Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs

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Der Vrenenhof

Der Hof, auf dem Elisabeth Freistetter und Adam Krämer lebten, lag mitten im Fronholz auf einer großen Lichtung. Der Waldweg von Ernatsreute nach Owingen führte direkt am Hof vorbei. Vom Weg aus gesehen, erstreckte sich die Lichtung auf der linken Seite als große Wiese bergab bis zum südlichen Rand des Waldes in Richtung Bambergen. Auf der rechten Seite des Weges stand der alte Vrenenhof, der seinen Namen von der heiligen Verena bekommen hatte. Das Haupthaus war aus braunem Fachwerk gebaut mit grünen Fensterläden, die mit Blumen und weißen Ornamenten bemalt waren. Über die Jahrzehnte war die Farbe der Fensterläden rissig geworden und an der Nordseite begann sie schon, in kleinen Teilen abzuplatzen. Elisabeth hatte das Haus von ihrer Tante Ottilie geerbt, die in den letzten Jahren nach dem Tod ihres Mannes ein Einsiedlerleben geführt hatte. Das Haus mochte etwa dreihundert Jahre alt sein. Früher hatte an dessen Stelle ein größeres Bauernhaus gestanden, doch der Dreißigjährige Krieg hatte wie in Bambergen und den umliegenden Dörfern auch vor dem Vrenenhof keinen Halt gemacht, wie Tante Ottilie erzählt hatte. Schwedische Soldaten hatten damals den Hof um sein ganzes Vieh und alle Nahrungsmittel geplündert. Den Bauer und seine Familie hatten sie kaltblütig erschlagen und das Haupthaus in Brand gesetzt, um die Leichen darin zu vernichten. Den Kornspeicher hatten sie allerdings unversehrt gelassen, denn während das Haupthaus in Flammen stand, beraubten sie den Speicher all der Vorräte, die darin lagerten. Wie manch andere Gehöfte im Umkreis hatte der Vrenenhof einst der Johanniterkommende in Überlingen gehört, die den Hof an Bauern belehnte. Da es nach dem Dreißigjährigen Krieg an Geld fehlte, ließ die Ordensgemeinschaft anstelle des abgebrannten Haupthauses ein kleineres Wohnhaus mit Tenne errichten und belehnte den Vrenenhof fortan wieder an Bauern. Tante Ottilies Schwiegervater war der letzte Lehensbauer des Vrenenhofs gewesen. Gegen Zahlung einer Ablösesumme hatte er das Gut an sich gebracht und so wurde der Vrenenhof von ihm an Tante Ottilies Mann, und von ihr wiederum an Elisabeth vererbt. Sie und Adam lebten nun schon seit über dreißig Jahren allein hier. Kinder hatte das alte Paar keine, aber dafür viele Tiere, um die sich die beiden genauso sorgsam kümmerten.

Es war ein warmer Herbsttag und die Sonne strahlte am leicht bewölkten Himmel über der Lichtung. An diesem Morgen lag ein junger Mann auf dem rubinroten Biedermeiersofa in der Stube und schlief. Er war am Vorabend hinter dem Haus zusammengebrochen. Von seinem Ächzen alarmiert, hatten Adam und Elisabeth den schwer verletzten jungen Mann hinter ihrem Hof entdeckt. Sofort hatten sie ihn ins Haus gebracht und auf das Sofa gelegt. Noch am Abend hatte Elisabeth mit warmem Wasser die angetrockneten Blutreste aus dem Gesicht des Fremden gewaschen und ihm eine besondere Kräutermixtur zur Beruhigung verabreicht. Dann war er erschöpft eingeschlafen.

Zaghaft öffnete Elisabeth die Tür zur Stube und ging hinein, sie wollte den jungen Mann auf keinen Fall wecken. Aus Gewohnheit blickte sie zuerst zu dem langen Vorhang, der den Zugang zum Hinterzimmer verdeckte. Sie musste sich vergewissern, dass das Zimmer vor neugierigen Blicken verborgen blieb. Gegenüber dem Vorhang lag der junge Mann auf dem Sofa. In der Mitte der Stube stand ein kleiner quadratischer Tisch auf einem großen runden Teppich. Um den Tisch herum waren vier Stühle angeordnet. Mit den Leuten, die Elisabeth um Hilfe aufsuchten, saß sie gewöhnlich dort. Ihr angestammter Platz befand sich vor dem Vorhang, sodass sie das Hinterzimmer stets in ihrem Rücken hatte. Der Besuch saß ihr meist gegenüber oder durfte sich sogar auf das bequem gepolsterte Sofa legen, damit Elisabeth sich die Person für die Behandlung genauer ansehen konnte.

