Lesen in Antike und frühem Christentum

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1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung

Das Hauptproblem der skizzierten Debatte um das „lauteLautstärkelaut“ und „leiseLautstärkeleise“ Lesen ist das dahinterliegende Erkenntnisinteresse, den Normalmodus der antiken LesepraxisLese-praxis zu rekonstruieren. Methodisch ist die Debatte maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass diejenigen, die für den „Normalmodus“ der „lauten“, vokalisierendenStimmeinsatzvokalisierend Lektüre plädieren, die Quellen, in denen „leise“ Lektüre bezeugt ist, als quantitativ nicht relevante Ausnahme1 bzw. als bewusst markierte Sonderfälle2 interpretieren und die „Vielzahl“ der Belege für das „laute“, vokalisierende lesen demgegenüber quantifizierend gegenüberstellen, um ihre Position zu bekräftigen. Die Minderheitenposition versucht hingegen, die Belege für das vokalisierende Lesen kontextuell zu erklären und ihrerseits quantifizierend zu zeigen, dass insbesondere nicht-literarische Texte im Normalfall „leise“, nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend gelesen wurden. Von Seiten der Mehrheitsposition wird diesem Verfahren dann wiederum vorgeworfen, Einzelfälle in unzulässiger Weise zu verallgemeinern.3 Diesen Vorwurf kann man der Mehrheitsposition hingegen auch machen.4

Aus methodologischer Sicht ist der zugrundeliegende Ansatz zu hinterfragen, auf der Basis quantifizierender Quellenauswertungen (Welcher Lesemodus ist häufiger belegt?) eine Antwort auf die Frage zu erhalten.5 Auch wenn mehr LeseszenenLese-szene der vokalisierendenStimmeinsatzvokalisierend Lektüre überliefert sind – was m. E. überhaupt nicht sicher ist –, so kann daraus noch lange kein „Normalfall“ rekonstruiert werden, da z.B. ein Übergewicht von Quellen, die das soziale Phänomen „VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt“ thematisieren, aus Gründen des Darstellungsinteresses erwartbar ist. Hinzu kommt, dass zahlreiche der von der Mehrheitsposition angeführten, vermeintlich sicheren Belege für den Normalmodus des „lautenLautstärkelaut“ Lesens im Hinblick auf ihren Quellenwert für die gestellte Forschungsfrage kritisch diskutiert werden können, wie nicht zuletzt die Diskussion um den locus classicus bei Augustinus und die Diskussion der von J. Balogh angeführten Quellen durch B. M. Knox (s. o.) schon gezeigt haben.

