Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs

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Das geheime Zimmer

Am frühen Nachmittag war Kilian aufgewacht. Die große Standuhr in der Stube schlug zwei Uhr. Er hatte nun genug geschlafen und versuchte, sich irgendwie die Zeit auf dem Krankenlager zu vertreiben. Minutenlang sah er an die Zimmerdecke der Stube und zählte die großen Astlöcher in den Holzdielen über sich. Als er über achtzig gezählt hatte, brummte sein Schädel. Schließlich hörte er damit auf und schloss seine Augen, um ihnen eine Weile Ruhe zu gönnen. Als er sie wieder öffnete, schweifte sein Blick durch die Stube. Allmählich stieg das lästige Gefühl von Langeweile in ihm hoch und so inspizierte er vom Sofa aus alle Dinge in der Stube. Zuerst betrachtete er den Tisch und die Stühle, dann den gusseisernen Kanonenofen in der Ecke und den massiven Eichenschrank. Letztendlich fiel sein Blick aber immer wieder auf den Vorhang vor dem Hinterzimmer. Der dunkelrote Stoff zog seine Augen magisch an. Es war nicht allein der Samtstoff, das war ihm klar. Es war vielmehr das, was hinter dem Vorhang versteckt war. Warum war dieser Vorhang ständig zugezogen?, fragte er sich. Er wollte es endlich wissen und fasste den Entschluss aufzustehen, da kam ihm wieder sein Albtraum ins Gedächtnis. Vor seinem inneren Auge sah Kilian das rot strahlende Licht, das den Raum hinter dem Vorhang auf gespenstische Weise erhellte. Eine unglaublich starke Intensität, wie er es nie zuvor gesehen hatte. Mit dem roten Licht war wiederum das grässliche Bild der alten Frau entstanden und das unheimliche Gefühl, als würde er von der Lichtquelle unaufhörlich angesogen. Erschrocken schloss Kilian die Augen und versuchte, die unheimlichen Gedanken zu verdrängen. Er dachte an seine hübsche Anna und daran, wie lieb er sie hatte. Endlich überwog die Sehnsucht nach seiner Geliebten und verdrängte das beklemmende Gefühl der Furcht aus seinem Kopf. Er öffnete erleichtert seine Augen und blickte zum Vorhang. Was auch immer dahinter versteckt sein mochte, er wollte es jetzt unbedingt wissen. Elisabeth war heute den ganzen Tag unterwegs, hatte sie ihm heute Morgen gesagt, und ihr Mann sei auch längere Zeit weg. Nun war die Gelegenheit, endlich in den Raum hinter dem Vorhang zu schauen. Entschlossen drehte er seinen Körper zur Seite und richtete sich langsam auf dem Sofa auf. Zum einen war es ihm immer noch wie im Albtraum zumute, zum anderen war ihm klar, dass jetzt alles sehr real war. Statt des Mondlichts strahlte nun die Sonne durch die Fenster in der Stube. Kilian stand auf, machte die ersten Schritte zum Vorhang und spürte, wie seine Beine weich wurden. Ihm fehlte das Gefühl des festen Standes, wie er es sonst jeden Tag gewohnt war. Fast wollte er sich wieder auf das Sofa zurücklegen, doch seine Neugier war stärker und so ging er um den Tisch herum und Schritt für Schritt langsam auf den Vorhang zu. Direkt davor hielt er an und spitzte seine Ohren wie ein Luchs auf der Pirsch. Er horchte nach irgendwelchen Geräuschen im Haus oder von draußen. Aber außer dem Summen einzelner Fliegen in der Stube und dem Gackern von Hühnern irgendwo im Hof war nichts zu hören. Er hob die Hand zum Vorhang und setzte an, ihn zur Seite zu ziehen, als ein seltsamer Gedanke durch seinen Kopf schoss. Was, wenn es doch einen zweiten Zugang zu diesem seltsamen Raum hinter dem Vorhang gab? Was, wenn Adam, Elisabeth oder sonst jemand in diesem Raum war und er bis dahin einfach nichts davon gehört hatte? Diese Fragen ließen ihn einen Moment an seinem Vorhaben zweifeln, doch schließlich verdrängte er sie, und das Gefühl der Neugier gewann endgültig. Er wollte wissen, was hinter diesem Vorhang war, und das würde er jetzt herausfinden. Mit einem tiefen Atemzug schob er den