Seit gestern Abend waren die dunkelgrünen Vorhänge zugezogen, sodass die Morgensonne nur gedämpft durch die Fenster schien. Eine Fliege kreiste im schwachen Tageslicht über dem Sofa umher, doch das surrende Geräusch ihrer Flügel schien den jungen Mann in seinem tiefen Schlaf nicht zu stören. Langsam trat Elisabeth an das Sofa heran und betrachtete ihren fremden Gast, dessen Namen sie nicht kannte. Er mochte etwa um die dreißig Jahre alt sein. Seine Kleidung war die eines Handwerksburschen. Er war von mittlerer Statur, der Länge nach passte er noch gut auf das Sofa. Für einen Burschen in seinem Alter war er zudem anständig genährt, aber nicht fett. Sein Gesicht war rundlich und auf dem Kopf trug er braune Locken, die vom Schweiß teilweise an seiner Stirn klebten. Elisabeth wusste nicht, woher er gekommen war, aber eines war sicher: Wäre er in seinem angeschlagenen Zustand noch einige Zeit im Wald umhergeirrt, dann hätte er bei Gott ein schnelles Ende gefunden. Am Kopf hatte er eine schwere Verletzung auf der rechten Schädelseite. Dazu kam jetzt das Fieber, das von der Wunde herrührte, die sich entzündet haben musste. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und er atmete sehr kurz und stoßartig, während er schlief. Elisabeth wischte ihm mit einem Tuch vorsichtig über das Gesicht. Eine Weile betrachtete sie ihn und fragte sich, wer er wohl sein mochte. Was um alles in der Welt war dem armen Kerl passiert? In der Gewissheit, dass diese Fragen bald beantwortet würden, ging sie hinaus auf den Gang und schloss leise die Stubentür hinter sich.

An diesem Morgen wollte Elisabeth ihre Weintrauben ernten. Sie ging in die Küche am Ende des Hausgangs. Von einem der drei Stühle am Küchentisch nahm sie ihre Schürze und zog sie über ihre helle Bluse und das dunkelgrüne Trägerkleid. Darüber zog sie eine feine Strickjacke. Ihre langen schwarz-grauen Haare band sie wie immer zu einem Zopf, über den sie für die Arbeit ein Kopftuch knotete. Zwischen einem Wandregal, auf dem sie Geschirr und Krüge aufbewahrten, und der Hintertür zur Wiese, über die sich der junge Mann gestern gequält haben musste, führte eine weitere Tür über zwei Stufen in die Tenne hinunter. Fertig angekleidet nahm Elisabeth ein Messer aus der Tischschublade, holte einen Weidenkorb aus der Tenne und ging nach draußen. Die ganze Südwand des Hauses zum Waldweg hin und ein Teil der Westwand waren von oben bis unten mit Weinreben bewachsen. Zufrieden begutachtete Elisabeth die vollbehangenen Rebstöcke. Für die Weintrauben war die Hauswand ein idealer Platz, um den ganzen Tag das Sonnenlicht des Sommers einzufangen. Nun war es Ende September und die Trauben waren reif. Wie jedes Jahr verarbeitete Elisabeth einen Teil davon zu Wein, den sie für ihre Mixturen brauchte, während sie den Rest in der Vorratskammer an die Decke hängte. So gelagert, hielten die Trauben gut drei bis vier Wochen, auch wenn die Beeren mit der Zeit schrumpelig wurden. Ihre Süße verloren sie dabei nicht. Im Gegenteil – die Trauben schienen sogar noch ein bisschen süßer zu werden. Elisabeth und Adam hatten dadurch genügend Zeit, die Früchte ihrer Traubenernte zu genießen. Und wenn sie sich dann doch irgendwann davon satt gegessen hatten, trocknete Elisabeth den Rest zu Rosinen, die in einem ihrer Hefezopfbrote landeten. Dass die Weintrauben nun reif waren, hatte allerdings auch die Tierwelt auf dem Vrenenhof bemerkt. Schon frühmorgens hüpften Spatzen munter in den Reben an der Hauswand umher und pickten an den süßen Beeren. Ihnen folgten die Wespen und Hornissen, welche sich an den aufgepickten Stellen weiter zu schaffen machten. An diesem Morgen arbeitete Elisabeth sich an der Südwand von der Haustür langsam zur Westwand vor. Die Weinreben waren über die Jahre hinweg an der Wand emporgewachsen und hatten über dem Tennentor ihren Weg zur Abendsonne an der Westwand gefunden. Auf dieser Seite des Hauses war auch das Schweinegatter, wo tagsüber die beiden Schweine in ihren Erdmulden dösten. Das Gatter schloss einen Teil der Hauswand ein und von dort gelangten die Schweine über eine kleine Tür direkt in ihren Stall in der Tenne. Adam musste die trägen Schweine abends gar nicht erst eintreiben, es genügte, wenn er ihnen im Stall Rüben, Äpfel oder Essensreste in den Trog warf. Von diesem verheißungsvollen Geräusch angelockt, gingen die Schweine freiwillig hinein.

