Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Der seltsame Vorhang

Als Elisabeth morgens mit der weißen Teekanne in die Stube eintrat, lag Kilian mit offenen Augen auf dem Sofa und drehte den Kopf nach ihr um. Das Fieber schien ein bisschen zurückgegangen zu sein, denn er atmete nicht mehr so kurz und stoßartig wie in der vergangenen Nacht. Während Elisabeth zu ihm sprach, goss sie eine Tasse Tee ein und reichte sie ihm. Ihr Gesicht war schmal und ihre braunen Augen strahlten eine große Herzenswärme aus. Auf ihrem Kinn war ein kleines Grübchen, und wenn sie lächelte, zeichneten sich feine Falten um ihre Mundwinkel ab.

»Geht es dir ein bisschen besser?«, fragte sie.

Kilian nahm einen kleinen Schluck und nickte. »Ja, aber mein Kopf schmerzt immer noch. Mein Körper fühlt sich heiß an und ich schwitze fest.«

»Du hattest gestern Abend hohes Fieber. Das ist der Grund dafür. Mittlerweile ist es wohl gesunken, aber es dauert noch, bis es ganz verschwunden sein wird. Deshalb musst du viel trinken.«

Er atmete schwer und strich sich die Haare von seiner verschwitzten Stirn.

»Das tue ich ja gern, aber alles scheint mein Körper nicht auszuschwitzen«, sagte er verlegen. »Ich müsste mal dringend auf den Abort.«

Elisabeth lächelte. »Ach so, daran habe ich gar nicht gedacht. Aber nach draußen gehen solltest du nicht in deinem Zustand. Dein Körper ist sehr geschwächt. Warte, ich bin gleich zurück.«

Daraufhin verschwand sie und Kilian konnte kurz danach ihre Schritte auf dem knarrenden Holzboden im oberen Stock hören. Schließlich kehrte sie mit einem Nachttopf zurück.

»Ich stell ihn dir hier neben das Sofa. Dann kannst du dich erleichtern.«

Anschließend ging Elisabeth wieder hinaus. Eigentlich hatte Kilian bisher in seinem Leben fast ausschließlich im Stehen gepinkelt, wenn man von seinen ersten Lebensjahren als Säugling absah. Das Pinkeln in einen Nachttopf war etwas für alte Greise, die es nicht mehr rechtzeitig aus dem Bett schafften. Doch der Drang ließ ihm keine Wahl. Er drehte sich kurzerhand auf dem Sofa zur Seite und zog seine Hose ein Stück nach unten. Dann nahm er den Deckel vom Nachttopf, hob ihn mit der linken Hand auf Höhe des Sofas und pinkelte hinein. Elisabeth ließ ihm genügend Zeit für sein Geschäft. Eine gute Viertelstunde später kam sie in die Stube zurück. Kilian hatte den Nachttopf mit dem Deckel zugedeckt, aber den süßlichen Geruch seines Urins konnte sie sicher riechen.

»Fertig?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete er leicht beschämt.

»Dann trink gleich noch mal eine Tasse Tee. Ich leer die Schüssel derweil aus und stell sie dir unter das Sofa, falls es wieder notwendig wird.«