Aber auch aus Quint.Quintilian inst. or. 10,3,28 kann nicht geschlossen werden, dass die „nächtliche einsame Lektüre lautLautstärkelaut gedacht“6 wird. Zunächst erscheint es mir unsicher, ob sich Quintilians Ausführungen in 10,3,28 überhaupt noch auf das das Thema Nachtarbeit (lucubrationeslucubratio; vgl. Quint. inst. or. 10,3,25–27) oder nicht viel eher auf das Thema Ablenkung beim Arbeiten allgemein beziehen. Gegen ersteres spricht die Formulierung deplorandus dies, für letzteres sprechen Quintilians Ausführungen in 10,3,29f, die sich nahtlos anschließen und das Arbeiten bei Tag thematisieren. Zudem ist in 10,3,28 von Lektüre überhaupt nicht die Rede: Die Formulierung „was uns vor die AugenAugen und OhrenOhr kommt“ ist nicht auf eine vermeintliche Lektüretätigkeit bezogen, bei der das „laut“ Gelesene mit den Augen und Ohren rezipiert würde, wie Busch die Stelle missversteht. Vielmehr meint es im Satzzusammenhang das, was einen potentiell ablenken könnte, bei konzentrierter Arbeit jedoch gerade nicht ins Innere gelangt und bei der Arbeit stört: „wenn man sich mit voller geistiger Kraft nur auf die Aufgabe konzentriert, wird nichts von dem, was uns vor die Augen oder OhrenOhr kommt (quae oculis vel auribus incursant), in unser Inneres gelangen“ (10,3,28; Üb. RAHN). Auch ergibt es sich m. E. keinesfalls „zwingend aus dem Zusammenhang“,7 dass CiceroCicero, Marcus Tullius in Cic. fam. 9,20,3 bei seinen Lese- und Schreibstudien nach der Morgensalutatio generell „laut“ lese und schreibe.8 So ist es hier weder syntaktisch noch inhaltlich eindeutig, ob diejenigen, die zum Zuhören kommen (ueniunt etiam qui me audiuntaudio quasi doctum hominem quia paulo sum quam ipsi doctior), ihm bei seinen Morgenstudien „zuhören“ oder ob sich dieser Satz vielleicht auch auf ein leicht modifiziertes Programm nach der Morgensalutatio bezieht, bei dem Cicero sich als Intellektueller inszeniert, falls Leute anwesend sind. Aus dem Hinweis Ovids (Pont. 3,5,7–14), er habe eine Rede seines Freundes Cotta „viele Stunden hindurch mit eilender Zunge gelesen (lingua mihi sunt properante per hora lectalego satis multas)“, geht gerade nicht hervor, dass er eindeutig „laut“ gelesen habe, wie Busch schlussfolgert.9 Vielmehr kann diese Stelle ebenso gut, wegen des Hinweises auf die Schnelligkeit sogar wahrscheinlicher, auf subvokalisierendesStimmeinsatzsubvokalisierend Lesen hindeuten. Theoretisch kann auch die Formulierung „ich werde im Mund des Volkes gelesen“ (ore legar populi, Ov.Ovidius, P. Naso met. 15,878) subvokalisierende Lektüre meinen, wobei allerdings das „laute“ Lesen aus ästhetischen Gründen ebenso denkar wäre.10 Auch wenn HorazHoraz von Gedichten spricht, „die die Augen und Ohren (oculos aurisque) des KaisersKaiser/Princeps fesseln könnten“ (Hor. ep. 1,13,17f), können damit ebenso zwei Rezeptionsmodi – das selbständige Lesen und das Hören der Lektüre durch einen VorleserVorleser – gemeint sein; auch ein Verweis auf das innere Ohr ist denkbar, aber weniger wahrscheinlich (s. dazu u. mehr). Gleiches gilt für Ov. Pont. 4,5,1f. Interessant sind Buschs Verweise auf die fingierten Gespräche zwischen dem Toten und dem antizipierten LeserLeser der InschriftInschriften sowie das Motiv des Leihens der StimmeStimme, das sich zuweilen auf Grabinschriften findet.11 Dass diese Grabsprüche nur ‚funktionierten‘, „wenn laut gelesen wird“12 bzw. dass sie „geradezu mit dem Brauch des lauten Lesens“13 spielten, ist jedoch aus dem Befund nicht zwingend zu schließen. Vielmehr scheint mir dieses Gestaltungscharakteristikum von antiken Grabinschriften ein Topos zu sein, der mehr über den Verstorbenen als über die antike Kultur des Lesens sagt. Die Vorstellung, dass die Menschen angesichts der Vielzahl der Inschriften, mit denen sie alltäglich konfrontiert waren, diese laut gelesen haben, mutet schon ein wenig absurd an und steht in einer Spannung zur weiten Verbreitung der Rezeption von Inschriften mit dem Lesekonzept der visuellenvisuell Wahrnehmung (s. u. 3.8). Moderne Werbeplakate sind im Übrigen auch häufig als Dialog mit der antizipierten Zielgruppe gestaltet; und aus dem Topos des Stimme-Leihens spricht die Hoffnung des Verstorbenen auf eine aktive ErinnerungErinnerung bzw. auf eine posthume Bedeutung im Diesseits.

Zudem sind einige weitere Vorannahmen zu nennen, die der Mehrheitsposition zugrunde liegenHaltungliegen und zum Teil thetisch gegen die Minderheitenposition in Stellung gebracht werden, aber aus meiner Sicht eben keine sichere methodische Grundlage dafür liefern, um die Frage nach einem „Normalmodus“ des Lesens in der Antike zu beantworten. Dies ist im Folgenden exemplarisch für viele am Beitrag von Busch in gebotener Kürze zu verdeutlichen, um auf dieser Grundlage dann den neuen Ansatz und die Fragestellung der vorliegenden Studie herauszuarbeiten.

