Lesen in Antike und frühem Christentum

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1.1 Lesen im frühen Christentum – Zum Forschungsstand

Eine Forschungsgeschichte zum Lesen im frühen ChristentumChristentum zu schreibenSchreiben, ist nicht möglich, da wir mit der paradoxen Situation konfrontiert sind, dass es keine umfassenden Spezialuntersuchungen zum hier zu erschließenden Forschungsfeld gibt und ein relativ geringes Interesse am LeseaktLese-akt als solchem festzustellen ist, wie oben bereits ausgeführt wurde. Allerdings ist das Thema mit zahlreichen etablierten Forschungsfeldern und -diskursen verwoben und berührt unzählige exegetischeExegese Einzelfragen. Zu den etablierten Forschungsfeldern und -diskursen gehören z.B.:

 liturgiegeschichtliche Fragen nach der Genese des christlichen Gottesdienstes;

 die alte Frage über den literarischen Charakter der neutestamentlichen Texte, der z.B. einflussreich von Overbeck und Deissmann vehement in Frage gestellt wurde,1 bzw. die Frage nach der literaturgeschichtlichen Einordnung und den intendierten AdressatenAdressat neutestamentlicher Texte;

 die Frage nach MündlichkeitMündlichkeit und SchriftlichkeitSchrift-lichkeit sowie der LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) in Antike und frühem ChristentumChristentum;

 die Frage nach der Angemessenheit von methodischen Zugängen zum NT aus den Literaturwissenschaften, insbs. die RezeptionsästhetikRezeptionsästhetik (reader response criticism).2

Die Situation wird zusätzlich dadurch verkompliziert, dass einige dieser Forschungsdiskurse in einem besonderen Maße interdisziplinär mit anderen altertumswissenschaftlichen Disziplinen vernetzt sind. Diese Diskurse und ihr Bezug zum Thema „Lesen“ können hier im Einzelnen nicht dargestellt werden. Im Folgenden werden wichtige Forschungsbeiträge zum Thema entlang von drei Kontextualisierungsparadigmen diskutiert, in denen unterschiedliche Zugänge gewählt werden, um Lesen im frühen ChristentumChristentum zu beschreiben. Weil diese Kontextualisierungsparadigmen von der in den Altertumswissenschaften umfangreich diskutierten Frage nach dem „lautenLautstärkelaut“ und „leisenLautstärkeleise“ Lesen abhängig sind, ist darauffolgend diese Debatte ausführlicher darzustellen, bevor dann systematisch die methodischen Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung darzulegen sind. Abschließend wird die Fragestellung und der Forschungsansatz der vorliegenden Studie entfaltet und die Beschreibungssprache eingeführt.

1.1.1 Lesen im „Gottesdienst“ bzw. in der „Gemeindeversammlung“

Gemeinde-versammlungDas Thema „Lesen im frühen ChristentumChristentum“ ist forschungsgeschichtlich eng verbunden mit der liturgiegeschichtlichen Frage nach Entstehung und Entwicklung des christlichen Gottesdienstes und insbesondere mit der Frage nach einem „Wortgottesdienst“, der als Gegenüber zum „eucharistischen GottesdienstGottesdienst“ konstruiert wird. Es ist hier weder zielführend noch möglich, diese umfangreiche Forschungsgeschichte ausführlich darzustellen.1 Im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Studie ist jedoch relevant, dass der Gebrauch von Termini wie „gottesdienstliche Lektüre“, „liturgische Lesung“, „Wortgottesdienst“ etc. (G. Theißen spricht diesbezüglich sogar vom „kultischen Gebrauch“)2 in vielen Publikationen durch eine deutliche definitorische Unschärfe gekennzeichnet ist.3 Was SchriftlesungSchrift-lesung bedeutet und in welche sozialen und kulturgeschichtlichen Kontexte sie einzubetten ist, wird im Grunde als selbstverständlich gegeben vorausgesetzt. Vielfach bekommt man den Eindruck, spätere liturgische LesepraxisLese-praxis werde in die Zeit des frühen Christentums zurückprojiziert. Dies zeigt sich z.B. schon an der fragestellungsleitenden Unterscheidung zwischen einem WortgottesdienstGottesdienstWort- auf der einen Seite und einem „eucharistischen“ Gottesdienst auf der anderen Seite,4 die angesichts neuerer Forschungen zum MahlGemeinschaftsmahl im frühen Christentum und zur Entstehung des Gottesdienstes im frühen Christentum hochproblematisch geworden ist.5 Eine grundsätzliche Schwierigkeit besteht z.B. schon in der Verwendung des deutschen Gottesdienst-Begriffs, der für viele quellensprachliche Lexeme „zu unspezifisch und zu weit ist“ bzw. deren Bedeutungsfülle nicht abdeckt6 und daher als metasprachlicher Terminus klar definiert werden müsste. Außerdem zeichnen sich viele Arbeiten durch ein genealogisches Ableitungsmodell der frühchristlichen Lesepraxis aus dem „jüdischenJudentum SynagogengottesdienstSynagoge-ngottesdienst“ aus.7 Dies wird unter 7.4 weiter zu thematisieren sein. Wenn im Rahmen dieser Studie Begriffe wie „Gottesdienst“, „Liturgie“, „RitualRitual/ritualisiert“ (resp. die zugehörigen Adjektive) dennoch verwendet werden, dann beziehen sie sich auf die unspezifischen und weitgehend definitorisch unterbestimmten Kontextualisierungsmodelle, die sich in der Forschungsliteratur finden.