Während Elisabeth mit dem vollen Nachttopf nach draußen ging, trank Kilian den restlichen Tee. Hinter ihm tickte die große Standuhr an der Wand, deren Geräusch er jetzt zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Ihr Uhrenkasten war kastanienrot und mit einem grün-gold verzierten Ziffernblatt bemalt. Eine Weile lauschte er dem beruhigenden Tick-Tack und sein Blick schweifte durch die Stube. In der Zimmerecke hinter der Tür standen ein gusseiserner Kanonenofen und daneben eine Holztruhe, die gleichzeitig als Sitzbank dienen konnte. Außerdem schmückten eine kleine Kommode, ein Tisch mit Stühlen und ein Schrank die Stube. Der Vorhang zum Hinterzimmer war geschlossen und bei dessen Anblick gingen ihm trotz der dumpfen Kopfschmerzen, die ihn immer noch quälten, viele Gedanken durch den Kopf. Was sich dahinter wohl verbergen mochte? War es eine gewöhnliche Vorratskammer? Nein, das konnte nicht sein. Diese würde man nicht durch die Stube, sondern durch die Küche betreten. Konnte man vom Hinterzimmer direkt in die Küche gelangen? Aber warum hatte Elisabeth den Tee dann nicht auf diesem Wege geholt? Auch das machte keinen Sinn. Er grübelte weiter. War es einfach eine gewöhnliche Rumpelkammer, deren Zugang von der Stube aus mit einem Vorhang zugedeckt war, damit man das wilde Durcheinander nicht sehen konnte? Aber warum sollte Elisabeth den Raum neben der Stube als Rumpelkammer nutzen? Dafür war in einem Haus der Dachboden da. Bei seinen Überlegungen beschäftigte ihn ein Gedanke besonders stark. Elisabeth hatte sich gestern Abend eine Zeit lang hinter dem Vorhang aufgehalten und war anschließend mit dem Kräuterverband zurückgekehrt. Demnach musste sich eine Küche oder etwas Ähnliches dahinter verbergen. Die Tatsache, dass der Blick in den Raum durch einen Vorhang verschlossen wurde, machte ihn neugierig. Zu gerne wäre er sofort aufgestanden und hätte hinter den Vorhang geschaut. Seine Neugier war sehr groß, dennoch konnte er nicht nachsehen, was sich dahinter verbarg. Elisabeth würde gleich zurück sein und er wollte nicht als Schnüffler vor ihr dastehen. Zumal sie ihm bis jetzt jede denkbare Art von Hilfe hatte zukommen lassen und diese Zuwendung wollte er nicht mit Misstrauen vergelten. Als Elisabeth wieder in die Stube kam, war Kilians Blick immer noch auf den Vorhang gerichtet. Sie konnte ihm die Neugier wahrscheinlich ansehen.

»Möchtest du etwas essen? Hast du Hunger?«, fragte sie.

»Nein, nicht sonderlich.«

»Soll ich dir eine Suppe machen? Vielleicht isst du ein paar Löffel davon?«

Kilian zögerte kurz, aber sie hatte recht, dachte er sich. Ein paar Löffel könnte er ja probieren. Schließlich hatte er lange nichts gegessen, und jetzt, wo er genauer darüber nachdachte, spürte er, wie sich sein Magen vor Hunger krümmte. »Ja, eine Suppe würde ich doch essen.«

»Dann mache ich dir eine gebrannte Grießsuppe. Meine Mutter hat uns die früher immer gekocht, wenn wir krank waren. Magst du die?«

»Die schmeckt sicher wunderbar«, antwortete er mit einem Lächeln. »Danke, Elisabeth.«

»Ist schon recht. Ich koche am besten eine große Portion, dann haben Adam und ich heute Abend auch etwas davon«, entschied sie und ging in die Küche.

Die Suppe war kurze Zeit später fertig und Elisabeth brachte einen Teller davon in die Stube. Zum Essen setzte Kilian sich an den Tisch. Während er den Teller auslöffelte, schüttelte Elisabeth die Zudecke aus und schlug ihm sein Krankenlager frisch auf. Als Kilian fertig war, legte er sich wieder hin und deckte sich zu. Das Essen war gut, aber es machte ihn schläfrig. Elisabeth nahm den leeren Suppenteller und wandte sich vor dem Hinausgehen nochmals an ihn.

»Ich gehe nachher ins Dorf zu Bekannten und komme erst am späten Nachmittag zurück. Doch Adam müsste bald da sein, falls etwas ist.«

»In Ordnung«, antwortete er und schloss seine müden Augen.