1.3.1 Geschriebenes als Abbild des Gesprochenen?

InSchriftGeschriebenes der Antike sei das Geschriebene generell als Abbild des Gesprochenen verstanden worden. SchreibenSchreiben sei der Prozess, bei dem das Gesprochene festgehalten, also aufgezeichnet würde, beim Lesen würde das gespeicherte Gesprochene wieder hörbarLautstärkehörbar gemacht.1 So richtig es ist, dass man aus der Antike zahlreiche Quellen findet, in der GeschriebenesSchriftGeschriebenes in verschiedensten Formen mit einer engen Relation zur StimmeStimme, zum Gesprochenen gestellt wird,2 eine generalisierende Schlussfolgerung zum „lautenLautstärkelaut“ oder „leisenLautstärkeleise“ Lektüremodus lässt sich daraus aber gerade nicht sicher ziehen.

Die Quellen, die Busch heranzieht, um zu zeigen, dass legere generell das Wieder-Hörbarmachen des Gesprochenen, also die Re-realisierung von Klang meint, bzw. die Verknüpfung von Lesen und der richtigen Aussprache, stammen aus rhetorischen Lehrbüchern (Quint.Quintilian inst. or. 1,7,24–35 u. ö.; Cic.Cicero, Marcus Tullius orat. 44,150) und beziehen sich auf das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt, das freilich mit der vokalen Re-Oralisierung des Textes verknüpft ist. Eine allgemeine Lesedefinition wird damit jedoch nicht gegeben.3

Denn prinzipiell erscheint auch bei einer individuellen, „leisenLautstärkeleise“ Lektüre ein solches „Wieder-Hörbarmachen“ der durch die Schrift repräsentierte menschliche StimmeStimme (Quint.Quintilian inst. or. 1,7,30f als locus classicus) denkbar – dann aber im Kopf des LesersLeser. Dass diese Möglichkeit überhaupt nicht bedacht wird, führt dazu, dass man auch nicht nach den entsprechenden Quellenbelegen sucht. Eine feste Interdependenz zwischen dem, was Schrift aus der Sicht antiker SprachphilosophiePhilosophie repräsentierte, und einem Normalmodus des Lesens sollte man in jedem Fall nicht a priori postulieren. Zudem müsste man weiter fragen, ob Schrift (insbesondere in Texten) in der Vorstellung der antiken Menschen ausschließlich Gesprochenes repräsentierte oder ob das Repräsentationsverständnis nicht doch mehrdimensionaler war. Hinzuweisen ist diesbezüglich auf die differenzierte und durchaus kontrovers diskutierte Schriftauffassung in der Antike. Kristallisationspunkt der Debatte ist die Frage, ob das Schriftverständnis von Aristoteles (vgl. insb. Aristot.Aristoteles int. 1 [16a3–18]) phonographisch zu verstehen oder semiotisch konzeptualisiert ist bzw. ob er die Schrift der Stimme hierarchisch unterordnet oder gleichwertig zugeordnet.4

 

Zudem ist Folgendes zu bedenken: Der Seh- und HörsinnSehen war für die griechische Kultur gleichermaßen wichtig, wobei jedoch dem Sehen in der philosophischenPhilosophie Diskussion grosso modo ein leichter (erkenntnistheoretischer) Vorzug zugebilligt wird.5 Daher sollte gerade die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Lesen und Sehen unbedingt bei der Erforschung des Lesens in der Antike berücksichtigt werden. Daraus ergibt sich als erste Teilfrage für die vorliegende Studie, welche Rolle Verben der visuellenvisuell Wahrnehmung für die Beschreibung von Lesen in den Quellen hatte.