Die definitorische Unschärfe der Begriffe „gottesdienstlicheGottesdienst Lektüre“, „liturgische Lesung“, „Wortgottesdienst“ etc. ist forschungsgeschichtlich besonders deswegen relevant, da das vorausgesetzte Konzept eines frühen christlichen „Gottesdienstes“ und der darin implizierten LesepraxisLese-praxis vielfach als Kontext für die Erstrezeption neutestamentlicher Schriften vorausgesetzt wird. Dieses Kontextualisierungsmodell wird z.B. für die Erstrezeption der Paulusbriefe8 und der ApcApc9 verwendet und ist insbesondere für die Markusforschung von Relevanz. In Bezug auf Markus findet es sich schon Ende des 18. Jh. bei J. G. Herder.10 Der Rezeptionskontext des MkEvMk wird maßgeblich aus dem sprachlichen Stil abgeleitet, wie exemplarisch bei M. Hengel deutlich wird, der aus dem sprachlichen Stil sogar Rückschlüsse auf den Produktionskontext zieht:

„Wahrscheinlich ist das EvangeliumEvangelium aus dem lebendigen mündlichen Vortrag herausgewachsen und für die lectiolectio sollemnis im GottesdienstGottesdienst abgefaßt worden. Die kurzen, oft rhythmisch geformten Kola weisen auf die mündliche RezitationRezitation in der GemeindeversammlungGemeinde-versammlung hin. Das Evangelium ist für das OhrOhr des HörersHörer geschriebenSchriftGeschriebenes, und darum alles andere als ein künstliches literarisches Schreibtischprodukt, das aus obskuren schriftlichen Quellen, aus zahlreichen Zetteln und Flugblättern zusammengestückelt wurde.“11

Insbesondere die Verwendung der Kategorie lectiolectio sollemnis zeigt hier deutlich, dass das spätere Konzept einer festlichen liturgischen Verlesung biblischer Texte im GottesdienstGottesdienst anachronistisch in den Befund hineinprojiziert wird. Es handelt sich eindeutig um einen späteren liturgiegeschichtlichen Terminus. Aus den frühen Quellen lässt sich dessen Gebrauch weder in quellensprachlicher noch in metasprachlicher Hinsicht rechtfertigen. So ist das Kontextualisierungsmodell „Gottesdienst“/„liturgische Lesung“ für die Frühzeit insgesamt mehrfach zu Recht kritisiert worden.12 Anschaulich formuliert C. Buchanan:

„To inspect the liturgical evidence of the first and second centuries is like flying from Cairo to the Cape in order to get a picture of Africa, only to find that there is thick cloud cover all the way, with but half a dozen gaps in it.“13

Andererseits spielt die Kategorie „Verlesung im GottesdienstGottesdienst“ eine entscheidende Rolle bei vielen Rekonstruktionen der Entstehung des neutestamentlichen KanonsKanon. Am wirkmächtigsten war in dieser Hinsicht wohl die monumentale Arbeit T. Zahns, der zwar nicht als erster, aber doch prominent – und in Frontstellung gegen die dogmengeschichtlichen Zugänge Baurs und Semlers14 – die Interdependenz zwischen der Verlesung im Gottesdienst auf der einen Seite und der Sammlung von Schriften sowie der prozesshaft konzeptualisierten Entstehung des Kanons auf der anderen Seite postuliert. Im neutestamentlichen Kanon sieht er also von Beginn an eine Sammlung „kirchlicher Vorlesebücher“.15 Diese These ist zwar schon früh kritisiert worden – insbesondere die Spannung zwischen dem Postulat eines ideell bereits vorhandenen Kanons auf der einen Seite und dem postulierten Prozesscharakter bzw. der nicht physischen Einheit dieses Kanons auf der anderen Seite16 – aber hat doch die weitere Forschung zum neutestamentlichen Kanon maßgeblich geprägt.17 Dies ist insofern problematisch, als das Konzept der Verlesung im Gottesdienst in der Diskussion um die Entstehung des KanonsKanon vielfach definitorisch unterbestimmt bleibt,18 mit der Gefahr einer anachronistischen Rückprojektion moderner Vorstellungen vom Gottesdienst verbunden ist19 und als gleichsam feste Konstante ohne weitere Begründung vorausgesetzt wird.