Das Dorf

Die Traubenernte auf dem Vrenenhof war in diesem Herbst so gut ausgefallen, dass Elisabeth die Weintrauben nicht nur für ihren eigenen Gebrauch verwertete, sondern einen Teil davon an andere verschenken wollte. Dazu füllte sie drei Körbe für ihre Bekannten. Danach holte sie Pankraz von der Weide, legte ihm das Brustgeschirr an und spannte ihn vor den Einspänner. Die Körbe lud sie hinten auf den Wagen und machte sich zuerst auf den Weg zu ihrer Freundin Hedwig. Hedwig Lattner und ihr Mann Theodor wohnten im Forsthaus bei Ernatsreute, das außerhalb des Dorfes in der Nähe vom Fronholz lag. Der Weg dorthin führte in einem Bogen durch das Dorf. Vom Vrenenhof fuhr Elisabeth aus dem Wald heraus auf die Landstraße unterhalb des Haldenhofs und bog nach links in den Ort ein. Am Dorfeingang auf der rechten Seite lag als erster Hof das sogenannte »Widemgut«, das früher der Deutschordenskommende Mainau unterstanden hatte. Danach folgte der große Schulthaißhof, dessen Bauer mit einem Fuhrwerk die Straße kreuzte und sie freundlich grüßte. Der ehemalige Lehenshof der Überlinger Patrizierfamilie Schulthaiß beherbergte zusätzlich zur Landwirtschaft das Gasthaus »Adler«. Nach einem Seitensträßchen reihte sich an der Dorfstraße als Nächstes der kleine Hof der Schädlers an. Das große Pfaffenhofener Gut war auf dieser Straßenseite der letzte Hof am Ortsausgang. Von dort verlief die Dorfstraße weiter nach Owingen. Zwischen Schädlers und dem Pfaffenhofener Gut führte ein Feldweg den Hang hinauf zum Hebsackhof. Kinder spielten Fangen auf den Höfen und winkten Elisabeth fröhlich zu. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite am Ortsausgang stand das Tagelöhnerhaus des alten Gottfried Stumpfer, das wiederum durch eine Seitenstraße von der Kapelle und dem daran anliegenden Haus der Villingers getrennt wurde. Elisabeth bog nach der Kapelle in die Seitenstraße ein und fuhr weiter in Richtung Forsthaus. Die Kapelle auf einer kleinen Anhöhe in der Dorfmitte gehörte zur Pfarrei Lippertsreute und war dem heiligen Antonius geweiht. Über ihrem Eingangsportal hing unter einem schmalen Dachreiter die Kapellenglocke, die morgens, mittags und abends von den Villingers geläutet wurde. Die Familie übernahm seit drei Generationen den Mesmerdienst der Kapelle. Die Ausschmückung im Inneren war recht schlicht, wie Elisabeth früher bei einem Besuch mit Sofie Villinger festgestellt hatte. Die Wände waren nur weiß gekalkt und die Fenster waren von spärlichen Ornamenten umrandet. Überhaupt war die Kapelle in einem schlechten Zustand. Allein der Altar war eine kleine Kostbarkeit, denn es war ein aufklappbarer Flügelaltar. Geschlossen zeigte er den heiligen Leonhard, den Viehpatron mit seiner Kette, und die heilige Margareta mit dem Drachen. Als Sofie die Seitenflügel aufgeklappt hatte, konnte Elisabeth die geschnitzten Holzfiguren der Madonna mit Kind, des heiligen Johannes und der heiligen Barbara bestaunen. Die Innenflügel schmückten zudem Darstellungen des heiligen Laurentius und des heiligen Antonius als Patron der Kapelle. Pfarrer Wasmer kam nur ab und zu nach Ernatsreute, um in der Kapelle die Messe zu lesen, hatte Sofie ihr erzählt. Jeden Montagabend beteten die Frauen vom Dorf unter Anleitung des Mesmers einen Rosenkranz. Ansonsten mussten die Dorfbewohner nach Lippertsreute in die Kirche gehen, dort wurden die Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen der Pfarrei abgehalten.