1.3.2 Die Frage nach dem Zusammenhang von Schriftsystem und Lesepraxis

Eng verbunden mit der These, dass GeschriebenesSchriftGeschriebenes in der Antike Gesprochenes repräsentiere, wird sodann postuliert, dass die ohne WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) und Satzzeichen geschriebenen antiken Texte (scriptio continuaSchriftscriptio continua) wegen der erschwerten visuellenvisuell Dekodierung für die „lauteLautstärkelaut“ Lektüre vorgesehen waren; also auch das SchriftsystemSchrift-system den „Normalmodus“ des lauten Lesens belegte.1 Hier besteht die methodische Gefahr, die Schwierigkeiten bzw. visuellen Dekodierungsherausforderungen, die ein moderner LeserLeser mit dem Lesen von lateinischen und griechischen Texten (also nicht seiner Muttersprache) in scriptio continua hat, in die antiken Leser hineinzuprojizieren,2 wie es in der Forschungsliteratur zum Teil sogar explizit getan wird.3 So sind die modernen Leser kulturell mit Worttrennungen aufgewachsen und haben die LeseweiseLese-weise mit Worttrennungen habitualisiert; für einen modernen Leser ist es nicht möglich, den LesesozialisationsprozessLese-sozialisation (s. auch Schriftspracherwerb) eines antiken Lesers, der von Beginn an mit in scriptio continua geschriebenen Texten aufgewachsen ist, nachzuempfinden, geschweige denn aufzuholen. Zudem basiert die These – insbesondere in der Ausformulierung P. Saengers – auf zahlreichen unzulässigen Generalisierungen und übergeht sowohl wichtige handschriftliche Evidenz als auch den Charakter vieler Publikationen aus der Antike – insbesondere großer wissenschaftlicher Nachschlagewerke oder anderer sehr umfangreicher Werke, die einen anderen Rezeptionsmodus voraussetzten.4 Diese forschungsgeschichtliche Ausgangslage macht es notwendig, im Rahmen dieser Studie den Zusammenhang zwischen Schriftsystem und LesepraktikenLese-praxis erneut zu untersuchen (s. u. 4).

1.3.3 Die Frage nach der Literalität antiker Gesellschaften

Der Normalmodus der lautenLautstärkelaut Lektüre wird damit in Verbindung gebracht, dass in der Antike von einem eher geringen Grad an LiteralitätLiteralität/Illiteralität auszugehen sei. Einerseits seien viele LeserLeser auf einer nur relativ vokalisierendenStimmeinsatzvokalisierend Lektüre anzusiedeln, für die das Lesen von scriptio continuaSchriftscriptio continua erst recht erschwert gewesen sein müsse;1 vor allem aber hätten viele Menschen in der Antike überhaupt nicht lesen können und waren darauf angewiesen, dass jemand ihnen vorliest.2 Daraus leitet sich dann auch die oben besprochene These ab, dass Texte im frühen ChristentumChristentum in der „gottesdienstlichenGottesdienst“ Versammlung vorgelesen werden mussten. Die Frage nach dem Grad der Literalität in antiken Gesellschaften für die Frage nach einem Normalmodus des Lesens ins Feld zu führen, ist m. E. in methodischer Hinsicht mit Schwierigkeiten verbunden, die insbesondere in der Diskussion um zahlenmäßige Quantifizierungen der LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) in der antiken Welt deutlich wird, die zuletzt in eine Aporie führt.3

Die mit Sicherheit einflussreichste Studie ist in dieser Hinsicht die 1989 erschienene Monographie „Ancient Literacy“ von W. V. Harris, dessen Ergebnis v. a. in weiten Teilen der anglophonen Forschung zu OralitätMündlichkeit und der Frage nach dem Lesen usw. als sicheres Wissen (häufig deutlich weniger differenziert als Harris das Ergebnis selbst darstellt) rezipiert wird.4