Insgesamt ist der Großteil der Forschung des 20. Jh. davon geprägt, dass Lesen im frühen ChristentumChristentum weitgehend monosituativ im „GottesdienstGottesdienst“/der „GemeindeversammlungGemeinde-versammlung“ verortet wird – zum Teil mit der Begründung der vermeintlich hohen Kosten von HandschriftenHandschrift/Manuskript (Hss.Handschrift/Manuskript), der unterstellten leseunfreundlichen Gestaltung derselben und der angenommenen geringen LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität).20 Zum Teil wird aber auch die Möglichkeit anderer Rezeptionsweisen, insb. der Kontext der Katechese angedeutet;21 systematische Untersuchungen fehlen jedoch.

Eine Ausnahme einer solchen monosituativen Verortung des Lesens im frühen ChristentumChristentum bildet allerdings Harnacks 1912 erschienene Studie „Über den privatenÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat Gebrauch der heiligen SchriftenHeilige Schrift(en) in der Alten Kirche“KircheAlte, die maßgeblich auf einer noch älteren Arbeit von C. W. F. Walch aufbaut.22 Harnack wendet sich in dieser Studie gegen die maßgeblich von Lessing vertretene These, dass in der Alten Kirche das Lesen der Bibel Laien vorenthalten worden wäre. Dazu untersucht Harnack die Zeugnisse bis TheodoretTheodoret, die Rückschlüsse auf „privaten Gebrauch“ biblischer Texte zulassen. Harnack kommt zu dem Ergebnis, dass die biblischen Texte (zuerst die alttestamentlichenAT/HB/LXX und dann auch die neutestamentlichen) in der Alten KircheKircheAlte prinzipiell „jedermann zugänglich und in den Händen vieler Christen“23 waren. Für die Zeit der paulinischen Briefe, vermutet er jedoch, „wird – einfach infolge eines Mangels an Exemplaren – anfangs und eine geraume Zeit hindurch der private Gebrauch seltener gewesen sein.“24 Schon für Lukas nimmt er aber an, dass dieser auch außerhalb der „gottesdienstlichenGottesdienst Verlesung“ biblische Texte privat studiert habe.25 Aus der Literatur des 2. Jh. schlussfolgert er sodann, „daß das Alte Testament, die EvangelienEvangelium und die Paulusbriefe eine sehr große Publicität besessen haben müssen und von zahlreichen Christen studiert worden sind.“26 Schon wegen der zusammengetragenen Quellen bildet die Studie einen wichtigen Ausgangspunkt für die Frage nach der LesepraxisLese-praxis im frühen Christentum.27 Allerdings stellt sich die Frage, ob die Kategorie „privater Gebrauch“, die eine dichotome Unterscheidung von einem offiziellen (öffentlichenÖffentlichkeitöffentlich) kirchlichen Gebrauch (also eine feste Institution der „gottesdienstlichen Vorlesung“28) voraussetzt, in heuristischer Hinsicht nicht zu allgemein ist, um die Lesepraxis im frühen Christentum angemessen und differenziert genug beschreiben zu können.

 

Zwei Arbeiten aus den 1990er Jahren, die sich dezidiert mit dem Lesen im frühen ChristentumChristentum bzw. im NT beschäftigen, sind hier etwas ausführlicher zu besprechen. Bis heute einflussreich, besonders in der anglophonen ExegeseExegese, ist H. Y. Gambles 1995 erschienene Monographie „Books and Readers in the Early Church: A History of Early Christian Texts“. Wie schon der Titel sagt, handelt es sich bei Gambles Buch weniger um eine Studie zum Lesen selbst. Er formuliert jedoch gleich zu Beginn dem oben skizzierten Grundnarrativ entsprechend die These:

