Lesen in Antike und frühem Christentum

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

1.1.2 Biblical Performance Criticism

Weit verbreitet in der neutestamentlichen Wissenschaft ist das Postulat, dass in der Antike grundsätzlich „lautLautstärkelaut“ gelesen wurde. Teilweise wird es sogar in der extremen Form der Ausschließlichkeit vorgetragen1 und a) dahingehend erweitert, dass Texte in der Antike (u. a. wegen des geringen LiteralitätsgradesLiteralität/Illiteralität) „normalerweise durch VorleserVorleser und in Gruppen“2 rezipiert wurden, sowie häufig b) mit der These einer primär durch OralitätMündlichkeit geprägten Kultur verbunden, in der die neutestamentlichen Schriften entstanden seien.3 Sowohl das Lesen4 als auch der Prozess der TextproduktionTextproduktion5 seien primär mündlich konzeptualisiertMündlichkeit konzeptuell gewesen.6 Dies wiederum führt zu der verbreiteten Sicht, dass antike Texte, insbesondere die neutestamentlichen, nichts anderes seien als das gesprochene Wort transformiert in ein anderes Medium.7 In Analogie zu modernen Aufnahmemedien wird daher die Schrift gerne als Speichermedium für das Wort verstanden bzw. werden antike SchriftsystemeSchrift-system in Analogie zu NotationssystemenNoten in der MusikMusik beschrieben und analysiert.8 Die Rezeptionssituation sei daher umgekehrt zu verstehen als „restoration of the book to its pristine moment of oral origin.”9

Aufbauend auf diesem Theoriegebäude, das ich hier nur in wenigen Pinselstrichen angedeutet habe und das beeinflusst ist durch das Paradigma, die antike Welt und Literatur primär unter der Kategorie „OralitätMündlichkeit“ zu beobachten,10 sowie im größeren wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang des sog. performative turns in den Kulturwissenschaften zu sehenSehen ist,11 hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten v. a. in der anglophonen Forschung eine zunehmend mehr Anhänger findende Sichtweise auf die neutestamentlichen Texte im frühen ChristentumChristentum entwickelt. Diese Sichtweise geht vom Folgenden aus: Die neutestamentlichen Texte wurden im Rahmen ihrer Erst- und frühen Folgerezeption nicht einfach gelesen bzw. vorgelesen, sondern performed. Darunter verstehen die Vertreterinnen und Vertreter dieser Sichtweise eine Vortragspraxis, die in Analogie zu antiken Dramenaufführungen und zur Vortragsweise von RedenRede aufzufassen sei. Der Fokus liegt dabei auf dem Versuch, z.B. die genaue Vortragsweise und Stimmführung im Hinblick auf den Klang der Rede/die RhetorikRhetorik, die stimmlicheStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung von einzelnen RollenRolle (scroll), die Mimik und Gestik und v. a. die möglichen Reaktionen des Publikums zu untersuchen. In mehreren programmatischen Artikeln wurde dieser Ansatz von D. M. Rhoads als neue Methode der Biblischen PerformanzkritikBiblical Performance Criticism12 (Biblical Performance CriticismBiblical Performance Criticism) vorgeschlagen.13 Mittlerweile verkündet er den Ansatz sogar als Paradigmenwechsel, mit dem ein aus dem Druckzeitalter stammendes Paradigma (AutorAutor/Verfasser – geschriebener Text – individueller „leiser“ LeserLeser) abgelöst würde.14 Der Ansatz wurde ferner auch in der judaistischen Forschung adaptiert.15 Seit 2008 existiert auch eine eigene Reihe (BPCS), in der das Ziel des Ansatzes programmatisch folgendermaßen zusammengefasst wird:

„to reframe the biblical materials in the context of traditional oralMündlichkeit cultures, construct [imaginative]16 scenarios of ancient performances, learn from contemporary performances of these materials, and reinterpret biblical writings accordingly.“

Zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der Biblischen PerformanzkritikBiblical Performance Criticism nehmen an, die neutestamentlichen Texte seien nicht auf der Grundlage eines Schriftmediums vorgelesen, sondern auswendigAuswendiglernen vorgetragen worden. Damit wird die Existenz von Lesen im frühen ChristentumChristentum im eigentlichen Sinne negiert – abgesehen von der Nutzung von Manuskripten zum Auswendiglernen durch das „lauteLautstärkelaut“ Sich-selbst-VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt. P. J. J. Botha geht sogar so weit, nicht nur das „leiseLautstärkeleise“ Lesen für die gesamte Antike in Frage zu stellen, sondern auch alle Formen von lesenden Zugriffen auf SchriftmedienLese-medium, die einen Text nicht linear „oralMündlichkeit“ re-realisieren17 – also z.B. einen nachschlagenden, selektivenUmfangselektiv Zugriff, das Überspringen von Passagen usw. Die vielfältigen denkbaren Möglichkeiten werden im Rahmen dieser Studie v. a. unter 3 und 6 thematisiert und an den Quellen untersucht werden. Das Memorieren hätte die Funktion gehabt, einen Text entweder vor einer Gruppe zu „performen“ oder für eine nachfolgende durch rein mentale Verarbeitung entstehende KompositionKomposition zu nutzen, die dann wiederum „oral“ (d. h. in Form eines Diktats) zu PapyrusPapyrus gebracht worden wäre.18 Hier zeigt sich der Einfluss aus der Oralitätsforschung (s. o.): In überlieferungskritischer Hinsicht (und bei faktischer Negierung der Literarkritik, da Komposition auf der Grundlage schriftlicher Quellen mit diesem extremen Ansatz faktisch ausgeschlossen wird) wird postuliert, dass etwa das MkEvMk (in einem zeitlich ausgedehnten Prozess) in performance komponiert und geschriebenSchriftGeschriebenes worden sei.19 Überhaupt wird vielfach negiert, dass es in der Antike so etwas wie vom AutorAutor/Verfasser verbindlich herausgegebene EditionenEdition gegeben habe und Botha sieht darin den entscheidenden Grund für die Entstehung von Textvarianten in der hss. Überlieferung antiker Texte.20 PublikationPublikation/Veröffentlichung sei in der Antike und im frühen Christentum nichts anderes gewesen als der Akt des performativen Vortrags in einer Gruppe. Schriftliche Kopien seien lediglich mehr oder weniger zufällig durch Mitschriften oder das Herausgeben von Kopien an Freunde in Umlauf gekommen.21

Die Grundannahmen und die historische Rekonstruktion antiker und frühchristlicher LesepraxisLese-praxis im Rahmen der sog. PerformanzkritikBiblical Performance Criticism und die zuweilen zu findende Überbetonung von oralityMündlichkeit/aurality in Bezug auf die Produktion und Rezeption frühchristlicher Literatur hat L. Hurtado in einem wegweisenden Artikel zu Recht und mit überzeugenden – zuweilen allerdings angesichts des begrenzten Raumes nur angerissenen – Argumenten kritisch diskutiert und weitestgehend als crucial claims, highly dubious inferences und historical oversimplifications zurückgewiesen.22 (Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass ähnliche Thesen in Bezug auf die hellenistische Poesie in der klassischen Philologie kritisch gesehen werden.)23 Wissenschaftstheoretisch ist dies als notwendige Gegenbewegung zu verstehen, die auf die durch das neue Paradigma des sog. performative turns entstandenen blinden Flecken aufmerksam macht, die maßgeblich durch ein weitgehendes Zurückdrängen von philologischen Detailfragestellungen und eine, dem Durchsetzen von Paradigmenwechseln häufig inhärenten, zunächst einseitige HeuristikHeuristik bedingt sind. Prägnant formuliert Hurtado bezüglich des weit verbreiteten Grundnarrativs (und die nachfolgende Untersuchung wird dies auf einer viel breiteren Quellenbasis bestätigen): „[I]t is simply misinformed to assert that texts [in the Roman era] were only (or even dominantly) read aloud and in groups, and were, thus, merely appendages to ‚orality‘.“24 Er verweist zudem u. a. darauf, dass die Rolle des Diktierens im Prozess der Entstehung insb. literarischer Texte nicht überschätzt werden darf25 und weist entschieden die These zurück, das MkEvMk oder irgendein anderer Text sei in performance komponiert worden.26

