nun ja, als Wegewart komme ich viel rum«, gab sich Georg unbedarft. »Vielleicht kenne ich ja deinen Onkel.«

Der Schuhmacher schwieg und Georg konnte ihm das Misstrauen im Gesicht ansehen. »Ich glaube nicht, dass du ihn kennst. Er lebt sehr zurückgezogen.«

Georg hätte vor Wut auf den Tisch hauen können. Aber er versuchte, sich den Zorn nicht anmerken zu lassen. Er leerte sein Glas, stand auf und murmelte vor sich hin, dass es nicht so wichtig sei. Unter dem Vorwand, dass er noch einen Krug Most holen wolle, ging er hinaus. Draußen in der kleinen Tenne nahm er einen Dreschflegel zur Hand und kam damit in die Küche zurück. Er würde den Schuhmacher gefügig prügeln, und sobald dieser den Namen des Großonkels preisgegeben hatte, würde er ihn beiseiteschaffen.

Zwar war das Überraschungsmoment auf Georgs Seite, allerdings war der junge Bursche durch sein Misstrauen wachsam geworden. Trotz des vielen Mosts, den er getrunken hatte, war er immer noch sehr flink. Beim Anblick des Dreschflegels sprang er sofort auf und konnte Georgs Schlag um Haaresbreite ausweichen. Beim zweiten Schlag gelang es ihm ebenso, doch langsam nahm seine Reaktionsfähigkeit ab. Mit dem dritten Schlag traf Georg den Schuhmacher mit dem Dreschflegel direkt am Kopf. Für einen Augenblick konnte er das Blut sehen, das dem Kerl aus einer klaffenden Wunde seitlich herunterlief. Doch vom Schlag getroffen, schien der Schuhmacher neue Kräfte in sich zu entdecken. Wie ein tollwütiger Hund stürzte er sich auf Georg und riss ihm den Dreschflegel aus der Hand. Georg verpasste ihm einen ordentlichen Hieb mit der Faust in die Seite, aber der Schuhmacher ließ sich dadurch kaum beeindrucken. Wieder wollte Georg ihm die Faust in die Seite schlagen, doch erstaunlicherweise konnte ihm der wendige Bursche erneut ausweichen. Schließlich packte ihn der Schuhmacher und schleuderte ihn mit voller Wucht gegen den Küchenschrank. Er stürzte zu Boden, dann wurde ihm schwarz vor Augen.

 

Als Georg wieder zu sich kam, war es bereits mitten in der Nacht. Er lag auf dem Boden und ein stechender Schmerz am Hinterkopf ließ seinen Körper zusammenzucken. Im ersten Moment musste er sich sortieren, denn er besaß keine Erinnerung mehr daran, was geschehen war. Er lag auf dem Fußboden in der Küche, hinter ihm der Küchenschrank, dessen hölzerne Schubladenknöpfe er zum ersten Mal von unten betrachtete. Im schummrigen Licht weiter oben entdeckte er die Balken der Zimmerdecke, zwischen denen Spinnen in den vergangenen Jahren ihre Netze gewoben hatten. Leicht benommen zog Georg den Arm unter seinem Körper hervor, auf welchem er längere Zeit gelegen haben musste. Danach richtete er sich auf und tastete mit der rechten Hand vorsichtig den Hinterkopf ab. Er grübelte nach und sah sich währenddessen in der Küche um. Auf dem Küchenboden herrschte ein großes Durcheinander: kaputte Gläser, Messer, Vesperbretter und Essensreste. Neben den aufgestapelten Holzscheiten am Herd entdeckte er den Dreschflegel. Und bei dessen Anblick kam ihm wieder ins Gedächtnis, wie alles passiert war.

Georg setzte sich für einen Moment auf die Bank am Küchentisch. Er musste sich sammeln, sein Kopf schmerzte immer noch. Die Ellenbogen stützte er auf den Tisch und legte sein Gesicht in die offenen Handflächen. Mit den Fingern rieb er sich langsam über die Stirn, als würden die Kopfschmerzen dadurch besser werden. Dann nahm er seine Hände vom Gesicht und schaute sich um. Die Sachen des Schuhmachers waren nicht mehr da. Der Bursche hatte doch den Tragekorb in der Küche abgelegt – dessen war Georg sich ganz sicher. Weit konnte der Kerl jedenfalls nicht gekommen sein, schon gar nicht mit der Verletzung am Kopf. Vermutlich lag er irgendwo in einem Straßengraben und Georg brauchte ihn nur einzusammeln. Dann würde er aus ihm herauspressen, was er wissen wollte. Entschlossen ging er nach draußen und fuhr wenige Minuten später mit seinem Schäferwagen vom Hof. Im Dunkel der Nacht war von ihm nur die schwach leuchtende Petroleumlaterne zu sehen, die am Dach seines Gefährts unruhig hin und her schwankte.