Samtstoff beiseite und schaute zögerlich in den Raum. Das Zimmer war in seinen Ausmaßen gleich groß wie die Stube. Die Fensterläden waren geschlossen, aber es war nicht ganz so düster wie in seinem Albtraum. Gedämpftes Tageslicht drang durch die Ritzen der Fensterläden. Außerdem fehlte die unheimliche rote Lichtquelle. Im ersten Moment fielen ihm die vielen Kräuterbüschel auf, die vertrockneten Fledermäusen gleich von der Zimmerdecke hingen. Links an der Wand war ein steinerner Kamin, gegenüber dem Vorhang war ein Fenster und an der rechten Wand ein weiteres. Es musste das Zimmer sein, das er an jenem Abend von außen gesehen hatte, als er um Hilfe geschrien hatte, da war er sich jetzt sicher. Staunend sah er sich weiter um. Ringsum im Zimmer waren an den Wänden Holzregale angebracht, in denen Gläser und Krüge mit allerlei Inhalten standen, die er nicht genau erkennen konnte. Die Mitte des Raumes bildeten ein großer Tisch, ein Pult und eine massive Truhe. Tisch und Pult standen aneinander und daneben die alte Holztruhe, die so groß war, dass man ohne Probleme einen erwachsenen Menschen darin hätte verstecken können. Auf dem Tisch standen Mörser, Flaschen und eine eigenartige Apparatur, die Kilian neugierig betrachtete. Auf einem Metallgestell stand ein gläsernes Gefäß mit umlaufender Rinne, das von einem Glashelm überdacht wurde. Vom Helm führte eine lange gläserne Röhre nach unten in eine großbauchige Flasche auf dem Boden. Unter dem Metallgestell stand eine große Öllampe. Kilian hatte eine ähnliche Apparatur schon einmal bei einem Apotheker gesehen. Es war wohl ein Destilliergerät. Im gedämpften Tageslicht des Zimmers begutachtete er fasziniert jeden Zentimeter dieses außergewöhnlichen Apparates, dann fiel sein Blick auf das große Buch, das zugeschlagen auf dem Pult lag. Es besaß einen hellen Ledereinband mit eingeprägten Ornamenten. Kilian schätzte, dass es etwa dreißig Zentimeter in der Breite und vierzig Zentimeter in der Länge maß. Die Buchdeckel waren mit zwei großen Metallschließen verschlossen. In diesem Moment vergaß er seine Schmerzen und das Fieber. Zu gerne hätte er länger den Destillationsapparat und die ganzen eigenartigen Gefäße in den Regalen auf ihren Inhalt untersucht, doch nichts zog seine Neugier so stark an wie das alte Buch auf dem Pult. Ohne seinen Blick davon abzuwenden, ging er um den Tisch herum und betrachtete andächtig den großen Band vor sich. Was mochte es für ein Buch sein? In seinem Aussehen erinnerte es an die großen Kirchenbücher, aus denen die Pfaffen an den Altären vorlasen. Das Buch vor ihm hatte zwar Verzierungen im Einband, doch ein Kreuz oder andere christliche Symbole waren darauf nicht zu erkennen. Bei genauerem Betrachten erkannte er verschiedene Blumenmuster, allerlei Tiere und menschenähnliche Figuren, die in das Leder eingeprägt waren. In der Mitte des Buchdeckels stand in Kapitalen der Titel »VIRIDITAS«. Ein Kirchenbuch konnte es nicht sein, dachte Kilian, denn dafür waren die Verzierungen zu heidnisch. Auf jeden Fall musste das Buch sehr alt sein, davon zeugten der abgenutzte Ledereinband und die angelaufenen Metallschließen. Ob er dessen Inhalt wohl lesen konnte, überlegte er sich? Dem Titel nach war es vermutlich in lateinischer Sprache verfasst. Kilian konnte kein Latein und in diesem Fall würde er es nicht lesen können. Mittlerweile war seine Neugier so groß, dass er den Band auf jeden Fall genauer anschauen wollte. Er griff mit den Fingern an die Metallschließen und begann, sie zu öffnen. Plötzlich war im Raum nebenan ein lautes Geräusch zu hören. Erschrocken huschte er aus dem Zimmer, zog den roten Vorhang zu und legte sich auf das Sofa, als sei nichts geschehen. Er war kurz davor gewesen, zu erfahren, was in dem alten Buch stand, und die Enttäuschung wurmte ihn.