Der entscheidende Einwand gegen die sozialgeschichtlicheSozialgeschichte Rekonstruktion der PerformanzkritikBiblical Performance Criticism ist aber ein methodologischer, den auch Hurtado andeutet: Die Quellen, die der Rekonstruktion performativer Präsentationen der neutestamentlichen Texte sowie der Reaktionen des Publikums zugrunde liegenHaltungliegen, stammen fast ausnahmslos aus dem Bereich der (meist narrativen, z. T. theoretischen) Reflexion antiker Dramenaufführungen und der RhetorikRhetorik bzw. sind ikonographischeLese-ikonographie Darstellung von Dramenaufführungen oder Rednern.27 Schauspieler und RednerRedner sollten aber nicht mit den Vorlesenden von Texten verwechselt werden, wie Hurtado es formuliert.28 Oder anders gesagt: Es fehlt eine historische Begründung, die m. E. auch nur schwer möglich ist, inwiefern die Quellen, die sich auf das TheaterTheater und die RedeRede beziehen, für die Rekonstruktion von diversen Vorlesesituationen herangezogen werden könnten. Es kommt hinzu, dass es sich bei der vielfach belegten recitatiorecitatio (s. auch Publikation/Veröffentlichung), auf die sich nicht nur die Vertreterinnen und Vertreter der Performanzkritik beziehen,29 um eine Institution handelt, die fest mit der Präsenz des Autors verknüpft ist und zeitlich vor der eigentlichen PublikationPublikation/Veröffentlichung eines Werkes angesiedelt ist.30 Die recitatio ist daher kein beliebig verallgemeinerbarer Rahmen für die Rezeption literarischer und poetischer Werke.31 „Going to a recitationrecitatio was not a substitute for reading. It was a (sometimes tedious and socially obligatory) prelude to reading.“32

Insgesamt ist zu kritisieren, dass durch die extreme Fokussierung auf den Aspekt der MündlichkeitMündlichkeit der Quellenbefund nur selektivUmfangselektiv wahrgenommen wird und viele, in dieser Studie zu besprechende, Facetten antiker LesepraxisLese-praxis unbeobachtet bleiben. Bei aller Kritik insbesondere an der sozialgeschichtlichenSozialgeschichte Rekonstruktion antiker Lesepraxis im Rahmen der PerformanzkritikBiblical Performance Criticism ist schon hier zu betonen, dass damit nicht in Frage gestellt wird, die RhetorikRhetorik neutestamentlicher Texte zu untersuchen.33

 

Zuletzt schlussfolgert aber auch Hurtado aus dem handschriftlichen Befund (v. a. aus den sog. readers’ oder reading aidsLese-hilfe (reading aid)) wie aus dem NT (insb. Mk 13,14Mk 13,14 parMk 13,14 par; Lk 4,16Lk 4,16–21Lk 4,16–21; Act 13,15Act 13,15; 15,21Act 15,21; 17,10 fAct 17,10 f; 1Thess 5,271Thess 5,27; Kol 4,16Kol 4,16; Apc 1,3Apc 1,3), dass im frühen ChristentumChristentum Texte „most often in group-settings“34 gelesen, d. h. vorgelesen worden wären.35 Damit setzt er gegen die These besonderer performativer Lesungen, die ohne Textmedium ausgekommen wären, eine andere (allerdings nicht mehr weiter entfaltete) monosituative Verortung frühchristlicher LesekulturLese-kultur, an denen sich auch die Monographien von D. Nässeqvists (2016 erschienen) und B. J. Wrights (2017 erschienen) orientieren.

1.1.3 Public Reading/Communal Reading

D. Nässelqvists Studie setzt sich zwar insofern von der Biblischen PerformanzkritikBiblical Performance Criticism ab, als er die Kritik Hurtados aufnimmt, die einseitige These der Performanz auswendiggelernterAuswendiglernen Texte problematisiert und die Materialgebundenheit frühchristlicher LesepraxisLese-praxis betont.1 Sein Erkenntnisinteresse liegt aber zuletzt auch darin, oralMündlichkeit delivery im Rahmen von public readingpublic reading events zu rekonstruieren.2 Dazu untersucht er zunächst die materiellenMaterialität Überreste antiker und frühchristlicher Lesepraxis in Relation zur PragmatikPragmatik des Lesens (Kap. 2), betont die Wichtigkeit von auf das Lesen spezialisierter Lektoren im Rahmen der antiken und frühchristlichen Lesepraxis (Kap. 3) und führt im Anschluss an M. E. Lees und B. B. Scotts Sound Mapping und zusätzlich gestützt auf Aussagen der antiken Rhetoriktheorie eine Methode zur Analyse des Klangs griechischer Texte ein (Kap. 4), die er dann exemplarisch an Joh 1–4Joh 1–4 vorführt (Kap. 5–8).