Die Studie von Harris spielt auch eine wichtige Rolle im Rahmen der immer noch breit geführten Diskussion um die Frage nach der Lese- und Schreibfähigkeit des historischen JesusJesus; und zwar bildet die von Harris geprägte Sicht das entscheidende Argument für die Vertreterinnen und Vertreter, die die Lese- und Schreibfähigkeit des historischen Jesus anzweifeln.5 Als weitere Argumente wird auf den redaktionellenRedaktion/redaktionell Charakter des lesenden Jesus in Lk 4,16Lk 4,16 und des schreibenden Jesus in Joh 8,6Joh 8,6.8Joh 6,8 verwiesen.6 Diese beiden Stellen haben tatsächlich keinen Quellenwert für die Frage nach dem historischen Jesus, zeigen aber, dass das Bild eines lesenden und schreibenden Juden aus Galiläa zumindest für die intendierten RezipientenRezipient des Lukasevangeliums bzw. der pericope adulterae eine gewissen Plausibilität gehabt haben muss.7

Während einige ältere Studien noch zuversichtlicher bezüglich der LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) der Menschen in der griechisch-römischen Welt waren,8 zeichnet Harris ein pessimistisches Bild. Er kommt auf der Grundlage einer materialreichen Untersuchung, die aber als ausgesprochen restriktiv zu charakterisieren ist,9 zu der abschließenden Schätzung, dass in klassischer Zeit (d. h. für den Untersuchungszeitraum irrelevant) in Athen 15 % der männlichen Bevölkerung und 5 % der Bevölkerung insgesamt lesen konnten. Für Städte wie Teos kommt er jedoch in hellenistischer Zeit zu einer Schätzung von 30–40% Lesefähigen unter den freien Männern, deren Fundament im Bildungssystem allerdings s. E. im 1. Jh. v. Chr. durch die Ägäische Krise weggebrochen und auch in römischer Zeit nicht wieder aufgebaut worden wäre.10 Hier wird deutlich, dass seine Kartierung der antiken LiteralitätLiteralität/Illiteralität zuweilen von einen Geschichtsverständnis geleitet ist, das sich an einem Verfallsmodell orientiert. Für das Römische Reich selbst nennt Harris ebenfalls einige Schätzzahlen11 und fasst zusammen, dass in Städten eine höhere Lesefähigkeit vorauszusetzen und von einer regionalen Variation auszugehen sei. Für die griechische Welt des Römischen Reiches müsse man davon ausgehen, dass außer „a man of property […] or a man with any claim to distinction in city life“12, die sicher Lese- und Schreibfähigkeiten besessen haben, die Masse der Bevölkerung illiterat gewesen sei oder lediglich eine Grundschulausbildung gehabt hätten. „There are hints in the evidence that literacy was limited, at best, among artisans. Small farmersBauern and the poorArmut will generally have been illiterate.“13

Es ist hervorzuheben, alle quantitativen Schätzungen bleiben hochgradig hypothetisch; aus der Quellenlage (insbesondere bezüglich der „Bildungsinstitutionen“) lassen sich m. E. keine großflächigen quantitativen und statistisch validen Daten ableiten. So gibt es zwar zahlreiche Quellen, die Illiteralität für spezifische Personen belegen.14 Angesichts der Verstreutheit des Befundes, lassen diese aber keine quantifizierbaren Schlussfolgerungen zu,15 sondern sie zeigen, dass es Illiteralität in der Antike gab und dass diese sich über verschiedene Bevölkerungsgruppen erstreckte. Zudem muss man auch in der Antike verschiedene Level von LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) differenzieren und in Rechnung stellen, dass Lesekompetenz immer in Relation zum Schwierigkeitsgrad von Texten zu bestimmen ist.16 Dies muss auch für die quellensprachliche Ebene in Rechnung gestellt werden. z.B. muss die Charakterisierung ἀγράμματοςἀγράμματος nicht immer eine vollständigeUmfangvollständig Illiteralität meinen. So ist es sicher bezeugt, dass das Adjektiv in dokumentarischen PapyriPapyrus aus Ägypten meint, dass jemand des Griechischen nicht mächtig ist, aber sehr wohl der ägyptischen Sprache.17

