Lesen in Antike und frühem Christentum

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1.3.4 Die Frage nach der Alterität antiker und zeitgenössischer Lesekultur

DieLese-kultur genannten Punkte gehen sodann in hermeneutischer Hinsicht mit der emphatischen Aufforderung einher, dass die grundsätzlichen Unterschiede zwischen der modernen und der antiken LesepraxisLese-praxis in Rechnung zu stellen seien. Damit eng verbunden sind die Vorwürfe gegenüber der Minderheitenposition, sie würden die moderne Art zu Lesen in die Verhältnisse der Antike projizieren bzw. sie nutzten Erkenntnisse und Modelle des Lesens, die an eben der modernen Lesepraxis gewonnen seien und ihre Passfähigkeit für die antike Situation nicht nachgewiesen worden bzw. fraglich seien.1 Es ist natürlich nicht zu bestreiten, dass die Suche nach Alteritäten eine zentrale Aufgabe der altertumswissenschaftlichen Forschung ist. Das bloße Postulat von Alterität darf jedoch nicht zum Beleg für eine bestimmte Sicht der antiken Gegebenheiten werden. So ist zunächst vor allem in analytischer Hinsicht auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass durchaus auch Parallelen bzw. Kontinuitäten zwischen der Lesepraxis in der Moderne und in der Antike festzustellen sein könnten, seien sie anthropologisch oder auch kulturell bedingt.

1.3.5 Die Frage nach der „Oralität“ antiker Gesellschaften

Verknüpft ist dieses Alteritätspostulat sodann in produktionsorientierter Perspektive sehr häufig mit der Betonung der großen Bedeutung von „OralitätMündlichkeit“ für die antike Textkultur und insbesondere mit der Emphase, dass PublikationPublikation/Veröffentlichung in der Antike in erster Linie bedeute, dass ein Text erstmals „laut“Lautstärkelaut vorgelesen und damit in den Umlauf gebracht worden sei (entweder über AbschriftAbschrift des Vortrages oder über das ManuskriptHandschrift/Manuskript, das der AutorAutor/Verfasser aus seinen Händen gibt).1 Es ist erstaunlich, dass vor allem letzteres Postulat zumeist mit nur sehr selektivenUmfangselektiv Belegen aus den Quellen untersetzt wird und die Forschungen zum antiken BuchmarktBuch-handel gänzlich ignoriert bzw. die Evidenzen in den Quellen marginalisiert2 werden.

Die genannten Einzelaspekte haben dazu geführt, dass „ein Netz einander stützender und ergänzender Informationen geknüpft [worden ist], das [nicht nur] die Vorstellung vom lautenLautstärkelaut Lesen als vermeintlich sicheres Wissen von den Zuständen in der Antike verbuchen läßt“3, sondern auch bezüglich der anderen Punkte dieses Netzes:

 die antike Schrift als Abbild des Gesprochenen;

 die Schwierigkeiten der visuellenvisuell Dekodierung von scriptio continuaSchriftscriptio continua;

 ein relativ geringer Grad an LiteralitätLiteralität/Illiteralität; die grundsätzliche Alterität der antiken LesepraxisLese-praxis; die große Bedeutung von OralitätMündlichkeit für die Produktion und PublikationPublikation/Veröffentlichung von antiken Texten;

 und in Bezug auf die neutestamentlichen Texte: die mündliche Tradierung, welche den „mündlichen“ Charakter der Texte geprägt habe.

Das in diesem Netz erkennbare Grundnarrativ ist variantenreich auch in den Forschungsdiskurs über die Produktion und Rezeption von Literatur im frühen ChristentumChristentum eingeflossen und fungiert in Form von scheinbar gesichertem und nicht mehr zu hinterfragendem Wissen für eine Vielzahl von Forschungsfragen als hermeneutischer Rahmen. Exemplarisch war dieses Grundnarrativ in den Publikationen der Vertreterinnen und Vertreter des sog. Biblical Performance CriticismBiblical Performance Criticism zu sehenSehen (s. o. 1.1.2). An dieser Stelle sei auf Stimmen in der klassisch-philologischen Forschung verwiesen, welche die Betonung der Bedeutung von OralitätMündlichkeit für die antike Literatur bzw. die generalisierende These einer oral culture und die These mündlicher Tradierung von Literatur in der klassisch-philologischen Forschung mit guten Argumenten in Frage gestellt haben und eine klarere Differenzierung verschiedener Phänomene fordern, die gängiger Weise unter dem Label „oral“ subsumiert werden.4 Da das antike Konzept von PublikationPublikation/Veröffentlichung für die vorliegende Studie von einiger Relevanz ist, wird das antike Publikationswesen und seine Relation zum mündlichen Vortrag und zur Frage nach dem LesepublikumLese-publikum unter 5 zu besprechen sein.