„Remember, however, that all ancient reading was reading aloud and that much of it occurred in public, quasi-public, and domestic settings where those listening might include the semiliterate and illiterateLiteralität/Illiteralität as well as the literate. […] Most early Christian texts were meant to speak to the whole body of the faithful to whom they were read. These writings envisioned not individual readers but gathered communities, and through public, liturgical reading they were heard by the whole membership of the churches.“29

Gamble wählt einen vierfachen Zugang, um die frühchristliche LesekulturLese-kultur zu kontextualisieren, und zwar über die Frage nach dem Literalitätsgrad (Kapitel 1), nach der MaterialitätMaterialität (Kapitel 2), nach der PublikationPublikation/Veröffentlichung und ZirkulationZirkulation von Texten (Kapitel 3) sowie nach „christlichen“ BibliothekenBibliothek (Kapitel 4). Dies kann hier nicht im Einzelnen detailliert besprochen werden, im Laufe der Untersuchung werde ich aber auf einzelne problematische Thesen Gambles bezüglich der genannten Fragen zurückkommen. Seine Schlussfolgerungen zum Lesen basieren z. T. auf dem alten, sozialromantisch verzerrten und v. a. aus dem 1Kor1Kor und Thesen zum historischen JesusJesus abgeleiteten Bild des frühen ChristentumsChristentum als Gruppe, die sich vor allem aus den illiteraten und unterprivilegierten Schichten zusammensetzte.30 Ein solches Bild des frühen Christentums ist in der jüngeren Forschung mit Recht in Frage gestellt worden.31

Angesichts fehlender früherer Zeugnisse umfasst Gambles Kapitel zu frühchristlichen BibliothekenBibliothek eine Epoche, die üblicherweise als patristischeKirche-ngeschichte Zeit bezeichnet wird, sodass keine Schlussfolgerungen bezüglich liturgischer LesepraxisLese-praxis für die Zeit des 1./2. Jh. möglich sind. Seine Argumentation hat dahingehend etwas Zirkuläres, als er auf der einen Seite liturgische Lesepraxis neutestamentlicher Texte, die er faktisch aus der Praxis des synagogalen WortgottesdienstesGottesdienstWort- ableitet, von Beginn an voraussetzt und auf der anderen Seite die frühe Existenz gemeindlicher Bibliotheken auf Basis dieser liturgischen Lesepraxis postuliert.32 Er leitet die Praxis des liturgischen Lesens faktisch aus dem synagogalen Wortgottesdienst ab, insofern er zwar die Limitationen der Quellen für die Rekonstruktion synagogaler Lesepraxis in vorrabbinischerrabbinischvor- Zeit genauso wie die Schwierigkeiten der Rekonstruktion frühchristlicher Lesepraxis in den GemeindenGemeinde (auch angesichts der Diversität des frühen ChristentumsChristentum) konzediert,33 aber dann daraus, dass Paulus bei den RezipientenRezipient seiner Briefe umfangreiche Kenntnisse der ToraTora voraussetzt, ableitet, „that the scriptures of Judaism were publicly read in the Pauline churches.“34 Freilich kann dies nur ein Indiz dafür sein, dass die Tora in den paulinischen Gemeinden rezipiert worden ist, aber nicht in welcher genauen Form. Zusätzlich formuliert er: „The fact that Paul expected his own letters to be read in the liturgical assembly shows that he envisioned the Christian gathering for worship as an appropriate setting for public readingpublic reading.”35 An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, dass Gamble diesen fact nicht am Text belegt, sondern rein thetisch postuliert. Zudem bleiben Termini wie liturgical assembly, liturgical readings in der gesamten Arbeit unterbestimmt bzw. speisen sich implizit durch Rückprojektionen aus späterer Zeit, die in der Gefahr stehen, anachronistisch zu sein.36

Zuletzt konzediert Gamble zwar, dass „christliche BücherBuch“ auch „privatÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat“ gelesen worden wären, führt dazu relevante Quellen an und macht wichtige Beobachtungen.37 In der Gesamtausrichtung des Buches bleiben diese Ausführungen jedoch ein Appendix, deren Implikationen nicht weiter bedacht werden. Insgesamt bleiben in Gambles Buch Quellenstellen, an denen LesepraktikenLese-praxis sowohl in der griechisch-römischen Literatur im Allgemeinen als auch in der frühjüdischen sowie frühchristlichen Literatur im Speziellen (bis auf die traditionell als Beleg für einen „Wortgottesdienst“GottesdienstWort- im frühen ChristentumChristentum zitierten Quellen), weitestgehend unbeachtet. Nicht zuletzt wegen des besonderen Einflusses von Gambles Buch in der anglophonen ExegeseExegese, der weitgehenden Übernahme der Logik seines Zugangs und der scheinbar selbstverständlichen Richtigkeit der These liturgischer Lesungen als Kontext der Rezeption neutestamentlicher Schriften, ist die systematische Auswertung dieser Quellen bisher ein schwerwiegendes Desiderat geblieben.