 

Nach der Kapelle passierte Elisabeth als letztes großes Hofgut von Ernatsreute den ehemaligen Lehenshof des Heilig-Geist-Spitals von Überlingen und fuhr weiter bis zum Forsthaus. Als die Waldungen Fronholz und Eichholz zwischen Ernatsreute und Bambergen vor hundert Jahren vom damaligen Grundbesitzer, der Johanniterkommende von Überlingen, an das Großherzogtum Baden übergegangen waren, ließ das Adelshaus am Rande von Ernatsreute wenige Jahre später ein Forsthaus errichten. Theodor Lattner war als Bezirksförster seit über dreißig Jahren im Dienste des Großherzogs Friedrich von Baden in den Wäldern tätig und lebte zusammen mit seiner Frau Hedwig in dem Bau. Das alte Forsthaus war im Untergeschoss aus Sandstein und im Obergeschoss aus Fachwerk mit schwarz bemalten Balken und einem Walmdach gebaut. Zum Forsthaus gehörte ein Speichergebäude mit Stall, das neben dem Haus stand. Dahinter lag ein großer Weiher, der ursprünglich eine kleine Kiesgrube gewesen und über die Jahrzehnte mit dem Wasser des Geißbachs vollgelaufen war. Im Weiher lebten Enten und Forellen, die Theodor nebenher züchtete, und vor dem Speicher lag Hedwigs großer Gemüsegarten. Elisabeth brachte Pankraz im Hof des Forsthauses zum Stehen. Hedwig arbeitete im Garten und hatte ihre Freundin mit dem Einspänner wohl schon von Weitem auf dem Weg herfahren sehen. Freudig lief sie Elisabeth entgegen. Hedwig war nur ein paar Jahre jünger als sie. Sie trug eine graue Kittelschürze und auf dem Kopf ein rotes Tuch.

»Ja, Liesl, sieht man dich auch mal wieder«, begrüßte Hedwig sie. »Schön, dass du zu uns kommst.«

»Grüß Gott, Hedwig. Ich wollte schon lange einmal wieder bei euch vorbeischauen. Ich habe euch einen Korb von meiner Ernte mitgebracht.«

Elisabeth stieg vom Wagen und gab Hedwig einen der drei Körbe mit Trauben, die sie auf der Fahrt unter einem großen Leinentuch schützte.

»Ich habe so viele Weintrauben dieses Jahr geerntet, ich könnte ganz Ernatsreute damit versorgen. Da habe ich gedacht, ich bringe dir und Theo einen Korb voll mit, dann kann ich bei dieser Gelegenheit fragen, wie es euch geht.«

»Das ist aber nett.« Hedwig lächelte freudig. »Der Theo ist seit dem Mittagessen im Wald oberhalb von Bambergen unterwegs. Im Frühjahr hat er dort einen neuen Bestand Fichten anpflanzen lassen. Etwa drei Hektar sind es, doch der Wildschaden ist dieses Jahr so groß, dass über die Hälfte neu gepflanzt werden muss. Das hält ihn seit Wochen auf Trab.«

»Oh je, der Arme!«, seufzte Elisabeth.

»Jaja, so ist es mit den Mannsbildern eben«, sagte Hedwig flapsig. »Immer haben sie etwas zu tun und meistens sind sie fort.«

Die beiden lachten und Hedwig nahm Elisabeth am Arm.

»Aber komm mit. Wir setzen uns am Weiher auf das Bänkchen und gönnen uns eine kurze Pause.«

Elisabeth nickte und die beiden liefen zum Weiher hinüber. Unter einem großen Birnbaum stand dort eine Holzbank im Schatten und die beiden setzten sich.

»Hier kann uns niemand sehen, wenn wir ein Päuschen machen, gell«, bemerkte Hedwig und schmunzelte.