Die Töchter der Biehles

Nach dem Besuch bei ihrer Freundin Hedwig fuhr Elisabeth mit dem Einspänner den Weg zurück zum Haus der Villingers neben der Kapelle. Sofie Villinger war zusammen mit ihrer jungen Tochter Cäcilia in der Küche und kochte Wäsche, denn heute war Waschtag. Die Türen zu Haus und Küche standen offen, damit der Dampf nach draußen abziehen konnte. Mit dem Korb voll Trauben trat Elisabeth ins Haus und folgte den Dampfschwaden bis in die Küche. Schwarze Spinnweben hingen im Hausgang von der Decke, die in der leichten Zugluft sanft hin und her wogten. Das Haus der Villingers war niedrig gebaut. Elisabeth selbst war nicht sehr groß und dennoch hatte sie das Gefühl, von der niedrigen Decke des Hausgangs erdrückt zu werden. Auch in der Küche schien die Decke von oben zu drücken und überall waren Spinnweben in den Ecken. Neben dem Schüttstein in der Küche stand der dampfende Waschkessel und in der Mitte des Raums arbeiteten die Frauen am großen Zuber. Heißer Dampf stieg vom offenen Kessel auf und sammelte sich in dünnen Schwaden unter der Küchendecke. Zuerst kochten die beiden die Wäsche im Kessel, danach drückte Cäcilia die Lauge im hölzernen Zuber mit einem Stampfer in die Wäsche und anschließend schrubbte Sofie die Kleider auf dem Waschbrett, bis alles sauber war. Sofie Villinger war in ihrer Körperstatur recht gut beieinander. Ihre Oberarme hatten etwa die Ausmaße von Elisabeths Oberschenkeln und auch sonst ging Sofie nicht gerade am Hungerstock, wie manche Dorfbewohner hinter vorgehaltener Hand über sie tratschten. Im Vergleich zu ihrer Mutter war die junge Cäcilia geradezu schmal wie ein Besenstiel. Sofie trug eine graue Mantelschürze und ein dunkelblaues Kopftuch. Die Ärmel ihrer Bluse waren zurückgekrempelt und mit dem Handrücken wischte sie sich über die verschwitzte Stirn. Ein paar ihrer schwarzen Haare lugten unter dem Kopftuch hervor und kräuselten sich in der dampfigen Luft. Ihre Nase war sehr groß und ihr Gesicht war für eine Frau äußerst derb. Elisabeth grüßte die beiden beim Hineingehen.

»Grüß euch Gott!«

Sofie und Cäcilia schauten beide verwundert von der Arbeit auf. Ganz in das Waschen vertieft, hatten sie gar nicht bemerkt, dass Elisabeth in die Küche eingetreten war.

»Ja, grüß dich Gott, Liesl!«, antwortete Sofie freudig.

Die junge Cäcilia grüßte Elisabeth ebenfalls mit einem Kopfnicken und stampfte weiter die Wäsche. Sofie musterte Elisabeth mit dem Korb im Arm. »Kommst du uns besuchen?«, fragte sie.

 

»Ja, aber nur kurz«, antwortete Elisabeth. »Ich will euch nicht bei der Arbeit stören.«

»Du störst uns doch nicht, Liesl«, entgegnete Sofie. »Komm, setz dich einen Augenblick hin.«

Sofie deutete auf einen Stuhl am Küchentisch und setzte sich neben sie.

»Ich wollte dir sagen, dass ich das Mittel gegen deine Kopfschmerzen bald fertig habe. Mir fehlt nur noch eine Zutat, dann bekommst du es.«

Sofie nickte zufrieden und ging nicht weiter auf die fehlende Zutat ein. Das war Elisabeth wiederum mehr als recht. So musste sie Sofie nicht anlügen und ihr statt der Fledermausasche von einem seltenen Kraut erzählen, das sie als Vorwand für die Verzögerung angegeben hätte. Denn Fledermausasche als Zutat für das Mittel würde Sofie vermutlich wie Quacksalberei vorkommen.

»Jaja, auf einen Tag kommt es jetzt auch nicht an«, sagte Sofie. »Hauptsache, die Schmerzen im Hirn finden irgendwann ein Ende und begleiten mich nicht bis zum Jüngsten Tag!«

In diesem Haus würde sie ebenfalls Kopfschmerzen bekommen, dachte Elisabeth für sich. Bei der niedrigen Zimmerdecke überkam sie unweigerlich das Gefühl, erdrückt zu werden. Sie selbst würde es hier nicht lange aushalten und insgeheim war sie froh, dass ihr Vrenenhof großzügiger gebaut war als das Haus der Villingers.