Die einzige deutschsprachige Monographie, die das Lesen im frühen ChristentumChristentum in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stellt, ist P. Müllers Monographie „‚Verstehst du auch, was du liest?‘. Lesen und VerstehenVerstehen im Neuen Testament“, die 1994 erschienen ist. Müllers Untersuchung fragt danach, „ob es vom Lesen im Neuen Testament etwas zu lernenLernen gibt für das Lesen des Neuen Testaments“,38 womit sein Erkenntnisinteresse im Hinblick auf literaturwissenschaftlich-rezeptionsästhetischeRezeptionsästhetik Perspektiven und Impulse für den gegenwärtigen Bibelgebrauch (Kapitel 5) schon angedeutet ist. Sein UntersuchungskorpusKorpus besteht aus den Stellen im NT, an denen Lesen explizit thematisiert wird und an denen er „Erkenntnisse über den Lesevorgang und seine Bedeutung“39 zu gewinnen sucht. Ausgehend von Act 8,26ffAct 8,26ff spitzt er die Leitfrage der Arbeit noch einmal zu auf den Aspekt des aus dem Lesen erwachsenden Verstehens der Texte (Kapitel 2), womit der Schwerpunkt der Arbeit eher als lesehermeneutisch charakterisiert werden kann. So kommt Müller dann auch zu dem Ergebnis, dass Verstehen biblischer Texte an Lese- und Interpretationsgemeinschaften gebunden ist und es die „eine Lese- und Verstehensweise der biblischen Schriften nicht gibt.“40 Die Untersuchung der einzelnen Lesestellen selbst, deren wichtige Ergebnisse unten im Einzelnen aufzunehmen sein werden, wird geleitet durch ein Modell des Lesens „in der griechisch-römischen Antike und im antiken JudentumJudentum“ (Kapitel 3), in dem Müller verschiedene kultur- und sozialgeschichtlicheSozialgeschichte Aspekte vornehmlich zusammenfassend aus der Forschungsliteratur aufarbeitet. Genau dieser Ansatz steht aber wegen des unten zu problematisierenden Forschungsstandes zum Lesen in der Antike insgesamt in der Gefahr, einzelne Stellen in den falschen Kontext zu stellen.

Der Ansätze von Gamble und Müller unterscheiden sich grundsätzlich im Hinblick darauf, wie sie die Relation der frühchristlichen LesepraxisLese-praxis zur griechisch-römischen Welt bestimmen. So hebt Gamble die weitgehenden Differenzen zwischen dem Lesen in der griechisch-römischen Welt und dem frühen ChristentumChristentum hervor. Das vorherrschende Medium der griechisch-römischen BuchkulturBuch-kultur sei die RolleRolle (scroll) gewesen, das frühe Christentum habe dagegen KodizesKodex verwendet; die griechisch-römische LesekulturLese-kultur sei die von literaten ElitenElite, im frühen Christentum sei den illiteraten Unterschichten vorgelesen worden; BücherBuch seien in der griechisch-römischen Welt publiziert und über den BuchmarktBuch-handel vertrieben worden, im frühen Christentum zirkuliertenZirkulation Bücher dagegen in privatenÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat Netzwerkstrukturen u. ä.41 Müller geht hingegen von grundsätzlichen Übereinstimmungen in Bezug auf die Lese- und Rezeptionsbedingungen der hellenistisch-römischen Antike sowie dem JudentumJudentum aus, die vor allem im „lautenLautstärkelaut“ Lesen, der ÖffentlichkeitÖffentlichkeit des Lesens und dessen Bindung an eine Lesegemeinschaft bestehe. Es seien nur unterschiedliche Akzentuierungen feststellbar, die vor allem durch die schulische und „gottesdienstlicheGottesdienst“ Verortung des Lesens im Judentum bedingt und auf griechisch-römischer Seite durch den öffentlichenÖffentlichkeitöffentlich Aufführungscharakter im Kontext der privilegierten Schichten gekennzeichnet sei.42 Diese Perspektive der Verortung der frühjüdischen und frühchristlichen Lesepraxis in der Lesekultur der griechisch-römischen Welt ist auch ein prägnantes Kennzeichen der sogenannten PerformanzkritikBiblical Performance Criticism (Biblical Performance CriticismBiblical Performance Criticism).