Als der erste Korb voll mit Trauben war, trug Elisabeth ihn durch das große Tor in die Tenne, wo sie ihn abstellte. Die angefressenen Traubenzweige warf sie den Schweinen und Hühnern in den Trog. Der Schweinestall war gleich hinter dem linken Torflügel. Weiter hinten in der Ecke gelangte sie über eine Holztreppe in den angebauten Hühnerstall. Im hinteren Teil des Hühnerstalls stand Pankraz in seiner Stallung, ein braunes Schwarzwälder Kaltblut. Der gutmütige Pankraz hatte am Hang direkt unterhalb des Hühnerstalls seinen eigenen eingezäunten Weidebereich. Die Hühner liefen auf dem Vrenenhof tagsüber frei umher und so kam es öfters vor, dass ein paar von ihnen dem großen Kaltblüter einen Besuch auf seiner Weide abstatteten. Seinem ruhigen Gemüt entsprechend, ließ sich der schon etwas ältere Pankraz von den scharrenden Hennen jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Elisabeth und Adam hatten manchmal sogar das Gefühl, dass er die Gesellschaft seiner gackernden Stallnachbarn genoss.

Elisabeth ging zur Rückwand der Tenne, wo jede Menge Arbeitsgeräte und der Einspänner für Pankraz standen. Hinten in der Ecke, wo die steinernen Stufen in die Küche hinaufführten, suchte sie vergeblich nach den Körben. Daneben war der Treppenabgang in den Keller, doch auch dort waren keine Körbe zu finden.

»Wo hat er sie bloß wieder versteckt«, murmelte Elisabeth vor sich hin und ging wieder hinaus. Draußen im Hof, umgeben von Wohnhaus und Speicher, lag zum Waldweg hin ihr großer Garten. Dort pflanzte sie nicht nur Gemüse, sondern auch alle möglichen Kräuter an. Der Garten war von einem Zaun mit dünnen angespitzten Holzpalisaden umgeben, damit keine wilden Tiere darin fressen oder im Boden umherwühlen konnten. Elisabeth lief am Garten vorbei und suchte im alten Speicher nach den Körben. Komplett aus Holz gebaut, war er zweistöckig angelegt. In seinem unteren Stock lagerten Sensen, Rechen und allerlei Gerätschaften für den Garten. In der Raummitte stand ein Hackstock, auf dem Adam gelegentlich das Holz spaltete, das er an der Wand nebenan aufstapelte. Der obere Stock des Speichers wurde fast nicht mehr genutzt. Hier hatte man früher das Getreide aufbewahrt. Links und rechts waren große kastenförmige Fächer, in denen das Korn einst gelagert worden war, denn hier oben war es vor Feuchtigkeit und Mäusen gut geschützt. Doch die Getreidekästen waren seit Jahrzehnten leer und dienten nur noch als Abstellraum für alte Krüge, Flaschen und anderes Gerümpel. Einen Teil der Kästen hatte Adam mit Brennholz gefüllt. Im Giebel über den Getreidekästen war früher der Speck zum Lagern aufgehängt worden. Jetzt hingen dort verschiedene Kräuterbüschel, die Elisabeth trocknete. Von ihrer Tante Ottilie hatte Elisabeth schon als Kind von der kleinen geheimen Kammer im Inneren des alten Speichers erfahren. Die Kammer verbarg sich in der doppelten Rückwand des Speichers im oberen Stock. Zwischen den beiden Wänden befand sich ein Hohlraum von etwa einem Meter Tiefe. Den Zugang zu diesem nicht sichtbaren Raum bildete ein kleines Türchen im hintersten Getreidekasten auf der linken Seite. Wenn der Kasten mit Getreide gefüllt war, konnte man das kleine Türchen nicht mehr erkennen. Derart gut verborgen, war der Geheimraum im Speicher früher ein ideales Versteck für die Barschaft und für wichtige Schriftstücke der Hofbesitzer gewesen. Ob die schwedischen Soldaten bei der Brandschatzung während des Dreißigjährigen Krieges den geheimen Raum entdeckt hatten, konnte Tante Ottilie aus den Erzählungen der Vorbesitzer nicht mehr sagen. Möglicherweise hatten die Schweden das Geheimfach entdeckt und alles darin Befindliche geraubt, andererseits war es genauso möglich, dass sie es in der Dunkelheit des Speichers übersehen hatten und die Verwalter der Ordensgemeinschaft nach der Ermordung des Pächters die Wertsachen an sich nahmen. Jedenfalls war der Geheimraum leer gewesen, als Ottilies Schwiegervater den Vrenenhof übernommen hatte. In den ersten Jahren, nachdem Elisabeth und Adam den Hof von Tante Ottilie weitergeführt hatten, war Elisabeth der Geheimraum wieder in Erinnerung gekommen. Sie hatte Adam davon erzählt und eine Zeit lang übte der geheime Raum eine Faszination auf sie beide aus. Sie überlegten ebenfalls, dort ihr wertvolles Hab und Gut zu verstecken. Doch aus Angst, der Speicher könnte eines Tages vom Blitz getroffen werden und in Flammen aufgehen, verwarfen sie den Gedanken. Das Haupthaus schien ihnen für ihre Wertsachen sicherer. In einem der Getreidekästen entdeckte Elisabeth schließlich die gesuchten Körbe.