»Jesses Gott, nein«, erwiderte Elisabeth. »In den nächsten Tagen habe ich es sicher fertig.« Sie reichte Sofie den Korb mit Weintrauben. »Die habe ich heute abgenommen. Ich hoffe, ihr mögt Trauben?«

»Aber, Liesl, das wäre nicht nötig gewesen!«, entgegnete Sofie höflich.

»Doch, doch.« Elisabeth schmunzelte. »Wenn du schon so lange warten musst, will ich dir die Wartezeit wenigstens versüßen.«

»Danke dir, die essen wir sehr gerne.« Sofie probierte gleich ein paar Trauben. »Die sind ja hervorragend! Ihr müsst mehr Sonne auf dem Vrenenhof haben als wir hier im Dorf.«

Elisabeth lachte und stimmte Sofie zu. Während sich die Hausfrau noch ein paar Trauben abzupfte und aß, sprachen die beiden über Elisabeths gute Ernte und Sofie erzählte von ihrer mühseligen Wascharbeit. Kurze Zeit später verabschiedete sich Elisabeth und fuhr mit Pankraz weiter in Richtung Haldenhof. Auf der Fahrt zogen vereinzelt Wolken am blauen Himmel vorüber und ein leichter Wind wehte durch die großen Obstbäume an der alten Dorfstraße. Von dort bog Elisabeth auf die von alten knorrigen Birken gesäumte Auffahrt ein und fuhr hinauf zum idyllisch gelegenen Haldenhof. Johanna und Ludovica nutzten das gute Wetter an diesem Mittag für die Ernte der Zwiebeln. Zusammen arbeiteten sie im großen Garten hinter dem Wohnhaus. Johanna stach mit der Grabgabel die Zwiebeln aus dem Erdboden, Ludovica und die kleine Elfriede sammelten sie in großen Weidenkörben ein. Mit ihren sieben Lebensjahren konnte Elfriede bei kleineren Arbeiten auf dem Hof schon gut mithelfen, ihre beiden kleineren Schwestern mit drei und fünf Jahren waren dazu noch nicht zu gebrauchen. Die beiden kleinen Mädchen spielten deshalb auf der Wiese nebenan mit den jungen schwarz und weiß gescheckten Katzen. Als Elisabeth auf den Hof fuhr, sprang Theresia, die ältere der beiden Kleinen, auf und rannte dem Wagen vor Freude entgegen. Die kleine Magdalena verstand wohl zuerst nicht, warum ihre ältere Schwester davonrannte, doch als auch sie Elisabeths Pferdewagen entdeckte, lief sie ihrer Schwester unbeholfen hinterher.

»Tante Liesl, Tante Liesl!«, riefen die beiden Mädchen durcheinander.

Vom Rufen ihrer beiden kleinen Schwestern aufmerksam geworden, hielt Elfriede bei der Gartenarbeit inne und blickte sehnsüchtig in Richtung des Pferdewagens. Dann drehte sie sich fragend zu ihrer Mutter um. »Darf ich auch zur Tante Liesl?«

Johanna lächelte sie gutmütig an. »Aber natürlich. Die Liesl freut sich doch, wenn sie euch sieht.«

Elfriede eilte voller Freude zum Wagen und Johanna winkte Elisabeth fröhlich zu. Die einzige der Biehles, die sich über den Besuch nicht zu freuen schien, war die alte Ludovica. Mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Abneigung sah sie vom Garten aus zu, wie Elisabeth vom Wagen stieg und die kleinen Mädchen sie stürmisch belagerten. Ohne dem Besuch weitere Beachtung zu schenken, hob Ludovica den Korb voll Zwiebeln an und trug ihn zum Speicher. Währenddessen riefen die kleinen Mädchen weiter vor Begeisterung. »Tante Liesl, Tante Liesl!«

Elisabeth freute sich, von den kleinen Mädchen so liebevoll begrüßt zu werden. »Ist das schön, euch zu sehen. Geht es euch gut? Helft ihr eurer Mutter und der Großmutter fleißig im Garten?«

Auf die Frage hin plapperten die drei Mädchen sofort wild durcheinander. »Katzen, Katzen!«, quiekte die Kleinste freudig. »Ja, wir helfen im Garten«, erklärte die Mittlere. »Aber du musst unbedingt unsere Katzen anschauen, jetzt gleich!«

Bei dem heiteren Durcheinander begann Elisabeth zu lachen.