Ganz ins Zentrum des Forschungsinteresses rückt B. J. Wright das Thema Lesen im frühen ChristentumChristentum in seiner 2017 erschienenen Studie „Communal Reading in the Time of JesusJesus“. Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die m. E. sehr richtige Feststellung, dass Lesen insbesondere durch den starken Fokus der Forschung auf Oralitätsfragen weitestgehend vernachlässigt worden ist. Demgegenüber fordert er mit communal readingcommunal reading events eine neue control category und schreibt sich damit in einen Diskurs bezüglich bestimmter „‚quality controls‘ that must have been in place […] in order to account for the transmission of the earliest Jesus movement“ ein.3 Sein Erkenntnisinteresse liegt also vor allem darin, communal reading events als einen wichtigen Faktor in der Formierung und (textlichen) Überlieferung der Jesus-TraditionTradition zu plausibilisieren, wobei er jedoch betont, dass das Ziel seiner Studie zunächst darin liegt, zu belegen, dass communal reading events ein weit verbreitetes Phänomen im ersten Jh. n. Chr. gewesen seien.4 Weiterführende (und die eigentlich spannenden) Fragen, wie genau communal reading events die Transmission christlicher Traditionen im 1. Jh. steuerten u. ä., könnten dann erst auf der Grundlage der Beantwortung dieser Frage bearbeitet werden.5 Die Untersuchung selbst besteht dann aus einem Teil (Kap. 3f), in dem er die politischen, wirtschafts- und sozialgeschichtlichenSozialgeschichte Rahmenbedingungen im Hinblick auf die Bedingungen von communal reading events auswertet und auf einige sehr wichtige Punkte hinweist, die, insbesondere in der anglophonen neutestamentlichen Forschung, ein primär an „OralitätMündlichkeit“ ausgerichtetes Paradigma verfolgt, zuweilen nicht beachtet werden.6 Darauf folgt ein umfangreicher Teil, in dem er Quellen zu communal reading events in der paganen, jüdischenJudentum und christlichen Literatur, die er in das erste Jh. datiert, zusammenträgt (Kap. 5f). Am Ende resümiert er: „Overall, the findings show that communal reading events were more common and widespread geographically in the first century CE than the current academic consensus assumes.“7

Das zentrale methodische Problem der beiden Studien besteht darin, dass sie durch ihren Fokus auf communal readingcommunal reading events ihre HeuristikHeuristik enorm einschränken und ihre Thesen weitestgehend nur auf solchen Quellen basieren, die auf Vorleseszenen verweisen. Evidenzen für LesepraktikenLese-praxis jenseits von communal reading events bleiben hingegen völlig (bei Nässelqvist größtenteils) ausgeblendet. Schwierig ist außerdem, wie im Laufe der Untersuchung deutlich werden wird, Nässelqvists These einer ubiquitären Verbreitung (und gleichsamen Notwendigkeit) sog. Lektoren, die für das Lesen bzw. die performativen Lesungen zuständig gewesen wären.8 Auch seine Thesen zum Zusammenhang zwischen dem hss. Befund und der Lesepraxis werden im Rahmen dieser Arbeit zu problematisieren sein. Zudem wird zu fragen sein, ob die von ihm untersuchten „phonologischenPhonologie“ Strukturen eines Textes zwingend in ausschließlicher Relation zu public readingpublic reading events stehen müssen. Bei der Arbeit von Wright kommt hinzu, dass er sämtliche Quellen, auch solche, in denen sehr unspezifisch von Lesen die Rede ist, konsequent seiner Kontrollkategorie zuordnet. Dabei missachtet er z. T. argumentative oder literarische Kontexte; zudem fehlt eine methodologische Reflexion der Schwierigkeiten, von literarischen Darstellungen von Lesepraktiken auf die sozial-historische Wirklichkeit zu schließen. So belegen einige Quellen, die er anführt, wahrscheinlich bzw. sicher keine communal reading events:

P. Oxy. 31 2592 ist keine Einladung zu einem communal readingcommunal reading event, wie Wright suggeriert,9 sondern zu einem GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl im Serapeion. Ob dort gelesen wurde, geht aus dem PapyrusPapyrus nicht hervor. Wenn in Prop. Properz2,24,1f geschriebenSchriftGeschriebenes steht, Properz’ Schrift Cynthia werde überall auf dem ForumForum gelesen (toto Cynthia lectalego foro), ist hier kein communal reading event und keine RezitationRezitation gemeint, sondern viele individuell Lesende, wie u. a. Prop. 3,3,19f zeigt.10 Diog. 12,1 ist nicht nur wegen der Diskussion um den sekundären Charakter der letzten beiden Kapitel des Diognetbriefes (communis opinio), schwierig; auch geht aus der Formulierung (selbst wenn man die literarische Einheit annehmen würde) keinesfalls hervor (s. u. Anm. 392, S. 468), dass ein communal reading event vorauszusetzen wäre.11 Inwiefern Pap 2[!],3 (Eus.Eusebios von Caesarea h. e. 3,39,8) ein communal reading event belegen sollte, bleibt mir völlig schleierhaft.12 Der dort in ungenauer englischer Übersetzung angegebene Text, der allem Anschein nach nicht im Griechischen geprüft wurde, gehört zudem zum einleitenden Rahmen Eusebs und nicht zum Wortlaut von PapiasPapias, sodass eine Datierung ins 1./2. Jh. falsch ist. Diese Kritik gilt auch für das als Fragment 7 aus dem Ebionäerevangelium angegebene ZitatZitat, das aus dem einleitenden Rahmen bei Epiphanius stammt (Epiph.Epiphanius von Salamis panar. 30,22,4) und das definitiv nicht auf gemeinschaftliches Lesen verweist.13 Auch seine Interpretation von Ps.-Apollod.Apollodor von Athen bibl. 3,5,8 (52) als Beleg für ein communal reading event14 basiert auf der ungenauen englischen Übersetzung durch J. G. FRAZER. Die auf S. 215 zitierte Stelle aus den Oracula Sibyllina belegt definitiv kein communal reading event (s. u. Anm. 75, S. 126) und ist auch nicht ins 2 Jh. v.–1. Jh. n. Chr. zu datieren. Der zitierte Satz stammt aus dem (eindeutig christlichen) redaktionellenRedaktion/redaktionell PrologProlog (Sib. prol.), der nicht vor dem 6. Jh. n. Chr. entstanden ist.15 Wenn FrontoFronto, Marcus Cornelius in einem seiner Briefe an Antoninus Pius schreibt, dieser würde im TheaterTheater oder beim BankettSymposion (convivium) wiederholt lesen (lectitolectito; Front. ep. 4,12), so ist hier vermutlich eher gemeint, dass er für sich selbst liest.16 Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen.

Konkret wird seine enge HeuristikHeuristik etwa daran deutlich, dass er einerseits sowohl ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω als auch ἐντυγχάνωἐντυγχάνω als „common markers of communal readingcommunal reading events“ versteht.17 Hier zeigt sich als Desiderat das Fehlen einer eingängigen lexikologischen und semantischen Analyse der griechischen und lateinischen Leseterminologie. Zahlreiche andere Termini, die Lesen bzw. die Rezeption von Texten anzeigen, werden andererseits überhaupt nicht berücksichtigt. Wie schon bei den zuvor diskutierten Ansätzen handelt es sich daher bei Nässelqvists und Wrights Ansatz ebenfalls um eine monosituative Verortung des Lesens im frühen ChristentumChristentum, wobei die Kategorie WortgottesdienstGottesdienstWort-/liturgische Lesung o. ä. durch das public/communal reading event ersetzt, dabei aber freilich breiter in der griechisch-römischen Welt kontextualisiert wird. Den meisten der skizzierten Forschungsbeiträge, die das Lesen im frühen Christentum monosituativ verorten, ist gemein, dass sie im Rahmen eines breiteren Diskurses in den altertumswissenschaftlichen Fächern stehen und davon beeinflusst sind. Dieser Diskurs und dessen problematische Implikationen sind im Folgenden zu beleuchten.