Dies bedeutet im Hinblick auf Act 4,13Act 4,13, dass hier vermutlich auch nur die fehlende griechische Bildung der erzählten Figuren Petrus und Johannes im Blick ist, sich die Leserinnen und LeserLeser aber vorstellen konnten, dass diese ihre Muttersprache auch in der Schrift beherrschten.18 Laut P. Gemeinhardt liegt gerade darin die Pointe: „Wenn in Apg 4,13 Petrus und Johannes mit ihrer freimütigen RedeRede (παρρησία) deshalb Eindruck machen, gerade weil sie als ἄνθρωποι ἀγράμματοίἀγράμματος εἰσιν καὶ ἰδιῶται gelten, bedeutet das nach antikem Verständnis nicht, dass sie Analphabeten waren […], sondern dass sie nach den Maßstäben […] keine Inhaber von παιδεία waren – und deshalb gar nicht zu kunstgerechter und wirkmächtiger öffentlicherÖffentlichkeitöffentlich Rede befähigt sein dürften!“19

An Harris’ Bild einer weitgehend illiteraten Gesellschaft über die gesamte Antike hinweg ist in unterschiedlicher Form Kritik geübt worden.20

A. K. Bowmanns Auswertung der Funde von VindolandaVindolanda-Tafeln bezüglich der LiteralitätLiteralität/Illiteralität in der römischen Armee in der nördlichsten Peripherie des Reiches verdeutlichen, dass Literalität für Offiziere und UnteroffiziereSoldaten anzunehmen, aber selbst für niedrigere Ränge belegt ist, und dass die Größe des Befundes ein breites Netzwerk lesefähiger Menschen über die Schichtengrenzen hinaus voraussetzt.21 Auch die in den 2010er Jahren in London gefundenen „Bloomberg-TabletsBloomberg-Tablets“ lassen eine etwas optimistischer Sicht auf die Literalität in der Provinz Britannien zu.22 Die große Bedeutung von Lesen und SchreibenSchreiben in der römischen Armee wird durch weitere Quellen bestätig, u. a. durch Funden aus Nubien23 und Ägypten.24 Zu verweisen ist außerdem auf die mehr als 11.000 in Pompeji gefundenen Graffiti, die eine höhere Literalitätsrate vermuten lassen und auch Lese- und Schreibfähigkeit in unteren Schichten belegen.25 E. G. Epp fragt angesichts des Papyrusbefundes von Oxyrhynchos, ob für diese Stadt die Schätzungen von 10–20% Literalitätsrate wirklich ausreiche.26 Die Untersuchungsergebnisse von H. Krasser, der auf „die immense Zunahme der Informationen zu Büchern und Lesern“ in der Kaiserzeit hinweist, dass in dieser Zeit „eine Bewußtseinsveränderung im Umgang mit Bildungsgütern nahe[liegt], die mit einiger Wahrscheinlichkeit über den engen Kreis der kulturellen ElitenElite hinausgreift“.27 In Harris’ Studie findet sich dazu nur der Hinweis, es sei wahrscheinlich, dass angesichts des epigraphischenEpigraphik Befundes seit der augusteischen Zeit im Römischen Reich der Anteil an der Gesamtbevölkerung derjenigen, die lesen und schreiben konnten, leicht gestiegen wäre.28 Selbst die pessimistische Einschätzung der Schreib- und LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) auf dem Land ist aus der Perspektive von unzähligen KleininschriftenInschriftenKlein- und der Bedeutung von schriftlicher Kommunikation für die Wirtschaft im ländlichen Raum (insb. in den Grenzprovinzen) zu hinterfragen. „Es deutet sich […] an, dass die SchriftlichkeitSchrift-lichkeit auf dem Lande nicht weniger verbreitet war als in Städten, Vici und Militärlagern.“29

Auch der statistische Befund mahnt zur Vorsicht, das Phänomen Illiteralität nicht überzubewerten: So stehen im Corpus des TLG (bis zum 4. Jh. n. Chr.) knapp 100 Belegstellen für das Adjektiv ἀγράμματοςἀγράμματος mehr als 4200 Belegstellen allein für das griechische HauptleseverbHauptleseverb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω gegenüber. Zusätzlich sei auf eine Stelle bei Lukian hingewiesen, der die Lese- und Schreibfähigkeit als das Allgemeinste (τὸ κοινότατον) bezeichnet und damit die vollständigeUmfangvollständig Illiteralität als Ausnahme markiert (vgl. Lukian.Lukian von Samosata rh. pr. 14).