 

»Natürlich im hintersten Eck. Dort, wo niemand sie sucht. Oh, du, mein Eselpeter!«, redete sie vor sich hin und schüttelte den Kopf.

Es waren bereits zwei Stunden vergangen, als Elisabeth drei Körbe mit Trauben gefüllt hatte. Ein Großteil der südlichen Hauswand war abgeerntet. Während sie die Holzleiter nach rechts rückte und wieder nach oben stieg, lief Adam unten auf den Hof. Er war am frühen Morgen in den Wald gegangen, um für sie eine Fledermaus zu fangen. Sofie Villinger aus dem Dorf war vor ein paar Tagen bei Elisabeth vorstellig geworden und hatte über starke Kopfschmerzen geklagt, die sie schon längere Zeit plagten, meistens gegen Abend. Elisabeth hatte der recht korpulenten Sofie gesagt, sie solle sich in der Stube auf das Sofa legen. Dann hatte sie ihre rechte Hand auf Sofies Kopf gelegt und die linke auf ihren Bauch. In dieser Haltung hielt Elisabeth inne und horchte durch das Auflegen in den Körper der Frau. Anschließend verschwand sie hinter dem Vorhang im Nebenzimmer. Nach kurzer Zeit kehrte sie wieder zurück und schickte Sofie Villinger nach Hause. Am späteren Abend desselben Tages hatte Elisabeth Adam erzählt, dass sie ein passendes Rezept für ein Mittel gegen die starken Kopfschmerzen gefunden hatte. Da Sofie im mittleren Lebensalter war und von gesunder Physis, hatte Elisabeth eine besonders starke Mixtur gewählt, welche die Bäuerin sicher vertragen würde. Sie hatte fast alle notwendigen Zutaten dafür beieinandergehabt, doch eine ganz spezielle Ingredienz hatte ihr noch gefehlt: die Asche einer Fledermaus, genauer gesagt die Asche eines Abendseglers. Da Elisabeth nicht wusste, wie sie eine Fledermaus hätte fangen sollen, musste Adam das für sie erledigen. Deshalb hatte er in den vergangenen Tagen kleine Holzkästen als Unterschlupf für die Fledermäuse in den Wäldern aufgehängt. Wenn ein paar Abendsegler tagsüber darin ruhten, konnte er ohne großen Aufwand eines der Tiere herausholen.

Oben auf der Leiter wandte sich Elisabeth zu Adam um. »Und? Waren welche im Kasten drin?«, fragte sie ihn erwartungsvoll.

»Eben nicht! Die Viecher wissen wohl, was ihnen blüht, wenn sie hineingehen«, antwortete Adam launisch.

Über seiner rechten Schulter trug er einen leeren Leinensack, in dem er seinen Fang nach Hause transportiert hätte, wenn er erfolgreich gewesen wäre.