1.2 Die lange Debatte um die Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen in der Antike

Die Erforschung des Phänomens „Lesen“ ist in der altertumswissenschaftlichen Forschung v. a. im 20. Jh. maßgeblich von der Frage nach dem „lautenLautstärkelaut“ und „leisenLautstärkeleise“ Lesen dominiert worden. Da hier wichtige methodische Implikationen und hermeneutische Grundfragen des Zugangs zum Thema deutlich werden, sind an dieser Stelle einige Bemerkungen zu dieser Debatte notwendig. Den locus classicus, von dessen Interpretation die Diskussion maßgeblich geprägt ist, bildet ein Bericht von Augustinus über die LesepraxisLese-praxis von AmbrosiusAmbrosius von Mailand in seinen Confessiones. Ein Auszug daraus sei zur besseren Verständlichkeit der Debatte vorweg abgedruckt:

„Ich [scil. Augustinus] seufzte noch nicht im Gebet, dass du mir zur Hilfe kommst, sondern mein Geist strengte sich an zu forschen und sehnte sich nach Disputation. […] Auch wußte er [scil. AmbrosiusAmbrosius von Mailand] nichts von meinen Unruhen noch von dem Abgrunde meiner Gefahr, weil ich ihn nicht nach Wunsch fragen konnte. Denn von seinem OhrOhr und Munde war ich abgesperrt durch ganze Haufen geschäftiger Leute […]. Und war er einmal von diesen Leuten nicht umgeben, was immer nur sehr kurze Zeit der Fall war, so stärkte er seinen Leib […] oder erquickte durch Lektüre [lectiolectio] seine Seele. Wenn er aber las, ziehen seine AugenAugen über die Seiten hin, und das Herz drang in ihr Verständnis, StimmeStimme und Zunge jedoch ruhten. (sed cum legebatlego, oculi ducebantur per paginas et cor intellectum rimabatur, uox autem et lingua quiescebant.) Oft, wenn ich zugegen war – denn niemandem war verboten, einzutreten, und es war nicht Brauch, ihm die Besuchenden zu melden –, hab ich ihn so gesehen, und nie anders, als schweigend lesend (sic eum legentem uidimus tacite). Dann saß ich lange schweigend bei ihm – denn wer hätte es gewagt, dem so in sich Versunkenen zur Last zu werden? – und ging wieder weg und dachte mir, in jener kurzen Spanne Zeit, die er […] für sich und zur Erholung seiner Seele gewinnen könne, wolle er nicht zu anderen Dingen hingezogen werden. Und leiseLautstärkeleise las er, wohl deshalb, daß nicht ein wißbegieriger und aufmerksamer HörerHörer ihn zwingen könne, eine dunkle Stelle, die er eben las, ihm aufzuklären und ihm in irgendwelcher schwierigen Frage Rede zu stehen. Darüber wäre so viel Zeit verloren gegangen, dass er das BuchBuch nicht so weit hätte auseinanderrollen [also lesen] können (voluminum evolveretevolvo), wie er gewollt hätte. Auch wenn er durch das schweigende Lesen nur seine Stimme, die leicht heiser wurde, hätte schonen wollen, so wäre dies ein billiger Grund gewesen. In welcher Absicht er es auch getan, sicher tat er immer gut.“ (Aug.Augustinus von Hippo Conf. 6,3; Üb. angelehnt an HEFELE).

 

Die bis heute vorherrschende, maßgeblich auf der Grundlage dieser Quelle gebildeten communis opinio lässt sich mit dem folgenden Satz aus dem Aufsatz von J. Balogh, der die Grundlage für die Debatte legte, zusammenfassen: „Der Mensch des Altertums las und schrieb in der Regel lautLautstärkelaut; das Gegenteil war zwar nicht unerhört, doch immer eine Ausnahme.“1 „Leises“ Lesen sei sogar als etwas Ungewöhnliches wahrgenommen worden.2 Diese These ist in den altertumswissenschaftlichen Fächern in vielfältigen Varianten wiederholt und zur Bildung verschiedenster Hypothesen (insb. im Hinblick auf die Orality-Literacy-DebatteMündlichkeit) herangezogen worden, wie im Rahmen dieser Arbeit noch an unterschiedlicher Stelle deutlich wird.3 Und auch in der neutestamentlichen Wissenschaft ist diese Sicht weit verbreitet, wie oben gezeigt wurde.