»So schön habt ihr es hier.« Elisabeth schaute auf den großen Weiher, der auf der anderen Seite von hohem Schilf umrandet war. Am vorderen Ufer, nur ein paar Schritte von der Bank entfernt, war ein Holzsteg, vor dem sich ein paar Enten tummelten. Auf der Wiese um den Weiher herum standen vereinzelt Obstbäume, Libellen flogen über das Wasser und ein Frosch quakte irgendwo im dichten Uferbewuchs.

»Du hast sicher Durst von der Fahrt. Ich hol uns schnell einen Krug Apfelsaft.«

Bevor Elisabeth antworten konnte, war Hedwig aufgestanden und lief ins Haus. Während sie etwas zu trinken holte, blickte Elisabeth auf den Weiher hinaus. An manchen Stellen sah sie Fische, die an der Oberfläche nach Mücken schnappten. Elisabeth waren alle Leute in Ernatsreute bekannt, doch nur wenige kannte sie gut. Zu denen zählte an erster Stelle Hedwig. Sie war Elisabeth eine gute Freundin und mit ihr konnte sie über fast alles reden – auch über ihre Heilmethoden. Dann war da noch Johanna Biehle, mit deren Mutter sie bereits befreundet gewesen war. Nach einem Schwatz mit Hedwig wollte sie zu den Villingers fahren und Sofie mitteilen, dass sie das Mittel gegen die Kopfschmerzen bald fertig habe. Den dritten Korb hatte Elisabeth für die Biehles hergerichtet. Dort wollte sie Johanna einen Besuch abstatten und fragen, wie es ihr mit der Schwangerschaft ging. Bis sie all diese Bekannten besucht hatte, würde es spät am Nachmittag sein, dachte sie sich. Danach würde sie zurück zum Vrenenhof fahren und wieder nach Kilian sehen. Vielleicht konnte sie ihm dann endlich die vielen Fragen stellen, die sie seit seiner Ankunft beschäftigten. Elisabeth hing ihren Gedanken nach, bis Hedwig mit der Erfrischung zurückkam.

»So, jetzt trinken wir erst einmal was.«

Hedwig drückte Elisabeth ein Glas in die Hand und schenkte ein. »Wie geht es deinem Adam?«

»Dem geht es gut. Du kennst ihn ja. Er ist viel im Wald unterwegs, dort fühlt er sich einfach wohl.«

Hedwig nickte lächelnd. »Ich sag es ja, unsere Männer eben. Ständig sind sie unterwegs.«

Sie setzte sich neben Elisabeth und die beiden tranken einen Schluck.

»Aber ich bin auch nicht ganz unschuldig, dass er ständig im Wald ist«, erklärte Elisabeth. »Grad heute Morgen habe ich ihn losgeschickt, weil er mir eine Kreuzspinne suchen muss.«

Hedwig setzte im Trinken ab und blickte Elisabeth verwundert an. »Eine Kreuzspinne? Braust du wieder ein Mittel zusammen?«

Elisabeth lächelte und begann zu erzählen. »Na ja, ein Mittel wird es nicht direkt. Die Spinne muss bei hohem Fieber am Hals als eine Art Amulett getragen werden – und zwar lebend. Ich habe einen jungen Mann bei uns in der Stube, der sie dringend braucht.«

Hedwig wurde neugierig. »Ein junger Mann? Wie ist der denn zu euch gekommen und warum?«

»Es war vorgestern am späten Abend, als er schwer verletzt zu uns kam«, erzählte Elisabeth. »Ich saß in meinem Kräuterzimmer, als ich draußen ein lautes Kratzen am Fensterbrett hörte. Irgendwie war ich mir sicher, dass es kein Tier war, und wie ich draußen nachgeschaut habe, lag er bewusstlos da. Ein junger Kerl, vermutlich ein Handwerksbursche, dem Aussehen nach, der eine schwere Verletzung am Kopf hat. Kilian heißt er, mehr weiß ich bis jetzt nicht. Adam und ich haben ihn gleich darauf in die Stube auf das Sofa getragen und ich habe erst einmal seine Wunde versorgt. Später kam das Fieber. Die hohen Temperaturen haben wir durch Wadenwickel und ein Kräuterpflaster gesenkt, doch um das Fieber ganz zu kurieren, braucht er nun das Amulett mit der Kreuzspinne.«

Hedwig war von den Neuigkeiten völlig eingenommen und löcherte ihre Freundin weiter.