Für sein Alter war Adam Krämer noch recht rüstig und von kräftiger Statur. Im vergangenen Jahr war er sechzig Jahre alt geworden. Seine Haare wurden in letzter Zeit immer grauer und die Länge seines Bartes nahm beträchtlich zu. Er trug meist seine alte Zimmermannsweste und darüber seine braune Waldjacke. Auf seine Mitmenschen wirkte er in seiner Art zurückgezogen und nicht besonders gesprächig. Die Dorfbewohner nannten ihn deshalb den »komischen Adam«, doch das störte ihn nicht weiter. Adam konnte stundenlang im Wald unterwegs sein. Er genoss die Ruhe in der Natur und fühlte sich in diesen Momenten dem Schöpfer besonders nahe, und Elisabeth war das gewohnt. Sie schätzte an ihm seine Ausgeglichenheit. Adam war in Ostrach als Sohn eines Zimmermanns geboren worden. Nach der Lehrzeit bei seinem Vater war er jahrelang auf der Walz gewesen. Als junger Zimmermann hatte er die Freiheit genossen und dort gelebt, wohin die Arbeit ihn geführt hatte. An Orten, an denen es ihm besonders gefiel, blieb er länger. In den über zehn Jahren auf der Walz lernte er Orte wie Ulm, Regensburg, Eisenach und sogar Weimar kennen. Nach den Jahren der Ungebundenheit zog es Adam wieder in seine alte Heimat um Ostrach zurück. Als er auf dem großen Wangenhof in der Nähe von Pfullendorf beim Bau der neuen Scheune tätig war, lernte er Elisabeth kennen. Sie lebte damals auf dem Hof ihrer jüngeren Schwester bei Otterswang und kam auf den Wangenhof, um der Bäuerin zu helfen, die sich seit längerer Zeit mit einer schweren Hautkrankheit herumplagte. Elisabeth war damals bei den Leuten bekannt für ihr Wissen in der Kräuterheilkunde. Adam hatte sich während der Walz nicht viel aus Frauen gemacht und oft nur flüchtige Liebschaften geführt. Doch Elisabeth mit ihrer ruhigen und liebevollen Art hatte ihn vom ersten Moment an in ihren Bann gezogen. Etwa zwei Jahre nach ihrem Kennenlernen war Elisabeths Tante Ottilie verstorben. Die kinderlose Witwe hatte ihrer Nichte den Vrenenhof vererbt und so kam es, dass Elisabeth und Adam zusammen dort hinzogen. Geheiratet hatten sie einander nicht, denn der kirchliche Segen war den beiden für ihr Zusammenleben nicht wichtig. Bei den Dorfbewohnern war diese Tatsache allerdings immer wieder ein Stein des Anstoßes. Doch Elisabeth und Adam kümmerten sich nicht weiter um das Geschwätz der Leute. Sie lebten zufrieden und abgeschieden auf ihrem Vrenenhof und das war ihnen am wichtigsten.

»Wie geht es ihm?«, fragte Adam und deutete mit dem Kopf Richtung Stubenfenster.

»Er schläft immer noch«, antwortete sie. »Meine Kräutermischung hat ihm wohl gutgetan.«

Adam nickte zufrieden und griff in den gefüllten Korb vor seinen Füßen. Er nahm sich ein Büschel der geernteten Traubenzweige heraus und aß genüsslich von den Beeren.

Elisabeth stieg währenddessen von der Leiter herab und steckte das Messer in die Tasche ihrer Schürze.

»Aber mittlerweile hat er sehr hohes Fieber. Wenn es in den nächsten Stunden nicht runtergeht, werde ich ihm wohl kalte Wadenwickel machen müssen.«

»Hat er irgendetwas gesagt?«

»Nein. Wenn, dann murmelt er nur vor sich hin. Kein Wunder, bei seinem Zustand. Die Wunde an seinem Kopf ist groß. Ich frage mich, was er gemacht hat.«

»Vielleicht ist er unterwegs gestürzt?«, mutmaßte Adam.

»Glaube ich nicht. Jemand muss ihn mit etwas Hartem geschlagen haben, so wie er aussieht.«

Adam hatte die letzte Beere von seinem Traubenzweig abgezupft. »Aber warum kommt er dann zu uns? Warum läuft er mit dieser Verletzung so weit durch den Wald und nicht ins Dorf?«

»Ich weiß es auch nicht«, erwiderte sie. »Vielleicht hat er jemanden gesucht? Oder er hat sich verlaufen? Was denkst du, wo er herkommt?«

»Na ja, es muss auf jeden Fall ein Fremder sein. Ich habe ihn nie zuvor gesehen. Vielleicht ein Handwerksbursche, so wie er angezogen ist?«

»Aber er hat ja gar keine Sachen bei sich. Kein Bündel, nichts«, überlegte Elisabeth laut.