Vor dogmatischen Vorfestlegungen, es habe in der Antike kein „leises“ Lesen gegeben, warnt jedoch der geistesgeschichtliche Kontext der Forschungstradition, aus der diese These stammt: Baloghs Forschungsfrage, die ihn zu oben zitiertem Urteil führt, ist nämlich von einer kulturkritischen und z. T. modernitätskritischen TraditionTradition des 18. und 19. Jh. beeinflusst, die normativ am Vorbild der Antike ausgerichtet ist.4

Beispielhaft formuliert C. M. Wieland in seiner Übersetzung zu Lukian.Lukian von Samosata adv. ind. 2:5 „Diese Stelle beweiset […], daß die Alten (wenigstens die Griechen) alle BücherBuch, die einen Werth hatten, lautLautstärkelaut zu lesen pflegten, und daß es bey ihnen Regel war, ein gutes Buch müsse laut gelesen werden. Diese Regel ist so sehr in der NaturNatur der Sache gegründet, und daher so indispensabel, daß sich mit diesem Grunde behaupten lässt, alle Dichter […] von Talent und Geschmack müssen laut gelesen werden, wenn nicht die Hälfte ihrer Schönheit für den LeserLeser verlohren gehen sollen.“6

Die Fortschreibung dieser kulturkritischen, an die Kulturkritik der Antike anknüpfenden Sicht im Zeitalter des industriellen Buchdruckes wird auch in einem ebenfalls in den 20er Jahren des 20. Jh. erschienenen, englischsprachigen Artikel deutlich:

„… from Homer – a world without books and written records – down to Plato, where books are stillLautstärkestill new, though plentiful, is but a step, and so to our own day which groans beneath their burden. Almost within the memory of men now living the printed page has brought about the decline, if not the death, of oratory, whether of the parliament, the bar, or the pulpit; the newspaper and the review, anticipating every subject of comment, have killed conversation and debate; the learned archive or scientific journal renders the gatherings of scholars insignificant for purposes other than convivial; and books have in large degree displaced the living voiceStimmelebendige (viva vox) of the teacher. Books have created, as Plato prophesied, an art of forgetfulness, in that no one longer gives his mind to remembrance of that which can be consulted at leisure. The art of writing was to be sure in Plato’s time nothing new; but the Greek book, the accessible and convenient repository of other men’s thought, was scarcely yet a century old.“7

Stutzig macht zudem, schaut man Disziplinen übergreifend auf die Forschungsliteratur zur Geschichte des Lesens, die in aller Regel als Fortschrittsgeschichte geschriebenSchriftGeschriebenes wird, dass das „leiseLautstärkeleise“ Lesen in der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte mindestens fünfmal „erfunden“ wird.

(1) So vertritt der klassische Philologe J. Svenbro8 die These, das „leiseLautstärkeleise“ Lesen sei im 5. Jh. v. Chr. entstanden. Die Entwicklung vom „lautenLautstärkelaut“ zum „stillenLautstärkestill“ Lesen kann Svenbro in diachroner Hinsicht an Veränderungen im Selbstverständnis von InschriftenInschriften zeigen. Während die früheren Inschriften, insbesondere aus der archaischen Zeit, darauf angewiesen waren, dass der LeserLeser „seine StimmeStimme der stummen Inschrift leiht“9, findet man seit dem 5. Jh. das Phänomen von sprechenden Objekten oder Gegenständen sowohl in Bezug auf Inschriften als auch in der Reflexion dieses Phänomens in den Quellen:10 Insbesondere die Korrelation dieses Wandlungsprozesses mit der Entwicklung in der Theorie der visuellenvisuell Wahrnehmung im 5. Jh. v. Chr., die bei EmpedoklesEmpedokles, LeukippLeukipp und DemokritDemokrit deutlich wird, ist ein sehr starkes Argument. So wird hier die Vorstellung, dass das SehenSehen durch einen Strahl aus dem AugeAugen möglich wird, durch die atomistische Theorie ersetzt, in der die Möglichkeit des Sehens auf die Emission von kleinsten Teilchen durch den gesehenen Gegenstand zurückgeführt wird – in Bezug auf die Frage nach dem Lesen also „das Geschriebene seine Bedeutung zum Auge hin aussendet.“11 Zudem findet Svenbro im kulturellen Kontext des 5. Jh. die Vorstellung einer inneren Stimme, einer Stimme im Kopf;12 also eine Vorstellung die eine notwendige Voraussetzung für das „stille“ Lesen darstellt. Auf diese innere StimmeStimmeinnere (inner reading voice), die in der neueren LeseforschungLese-forschunginner reading voice genannt wird, wird später zurückzukommen sein.