»Aber warum war der junge Mann verletzt? Und warum ist er denn zu euch gekommen?«

»Das weiß ich auch nicht«, antwortete Elisabeth.

»Hast du ihn nicht gefragt?«

»Kilian war am ersten Abend, als wir ihn gefunden hatten, ohnmächtig«, erklärte Elisabeth. »Danach war er eingeschlafen und seither plagt ihn das Fieber, sodass er völlig verwirrt komische Sachen erzählt. Er sprach etwas von einem Mann, der sich hinter dem Vorhang in meiner Stube versteckt, und von einem Schäferwagen. Wie soll man ihn da nur fragen? Da muss sich erst einmal das Fieber bei ihm legen.«

Hedwig nickte verständnisvoll. »Aha. Dann bin ich aber gespannt, was du mir das nächste Mal erzählst. Es ist schon eine seltsame Geschichte.«

»Ja, ich komme gerne wieder vorbei, sobald ich mehr darüber weiß«, versprach Elisabeth.

»Und jetzt gehst du gleich zu ihm zurück?«, wollte Hedwig wissen.

»Nein, ich gehe zuerst zur Villinger Sofie.«

»Zu den Villingers?«, fragte Hedwig. »Wie kommst du denn zu denen?«

»Die Sofie hat schon längere Zeit abends starke Kopfschmerzen und deswegen war sie vor ein paar Tagen bei mir. Ich habe ein Mittel für sie, aber das ist noch nicht ganz fertig. Deswegen wollte ich kurz bei ihr vorbeigehen, dann kann ich schauen, wie es ihr geht, und sagen, dass das Mittel fast fertig ist.«

»Und warum dauert es so lange, bis das Mittel für die Sofie fertig ist?«

»Mir fehlt eine Zutat. Eine Fledermaus«, antwortete Elisabeth.

Hedwig sah ihre Freundin erneut erschrocken an. »Eine Fledermaus? Wieso um Gottes willen brauchst du eine Fledermaus dazu?«

»Das steht im Rezept des Kräuterbuchs«, erwiderte Elisabeth.

Hedwigs Gesichtsausdruck nahm langsam eine Form von Ekel an. »Weiß denn die arme Sofie, was sie da von dir bekommt und dass da eine Fledermaus drin verwurstet wird?«

»Natürlich nicht«, entgegnete Elisabeth. »Und du darfst es ihr auf keinen Fall erzählen. Versprichst du mir das?«

Elisabeth schaute ihrer Freundin tief in die Augen.

»Ja, ich werde ihr selbstverständlich nichts davon erzählen«, beteuerte Hedwig. »Bei unserem allmächtigen Herrgott, du hast mein Wort. Auch wenn ich es sehr komisch finde, was du da so alles zusammenbraust. Mein lieber Himmel!«

»Nun ja, solange es gegen das Kopfweh hilft, wird es der armen Sofie recht sein«, sagte Elisabeth. »Das arme Weib ist ja so schwer von den Schmerzen geplagt!«

Hedwig nahm einen Schluck aus dem Glas und zuckte mit den Schultern, ihr Blick schweifte gleichgültig über den Teich. »Mir soll es recht sein«, meinte sie.