»Eine nach der anderen«, beruhigte sie. »Ich würde sagen, jetzt gehen wir erst einmal zu eurer Mutter, damit die Tante Liesl ihr Grüß Gott sagen kann, und dann schauen wir weiter.«

Wie eine Glucke mit ihren Küken lief Elisabeth mit den Mädchen zum Gemüsegarten hinüber. Johanna stellte die Grabgabel am Zaun ab und kam Elisabeth lächelnd entgegen.

»Ich hoffe, sie beanspruchen dich nicht zu sehr, aber sie freuen sich immer so, wenn sie dich sehen. Grüß dich Gott, Liesl!«

»Grüß Gott, Johanna! Nein, nein, nichts lieber als das! Sie sind doch so lieb.«

Die kleine Magdalena zupfte unruhig an Elisabeths Rock.

»Tante Liesl, Tante Liesl, Katzen schauen.«

Elisabeth lachte freudig und beugte sich zu ihr hinunter. »Ja, Magdalena. Ich schau mir eure Katzen gleich an. Aber zuerst will ich mit eurer Mutter reden.«

»Elfriede, geh mit deinen Schwestern schon mal zu den Katzen«, forderte Johanna ihre Älteste auf. »Die Tante Liesl kommt gleich zu euch.«

Elfriede nickte, nahm Magdalena bei der Hand und ging mit ihr auf die Wiese. Theresia sprang den beiden fröhlich hinterher. Elisabeth blickte neugierig auf Johannas schwangeren Bauch.

»Wie geht es dir? Macht sich das Kind bemerkbar?«

»Es ist nicht ganz so lebhaft wie die Mädchen damals, aber es bewegt sich gut, meistens am Morgen.«

»Na, dann hoffen wir doch, dass es ein gesunder Bub wird, der irgendwann mit seinem Vater am frühen Morgen in den Stall gehen will.«

Johanna lächelte über Elisabeths Bemerkung und sprach zögerlich zu ihr. »Ich hoffe es. Der Andreas wünscht sich so sehr einen Hoferben. Ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn es wieder ein Mädchen wird.«

»Aber, Johanna«, sprach Elisabeth eindringlich. »Wenn es ein Mädchen werden sollte, dann braucht das Kind die ganze Liebe seiner Mutter – Hoferbe hin oder her!«

Johanna schaute betrübt zu Boden. »Du weißt nicht, wie das ist, Liesl. Jeden Tag sehe ich die Sorge in den Augen meines Mannes. Eine bedrückende Sorge, dass er keinen Hoferben bekommen könnte. Wir haben drei Töchter. Wenn das vierte Kind wieder ein Mädchen wird, verliert er den Glauben an mich. In ein paar Jahren braucht er die Hilfe von einem Sohn. Und selbst wenn wir ein fünftes Kind bekommen sollten, wäre es für uns schwierig, die vielen Mäuler zu stopfen.«

Elisabeth legte Johanna die Hand auf die Schulter. »Ich verstehe deine Angst und eure Bedenken, aber du musst das Schicksal nun einmal nehmen, wie es kommt. Da haben wir alle keinen Einfluss drauf. Wenigstens solltest du darauf achten, dass das Kind gesund zur Welt kommt. Zu schwere Arbeit ist dabei nicht unbedingt förderlich.«

»Die Arbeit vor der Niederkunft hat noch keiner Hausfrau geschadet!«, platzte Ludovica in einem bissigen Tonfall dazwischen. Während Johanna und Elisabeth miteinander geredet hatten, musste sie in ihre Nähe geschlichen sein und das Gespräch belauscht haben. »Die Wöchnerinnen soll man schonen, ja. Aber davor schadet die Arbeit an der frischen Luft sicher nicht.«

Elisabeth und Johanna waren erschrocken. Auf die Bemerkung der Altbäuerin hin musste Elisabeth widersprechen. »Wenn Johanna zu schwer arbeitet, kann das frühzeitige Wehen auslösen, dann käme das Kind zu schwach auf die Welt. Willst du diese Gefahr wirklich in Kauf nehmen?«

Ludovica sah sie abschätzig an und Elisabeth konnte ihren Hass in diesem Moment deutlich spüren. »Ich habe selbst fünf Kinder auf die Welt gebracht«, brüstete sich die Altbäuerin. »Sie waren gesund und ich habe bei allen bis kurz vor der Geburt auf dem Hof gearbeitet. Ich muss es wohl besser wissen, schließlich hast du selbst keine Kinder, oder doch?«

Bei diesem Satz schaute Johanna entsetzt zu ihrer Schwiegermutter. »Ludovica!«, entfuhr es ihr.