 

Auch die These, in der griechisch-römischen Antike stellten Lesen und SchreibenSchreiben zwei unterschiedliche Lernziele und Spezialisierungen dar und das Können der einen Kulturpraxis impliziere noch nicht die Fähigkeit auch der anderen,30 ist insbesondere angesichts der häufigen gemeinsamen Nennung der beiden Praktiken kritisch zu hinterfragen.31 Da das Verhältnis zwischen Lesen und Schreiben jedoch nicht in den Untersuchungsbereich dieser Studie fällt, kann dies hier nicht weiter ausgeführt werden.

Für das frühe ChristentumChristentum hat sich U. Schnelle in einem 2015 erschienenen Aufsatz ausführlich mit der Frage nach der LiteralitätLiteralität/Illiteralität des frühen Christentums befasst. Er weist u. a. auf folgende Aspekte hin, die es wahrscheinlich machen, dass man für die griechisch-römische Welt des 1./2. Jh. n. Chr. insgesamt, aber auch für das frühe Christentum, einen höheren Grad an Literalität annehmen müsse: 1) Die Allgegenwart von SchriftlichkeitSchrift-lichkeit in den Städten des Römischen Reiches in der Kaiserzeit setzt zumindest eine elementare Schreib- und LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) bei einem Großteil der Bevölkerung voraus.32 Hier wäre zu ergänzen, dass insbesondere die Beteiligung der Menschen an Wirtschaft und Handel, ausweislich der zahlreichen, damit in Zusammenhang stehenden schriftlichen Überreste, Lese- und vielfach auch Schreibkenntnisse notwendig machte.33 2) Der Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Stellung war nicht so groß, wie vielfach angenommen wird,34 sodass man keine Rückschlüsse von der sozialen Stellung auf den Grad an Literalität ziehen kann.35 3) Speziell in Bezug auf das Christentum verweist Schnelle auf den städtischen Kontext der meisten bekannten GemeindenGemeinde der Abfassungszeit, auf die expliziten Belege in den paulinischen BriefenBrief über Lese- und Schreibfähigkeit (Rezeption des ATAT/HB/LXX, SekretärSekretär [Röm, 16,22Röm 16,22], Lesen mit eigenen AugenAugen [Gal 6,11Gal 6,11: 1Kor 16,211Kor 16,21; Phlm 19Phlm 19]; Tätigkeit von LehrernLehrer [1Kor 12,281Kor 12,28; Gal 6,6Gal 6,6; Röm 12,7Röm 12,7b; Act 13,1Act 13,1]; argumentativer Anspruch der Briefe, der aus ihrer literarisch-rhetorischen Qualität und philosophischerPhilosophie Denkfiguren erwächst36) und auf die Mehrsprachigkeit vieler Gemeindemitglieder.37 Zudem betont er, dass die EvangelienEvangelium von einer schnellenLese-geschwindigkeit Literarisierung von JesusJesus berichten, und er hebt den hohen Grad an Literaturproduktion und die innovative sprachschöpferische Kraft hervor, die überall in den Texten des NT zu finden sind.38 Dies zeige, dass neue Mitglieder „schon relativ früh in eine bereits ausgebildete Lehr- und Sprachwelt“ eintraten und daher in den Gemeinden „ein relativ hohes intellektuelles Niveau vorauszusetzen“39 ist.