»Vielleicht hat er irgendwo im Wald sein Lager aufgeschlagen und die Sachen liegen immer noch dort?«

»Oder man hat ihn vertrieben?«, meinte sie. »Es ist jedenfalls sehr seltsam, findest du nicht?« Sie blickte ihm fragend in die Augen. In die Augen, in die sie sich vor Jahrzehnten so schnell verliebt hatte. Adams Gesicht war mittlerweile um Jahre gealtert, dennoch liebte sie ihn immer noch wie am ersten Tag. Bei seinem Anblick durchfuhr ein warmes Gefühl ihren Bauch. Zufrieden lächelte sie ihn an, obwohl das Gesprächsthema keinen Anlass dazu gab.

»Ja, seltsam ist es auf jeden Fall«, antwortete er. »Aber unser Gast wird uns sicherlich erzählen, wem er die Verletzung zu verdanken hat. Darauf bin ich jetzt schon gespannt, das kannst du mir glauben!«

Der Haldenhof

»Der alte Hund, der elende! Vorgestern hat er mir zugesagt und jetzt kommt er einfach nicht!« Es war Andreas Biehle, der auf dem Haldenhof wutentbrannt schimpfte. Seine Stimme entsprach seinem kräftigen Bau und seine Flüche ließen seinen feinen Oberlippenbart, dunkelblond wie seine Haare, erzittern. Neben ihm spannte der alte Knecht Vinzenz in aller Ruhe die Pferde vor den großen Heuwagen und ließ sich von seinem Fluchen nicht beirren. Die Miene unter dem abgetragenen Filzhut des Knechts blieb teilnahmslos. Sein Schweigen machte Andreas noch wütender, denn er brauchte jetzt jemanden, um seinen Ärger auszulassen, zumindest mit Worten. Der Bauer ging mit energischen Schritten ins Haus zu seiner Frau, um dort ausgiebig weiterzufluchen, seine Lederstiefel knirschten auf dem trockenen Boden des Hofs.

»Heilandsakrament noch mal!«, wütete er in der Küche. »Jetzt kann ich den Ernst schon wieder anbetteln, wenn der überhaupt Zeit hat!«

Johanna saß am Küchentisch und schälte Kartoffeln. Ihre weiße Bluse und ihr langer blauer Trägerrock spannten unter dem Bauch, der sich wegen der Schwangerschaft nach außen wölbte. Erschrocken schaute sie von der Arbeit auf und versuchte, ihn zu beruhigen.

»Andreas, bitte hör auf zu fluchen.«

»Ja, ist doch wahr!«, entgegnete er. »Auf den kann man sich einfach nie verlassen!«

»Wen meinst du denn?«

»Wen schon?!«, schnaubte er. »Den dürren Georg! Ich frag mich nur, wie mein Vater es mit ihm ausgehalten hat!«

»Nun ja, du weißt ja nicht, warum der Georg keine Zeit hat. Vielleicht muss er eine dringende Arbeit erledigen.«

Andreas wollte sich immer noch nicht recht beruhigen. »Aber er hat es mir versprochen! Soll er doch wenigstens vorbeikommen und sagen, dass er keine Zeit hat, dann kann ich jemanden anderen suchen!«

Wieder versuchte Johanna, ihn zu besänftigen. »Womöglich hatte der Georg keine Zeit, dir abzusagen. Bestimmt ist ihm etwas dazwischengekommen.«

Johannas Stimme wirkte tatsächlich beruhigend auf ihn. Er setzte sich zu ihr an den Tisch und redete in normalem Tonfall weiter. »Irgendwas wird es sein«, grummelte er. »Am besten ist es wahrscheinlich, wenn wir den Grund gar nicht kennen. Die Leute erzählen am Stammtisch genug komische Geschichten über ihn, das willst du gar nicht wissen. Es würde mich ja nicht wundern, wenn der einen auf dem Gewissen hat.«

»Andreas!«, fuhr Johanna ihn vorwurfsvoll an. »Hör bitte sofort damit auf! Ich habe schon genug Angst um die Mädchen, wenn er bei uns auf dem Hof ist!«

»Da musst du dir keine Sorgen machen«, erwiderte er. »Manche haben erzählt, dass er ab und zu Fremde auf seinem Schäferwagen mitgenommen hat. Scheinbar hat man die nie wieder gesehen, aber Kinder waren keine dabei.«

»Trotzdem will ich es nicht hören«, sagte Johanna. »Warum arbeitet er überhaupt bei uns auf dem Hof, wenn die Leute solche Schauergeschichten über ihn erzählen?«

 

»Weil er ein guter Arbeiter ist«, antwortete Andreas. »Und von uns hat er noch nie jemandem etwas zuleide getan.«

»Bei so einem unheimlichen Menschen kann man sich ja nie sicher sein«, hielt Johanna anklagend dagegen.