Svenbro zeigt damit, dass sowohl die InschriftenInschriften als auch die direkten Zeugnisse für das „leiseLautstärkeleise“ Lesen im 5. Jh. v. Chr., die schon B. Knox gegen die maßgeblich von J. Balogh geprägte communis opinio in Stellung gebracht hatte,13 „ein und dieselbe Interiorisierungsbewegung [belegen], die im Verlauf des 5. Jahrhunderts vollzogen wurde […] [–] die Interiorisierung der StimmeStimme des LesersLeser, der nunmehr in der Lage ist, ‚in seinem Kopf zu lesen‘.“14 Die Grundlage für die Entwicklung hin zum „stillenLautstärkestill“ Lesen sei in pragmatischerPragmatik Hinsicht die Notwendigkeit größere Textmengen zu bewältigen;15 stärker wiege aber noch eine qualitative Veränderung in der HaltungHaltung gegenüber GeschriebenenSchriftGeschriebenes, die maßgeblich durch die Erfahrungen im TheaterTheater induziert gewesen sei. Denn durch die Transformation des dramatischen Textes auf der Bühne entsteht eine größere Differenz zwischen dem dramatischen Text, der „vokalen Kopie“ auf der Bühne und dem hörenden und sehenden (!) PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) als zwischen dem selbst oder anderen vorgelesenen Text in der lautlichen Realisierung beim „lautenLautstärkelaut“ Lesen. Durch diese Trennungserfahrung zwischen Geschriebenem und Leser sei die neue Haltung gegenüber Texten und damit das „leise“ Lesen ermöglicht worden.16

„Der traditionelle LeserLeser, der seine StimmeStimme braucht, um die graphische Sequenz ‚wiederzuerkennen‘ [=ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω], unterhält mit dem GeschriebenenSchriftGeschriebenes auf der Ebene der Verlautlichung eine spürbar aktive Beziehung (obwohl er gegenüber dem Schreiber, dessen Programm er ausführt, die Rolle des ‚passiven Partners‘ einnehmen kann). Um seine instrumentelle Funktion auszuüben, muß er eine geistige und physische Anstrengung vollziehen, sonst blieben die BuchstabenBuch-stabe ohne Bedeutung. […] Die Aktivität des stillLautstärkestill Lesenden wird nicht als eine Anstrengung zur Dechiffrierung erlebt, es ist eine Aktivität, die als solche nicht bewußt ist (so wie die interpretative Aktivität des ‚Ohrs‘, das eine bedeutungstragende Lautsequenz hört, eine sich als solche ignorierende Aktivität ist […]). Ihre ‚Wiedererkennung‘ des Sinns ist unmittelbar; ihr geht kein opaker Moment voraus. Der in seinem Kopf Lesende braucht das Geschriebene nicht durch seine Stimme zu aktivieren oder zu reaktivieren. Die Schrift scheint ganz einfach zu ihm zu sprechen. Er hört seine Schrift – so wie der Zuschauer im TheaterTheater die Vokalschrift der Schauspieler hört. Das visuellvisuell ‚(wieder)erkannte‘ Geschriebene scheint die gleiche Autonomie zu besitzen wie die Theateraufführung. Die Buchstaben lesen sich – oder vielmehr: sagen sich – von selbst. […] Die Buchstaben, fähig zu ‚sprechen‘, können auf das Eingreifen einer Stimme verzichten. Sie besitzen bereits eine. Es ist am Leser, bloß ‚zuzuhören‘ – im Inneren seiner selbst.“17