Nach einem kurzen Moment der Stille sprach Elisabeth weiter. »Und danach schaue ich bei den Biehles auf dem Haldenhof vorbei. Mal schauen, wie es den Kindern geht.«

»Zu den Biehles! Hat die Johanna das Kind etwa schon zur Welt gebracht?«

»Nein, ich meine die Mädchen. Das wüsste ich, wenn das Kind da wäre. Es ist ja nicht Johannas erste Schwangerschaft, die ich begleite. Aber diesmal ist es bei Gott nicht einfach.«

»Du meinst wegen Andreas«, wusste Hedwig. »Da hast du wohl recht. Der arme Kerl wartet seit Jahren auf einen Hoferben. Schlimm genug, dass sich die anderen Mannsbilder am Stammtisch über ihn lustig machen.«

Elisabeth nickte. »Vor allem für die arme Johanna ist es sicher nicht einfach. Die Erwartung von Andreas schlägt ihr wohl öfters aufs Gemüt. Aber wenigstens ist es ihr diesmal nicht so übel wie bei den Mädchen. Das könnte vielleicht ein Zeichen dafür sein, dass sie einen Buben zur Welt bringen wird. Aber sicher weiß man das ja nie.«

Hedwig begann zu scherzen. »Solange keine kleine Ludovica zur Welt kommt, die es der Johanna schon im Bauch schwer macht, hast du jedenfalls deinen Frieden.«

Beide lachten genüsslich miteinander. Sie kannten die alte Ludovica Biehle nur zu gut. An Elisabeth und ihren Heilmethoden hatte sie nie ein gutes Haar gelassen.

»Ich habe der Ludovica noch nie etwas getan«, bemerkte Hedwig. »Aber mir scheint es so, als sei die alte Bäuerin vom Haldenhof zu stolz, um mit der Frau vom Forsthaus zu sprechen.«

»Vermutlich ist genau das Gegenteil der Fall«, meinte Elisabeth. »Ludovica ist sicher neidisch auf dich, denn sie selbst hätte gerne im Forsthaus gewohnt. Das hat mir die Johanna mal erzählt. Denn du bist in nächster Nachbarschaft zu den anderen Höfen und musst nur ein paar Schritte hinüberlaufen, um das neueste Geschwätz zu erfahren. Ludovica ist durch Heirat auf den Haldenhof gekommen. Gewiss ist es ein großer Hof, um den sie von anderen Bäuerinnen früher beneidet wurde, doch was nützt das der redseligen Schachtel. Vermutlich hat sie sich schon oft in ihrem Leben überlegt, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie anstatt dir den Theo geheiratet hätte.«

Hedwig lächelte. »Tja, dann würde sie heute im Forsthaus wohnen. Aber ich glaube nicht, dass Theo seine Freude daran hätte.«

»Ja, du sagst es«, stimmte Elisabeth zu. »Aber all der Neid bringt ihr auch nichts. Vielleicht hat sie sich inzwischen damit abgefunden.«

»Das glaub ich nicht«, erwiderte Hedwig. »Jedes Mal, wenn sie mich sieht, zeigt sie mir die kalte Schulter.«

»Na ja, wenigstens weißt du jetzt, dass sie es nicht böse mit dir meint, sondern mehr mit ihrem Schicksal hadert.« Elisabeth blickte sie ernst an. »Und sag bitte niemandem, was ich dir erzählt habe, schon allein der Johanna zuliebe.«

Hedwig nickte.

Noch eine ganze Weile saßen die beiden auf der Bank. Sie sprachen miteinander und lachten hin und wieder wie zwei junge Mädchen. Nach einer Zeit überfiel Elisabeth ein Gefühl der peinlichen Berührung. Es war, als ob ihr jemand in diesem Moment ziemlich nahe kam. Eine Nähe, die ihr äußerst unangenehm war. Sie erzählte Hedwig aber nichts von dem seltsamen Gefühl, das nach wenigen Minuten so rasch verflogen war, wie es sie überkommen hatte. Die Frage, was genau dieses Gefühl ausgelöst hatte, beschäftigte Elisabeth den Rest des Tages.