»Der wird uns nichts tun«, tat Andreas selbstsicher ab. »Dafür werde ich sorgen.« Er stand auf und begann erneut zu schimpfen. »Aber die nächste Zeit braucht der sich auf meinem Hof jedenfalls nicht blicken zu lassen! Und zum Vesper braucht er grad auch nicht mehr kommen! Der kriegt kein einziges Stückle Speck von mir, der elende Hund!«

Johanna sah ihn fragend an. »Und wer hilft euch jetzt auf dem Feld?«

Andreas schenkte sich aus dem steinernen Krug ein Glas Most ein. »In dem Fall bleibt wohl doch niemand anderes übrig als dein Bruder«, sagte er resigniert. »Aber der wird heut und morgen sowieso keine Zeit haben.«

Johanna zuckte mit den Schultern. »Fragen kannst du ihn ja«, meinte sie und schälte weiter Kartoffeln.

Andreas trank das Glas aus, zog sein blaues Stofftaschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich die Nase. »Tja, wenn ich endlich einen Bub hätte! Dann könnte der mir jetzt wenigstens ein bisschen helfen.«

An Johannas traurigem Blick konnte Andreas erkennen, dass sie seine Bemerkung als Vorwurf auffasste. Sie schluckte und grübelte nach einer Lösung. »Ludovica kann doch ins Dorf fahren und den alten Stumpfer fragen?«, schlug sie vor. »Der hilft auch auf den anderen Höfen.«

Abgeneigt verzog Andreas das Gesicht. »Der Stumpfer?! Der ist ja noch viel älter als unser Vinzenz!«

»Ja, aber ihr braucht doch jemanden, der euch zweien hilft.«

Andreas schwieg für einen Moment. Es kostete ihn jedes Mal Überwindung, Johannas Bruder Ernst zu fragen, weil dieser immer alles besser wusste. Da wäre es wohl das kleinere Übel, den alten Stumpfer zu fragen, dachte er sich. Als er nach einer Weile immer noch nicht antwortete, schaute Johanna von ihren Händen auf und blickte ihn mit ihrem gutmütigen Lächeln an. Ihre feinen Züge waren so sanft und unter dem dunkelblauen Kopftuch spitzelte ihr braunes Haar hervor. Bei diesem Anblick konnte er nicht anders und stimmte ihrem Vorschlag zu. »Von mir aus. Aber dann soll Mutter den alten Stumpfer am besten gleich holen!« Mit diesen Worten ging er hinaus, zog die Küchentür hinter sich zu und rief draußen nach Ludovica. Eine Stunde später kehrte diese mit dem Fuhrwerk auf den Haldenhof zurück, auf der Sitzbank neben ihr saß Gottfried Stumpfer.