Schnelle argumentiert außerdem, dass ein großer Teil der frühen Christen „aus dem Einflussbereich des JudentumsJudentum [kam], das eine höhere Alphabetisierungsrate als der Durchschnitt des Römischen Reiches aufwies.“40 Die mit Schnelles Argument verbundene, weit verbreitete These eines besonders hohen LiteralitätsgradesLiteralität/Illiteralität im antiken Judentum ist in den vergangenen Jahren in der Forschung allerdings in Frage gestellt worden.41 Diese neue pessimistische Sicht auf den Literalitätsgrad im antiken Judentum korrespondiert mit der These, dass weite Teile der jüdischen Bevölkerung keinen direkten Zugang zu TorarollenTora hatten bzw. diese nur für die Priester und ElitenElite zugänglich waren. Diese These basiert nicht nur weitgehend auf argumenta e silentio. Auch dass die Textfunde vom Toten Meer als abseitige Ausnahme interpretiert werden müssen, ist aus methodischer Sicht problematisch.42 Insbesondere die Argumentation von C. Hezser (ferner auch von anderen in dieser neueren Forschungstradition stehenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern) bezüglich einer niedrigen Literalitätsrate im antiken Judentum ist durch das restriktive Auswertungsverfahren der Befunde durch Harris (s. o.) sowie durch Thesen zum „oralen“ Charakter der antiken Kultur insgesamt beeinflusst.43

Abgesehen davon wird die Relevanz des LiteralitätsgradesLiteralität/Illiteralität für die Frage nach LesepraktikenLese-praxis und -modalitäten m. E. in weiten Teilen der Forschung überschätzt. Zunächst müsste ja der Nachweis erbracht werden, dass die zur Diskussion stehende Literatur sich tatsächlich vorrangig an illiterate RezipientenRezipient richtete bzw. dass VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt von Texten in Gruppen als notwendig angesehen worden wäre, um illiterate Schichten mit den Texten zu erreichen. Schon hier sei darauf hingewiesen, dass bei den Darstellungen in den Quellen aus der griechisch-römischen Welt, in der Vorlesen in Gruppen thematisiert wird, das PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) mit Sicherheit zu einem großen Teil selbst aus literarisch Gebildeten bestand. Zudem wäre doch zu vermuten, dass das VerstehenVerstehen der in Betracht kommenden antiken Texte eine gewisse literarische Vorbildung voraussetzt. So formuliert etwa Pseudo-Lukianos, dass es aussichtslos sei, den Illiteraten bzw. Ungebildeten etwas in gelehrter Weise vorzulesen, solange sie ohne Wissen sind (ἀναγνῶναι ἢ γράψαι τοῖς ἀγραμμάτοιςἀγράμματος γραμματικὸν τρόπον ἀδυνατώτερόν ἐστιν τέως ἂν ὦσιν ἀνεπιστήμονες; Ps.-Lukian.Pseudo-Lucianos Halcyon 7).44

Die Beweislast liegt m. E. bei denjenigen, die einen Zusammenhang zwischen Illiteralität und VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt in Gruppen postulieren, ein solches Setting (also einem Kreis von Menschen, die nicht lesen können, wird Literatur vorgelesen) auch in den Quellen nachzuweisen. Die Arbeitshypothese, die mit weniger Vorannahmen auskommt, ist dagegen zunächst diejenige, dass man davon auszugehen hat, dass literarische Texte zunächst an RezipientenRezipient gerichtet waren, die lesen konnten. D. h. ganz unabhängig von der exakten zahlenmäßigen Quantifizierung von potentiellen Leserinnen und Lesern in der Antike, ist die Forschung nicht davon dispensiert, die LesepraktikenLese-praxis der lesekundigen Menschen in der Antike insgesamt und frühem ChristentumChristentum im Speziellen näher zu untersuchen. Und selbst wenn man die pessimistischen Schätzungen der LiteralitätsrateLiteralität/Illiteralität in antiken Gesellschaften zugrunde legte, handelte es sich bei niedrigen zweistelligen Prozentzahlen in absoluten Zahlen ja immer noch um eine beträchtliche Menge von Menschen, die lesen und Literatur rezipieren konnten.45 Die behauptete Interdependenz des Vorlesens in Gruppen und der geringen Literalitätsrate in der Antike führt in Bezug auf vorliegende Studie zu der Frage, inwieweit sich nachweisen lässt, dass nicht-literalisierte Personen in der Antike überhaupt als AdressatenAdressat in den Blick genommen worden sind oder umgekehrt eindeutig literalisierte Rezipienten als intendierte Adressaten plausibel zu machen sind.