Die Altbäuerin sagte nichts weiter. Sie betrachtete Elisabeth erwartungsvoll mit einem hämischen Grinsen und wartete auf ihre Antwort. Elisabeth fühlte sich in diesem Moment äußerst gekränkt. In jungen Jahren hatte sie sich oft Kinder gewünscht. Das war nun Jahrzehnte her und sie hatte gelernt, mit der Enttäuschung zu leben. Doch der Vorwurf, dass sie keinem Kind das Leben geschenkt und damit ihre wesentliche Aufgabe als Frau verfehlt habe, traf sie mitten ins Herz. Dennoch bemühte sie sich, die Kränkung, so gut es ging, zu verbergen.

»Auch wenn ich keine eigenen Kinder habe, Ludovica, so habe ich in meinem Leben schon vielen schwangeren Frauen geholfen. Und bei manchen kamen eben die Kinder zu früh zur Welt, weil die Mutter zuvor zu schwer gearbeitet hat.«

Ludovica war von ihrer Meinung nicht abzubringen und ließ ihre Abneigung nun deutlicher zutage treten. »Wahrscheinlich sind die Kinder zu früh gekommen, weil du den Müttern irgendwelche von deinen Mittelchen unter das Essen gemischt hast. Und das alles nur aus Neid, weil du selbst keine bekommen hast!«

Bevor Elisabeth sich zu dieser Anschuldigung äußern konnte, versuchte Johanna zu schlichten. »Liesl, bitte vergib meiner Schwiegermutter. Und du, Ludovica, lass die Liesl bitte in Frieden! Meine Mutter hat von ihr immer nur Gutes erfahren und ich selbst vertraue deswegen ganz auf sie und ihr Wissen.«

Von einem Augenblick auf den anderen schien Ludovicas Angriffslust verflogen. Sie lief gleichgültig davon. Im Weggehen murmelte sie weiter vor sich hin. »Wenn du meinst, dann soll es mir recht sein. Aber vergiss nicht, dass es das Kind von meinem Sohn ist. Da habe ich ein Wörtchen mitzureden.«

Die Altbäuerin nahm einen leeren Korb zur Hand und begann wieder, Zwiebeln einzusammeln. Johanna wandte sich Elisabeth zu.

»Magst du etwas trinken? Ein Glas Milch oder einen Likör? Komm mit mir in die Küche.«

»Gern. Ich komme sofort«, antwortete Elisabeth. »Ich gehe nur schnell zu den Mädchen hinüber. Die wollten mir doch unbedingt die Katzen zeigen und ich habe euch einen Korb voll Weintrauben mitgebracht. Wenn du möchtest, kannst du sie gleich mit in die Küche nehmen.«

»Vergelt’s Gott, Liesl! Die Mädchen freuen sich bestimmt über die Trauben.«

Zusammen liefen die beiden zum Einspänner hinüber und Johanna nahm den Korb entgegen. Pankraz hatte die ganze Zeit über im Hof gestanden und zufrieden gewartet. Mit dem Korb auf dem Arm streichelte Johanna ihn am Kopf. »Du hast bestimmt auch Durst, gell mein Lieber? Soll ich dem Pankraz einen Eimer Wasser geben?«, fragte sie Elisabeth.

»Ja, das tut dem alten Kerl sicher gut«, antwortete sie und ging auf die Wiese hinüber. Dort spielte sie eine Weile mit den Mädchen und den jungen Katzen. Die spitzzüngigen Bemerkungen Ludovicas hatte sie währenddessen vergessen. In der Küche trank sie anschließend ein Gläschen vom schwarzen Johannisbeerlikör und unterhielt sich mit Johanna. Erst als Elisabeth mit Pankraz später auf dem Heimweg war, gingen ihr die böswilligen Worte nochmals durch den Kopf. Sie hatten sie schwer getroffen, dennoch versuchte Elisabeth, die Kränkung zu vergessen.

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