Eigentlich hätte Andreas mit seinem bisherigen Leben mehr als zufrieden sein können. Er war zweiunddreißig Jahre alt und stolzer Bauer des Haldenhofes. Sein Vater war früh verstorben und Andreas einige Jahre später als dessen ältester Sohn Hoferbe geworden. In Ernatsreute und den umliegenden Dörfern genoss er dadurch hohes Ansehen. Der Haldenhof war ein großes landwirtschaftliches Gut, das auf einer Anhöhe vor Ernatsreute lag. Von ihrem Hof aus konnten die Biehles auf der gegenüberliegenden Anhöhe im Norden den Turm von Hohenbodman sehen. Er war ein Überbleibsel der mittelalterlichen Höhenburg der Herren von Bodman, die ihren Sitz vor Jahrhunderten verlassen hatten, um auf der anderen Seite des Bodensees einen neuen Stammsitz zu errichten. Nur der Turm war als stummer Zeuge ihrer Herrschaft im Linzgau übrig geblieben. Unterhalb am Hang waren die Burghöfe und weiter unten das Dorf Ernatsreute. Im Osten, jenseits der alten Dorfstraße, thronte auf einer Anhöhe der Hebsackhof des Heilig-Geist-Spitals von Überlingen. Er und der Haldenhof lagen sich wie mittelalterliche Trutzburgen gegenüber, doch waren die Besitzer keine Feinde, denn Andreas’ Cousin, Werner Neidhart, bewirtschaftete als Pächter das große Hofgut. Weiter im Osten hinter dem kleinen Speicher auf dem Haldenhof war ganz klein die Kirchturmspitze von Lippertsreute zu erkennen und im Süden bei klarem Wetter in der Ferne ein Stück des Bodensees. Von der Stube aus konnten die Biehles im Westen den Hang hinab auf den Schönbuchhof sehen und dahinter lag der Wald Fronholz. Von der Auffahrt unten an der alten Dorfstraße aus gesehen bildeten die Gebäude des Haldenhofs, allesamt aus rotem Fachwerk, eine fast kreisrunde Ansammlung: Links stand die Scheune mit Stall und Knechtkammer, dahinter ein Stück nach rechts versetzt der Speicher, geradeaus weiter hinten das Backhäuschen und auf der rechten Seite das große Wohnhaus. Hinter dem Speicher hatte Andreas’ Mutter einen großen Beerengarten angelegt und neben dem kleinen Backhäuschen war der Gemüsegarten des Hofes. Außer den umliegenden Streuobstwiesen gehörten knapp fünfundzwanzig Hektar an Feldern und Wiesen zum Gut. In den Ställen standen zwei Pferde, vierundzwanzig Milchkühe, fünf Kälber und zwei Ochsen. Dazu kamen fünf Mutterschweine mit ihren Jungen, etwa dreißig Hühner und ein aufmüpfiger Gockel, der schon oft den Reisigbesen von Andreas’ Mutter zu spüren bekommen hatte. Der Haldenhof war ein altes Erblehen der Deutschordenskommende Mainau, die einst die Ortsherrschaft über Lippertsreute ausgeübt und auch Güter in Ernatsreute besessen hatte. Schon um 1720 hatte August Biehle, ein Urahn von Andreas, den Haldenhof bewirtschaftet. Dieser hatte den Zins in Form des Großzehnten von seinem Getreide an die Ordenskommende und den Kleinzehnten in Form von Rüben oder Kartoffeln an die Pfarrei von Lippertsreute abliefern müssen. Da die Vorfahren der Biehles ihre Abgaben stets getreu an die Kommende leisteten, wurde die Pacht jedes Jahr erneut verlängert. Im Jahr 1841 hatte Andreas’ Großvater den Haldenhof gegen eine Zahlung von zweitausendeinhundertdreißig Gulden und sechzig Kreuzer abgelöst. Seither befand sich der Hof ununterbrochen im Eigenbesitz der Familie und es galt als selbstverständlich, dass er auch weiterhin in der Hand der Biehles bleiben sollte. Doch nun, zum ersten Mal in seiner Geschichte, drohte der Haldenhof an eine fremde Familie überzugehen, da Andreas nur Töchter zustande brachte, und das bereitete ihm zunehmende Sorgen. Als Großbauer lebte er zusammen mit seiner Frau Johanna, den Töchtern Magdalena, Elfriede und Theresia, seiner Mutter Ludovica und dem Knecht Vinzenz auf dem großen Hof. Je nach anfallender Arbeit war er auf weitere Helfer wie den Tagelöhner Georg Back angewiesen. Dieser kam seit Jahrzehnten auf den Hof und hatte bereits Andreas’ Vater bei der Arbeit unterstützt. Besonders während der Erntezeit war Georg für Andreas ein wichtiger Arbeiter. Aber da Georg sich heute auf dem Haldenhof nicht hatte blicken lassen und Andreas seinen Schwager Ernst nicht um Hilfe bitten wollte, musste der alte Stumpfer Gottfried ihnen helfen. Ansonsten passte ihm der dürre Georg als Arbeiter doch am besten. Dieser war zwar ein paar Jahre älter und manchmal seltsam, aber anpacken konnte er. Während Andreas sich an den vergangenen Abenden mit Vinzenz über die Arbeit und den Hof unterhalten hatte, hatte der dürre Georg ohne viele Worte mit ihnen am Tisch gesessen. Nach dem Vesper hatte er zufrieden an seiner Pfeife gezogen, Most getrunken und ihnen zugehört. Das war Andreas am liebsten, denn auf dummes Geschwätz konnte er gut verzichten. In letzter Zeit war er recht angespannt. Johanna stand kurz vor der Niederkunft und vielleicht sollte es nun endlich sein ersehnter Hoferbe werden. Aber die Angst, dass der Herrgott ihnen eine weitere Tochter bescheren würde, war groß. Jeden Sonntag betete Andreas deswegen in der Messe, dass seine Johanna ihm endlich einen Sohn zur Welt bringen würde. Er brauchte dringend einen Erben. Sein Cousin Werner Neidhart hatte ihn am Stammtisch im »Adler« deshalb schon oft aufgezogen.