1.3.6 Engführung der Forschung auf die Fragen nach einem vermeintlichen „Normalmodus“ des Lesens in der Antike und auf reading communities

Blickt man nun noch einmal zurück auf die lang und umfassend diskutierte Frage nach dem „lautenLautstärkelaut“ und „leisenLautstärkeleise“ Lesen, das die Debatte im 20. Jh. um das Lesen in der Antike maßgeblich geprägt und dadurch eine sehr eigenwillige Dynamik des Forschungsdiskurses befördert hat, so ergibt sich aus den bisherigen Ausführungen, dass man eigentlich eine viel zu eng geführte Frage nach einem vermeintlichen „Normalmodus“ diskutiert hat. Deshalb bekommt man nach über 100 Jahren den Eindruck, dass sich die Diskutanten im Kreis gedreht haben. Die einseitige Fokussierung auf diese eine Unterscheidung hat dazu geführt, dass man viele andere Facetten der komplexen Kulturtechnik des Lesens weitgehend unberücksichtigt gelassen oder nur am Rande erforscht hat. Insbesondere die lexikologische Konzentration auf einige Hauptbegriffe des Lesens,1 die noch dazu nur im Hinblick auf die zu eng geführte Forschungsfrage ausgewertet wurden, und das Fehlen einer systematischen Erfassung antiker Leseterminologie wiegt schwer. Dies wiederum hat gewichtige Implikationen für die weiterführenden Oralitätshypothesen, die maßgeblich auch auf der vermeintlich eindeutigen Antwort des Normalmodus der „lauten“ Lektüre basieren.

Auf die Defizite der Fragestellung weisen auch schon die klassischen Philologen H. Krasser und W. A. Johnson hin; beide beurteilen die Debatte sehr kritisch.2 Allerdings kommen sie bezüglich des ähnlichen Untersuchungsgegenstandes zu divergenten Ergebnissen. Krasser untersucht in seiner unpublizierten Habilitationsschrift die Darstellungen von LeseszenenLese-szene, die literarische Reflexion von Lesern, LesepraktikenLese-praxis und -techniken sowie literarische Wahrnehmungsgewohnheiten in Rom zwischen dem ausgehenden 1. Jh. v. Chr. und dem 2. Jh. n. Chr. Dabei kann er zeigen, dass sich in der Kaiserzeit (erstmals fassbar bei OvidOvidius, P. Naso) ein größer werdender literarischer Markt etablierte, der mit veränderten Distributionsformen, mit einem Bedeutungsgewinn des Buchhandels sowie mit einer großen Steigerung des Angebots und der Verfügbarkeit von LesestoffenLese-stoff einherging. Krasser stellt u. a. „eine Entfremdung zwischen AutorAutor/Verfasser und LeserLeser“3 fest, die sich z.B. darin zeigt, dass Autoren über unterschiedliche Leseerwartungen reflektierten und sich an ein anonymes und breites LesepublikumLese-publikum richten.4 Dabei ist zu erkennen, dass sich publizierte Literatur – anders als noch im Rom in der Zeit der späten Republik, die er allerdings auch schon als Umbruchssituation beschreibt5 – an einen breiteren Leserkreis richtete, der weit über den Kreis der ElitenElite hinausreichte.6 Krasser zweifelt darüber hinaus überzeugend die „ausschließliche Dominanz des Ohrs bei der Rezeption von Literatur“7 an und zeigt einerseits differenziert die Leseanlässe auf, die im kaiserzeitlichen Rom mit stimmlicherStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung einhergegangen sind (v. a. die recitatiorecitatio (s. auch Publikation/Veröffentlichung) durch Autoren als Bestandteil des Redaktionsprozesses; UnterhaltungUnterhaltung beim MahlGemeinschaftsmahl; die Nutzung eines VorlesersVorleser im privatenÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat Kontext; das kunstvolle VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt vor PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum); die Realisierung des Textes als ästhetischesästhetischer Genuss/Vergnügen Klangerlebnis bei der individuellen Lektüre; als gesundheitsförderliche Tätigkeit im Rahmen der antiken Diätetik).8 Andererseits stellt er heraus, dass „vor allem im Bereich der vornehmlich intellektuell orientierten LeseakteLese-akt die leiseLautstärkeleise Lektüre aller Wahrscheinlichkeit nach sogar die Regel war.“9 Zuletzt präsentiert er erste Ansätze zur Systematisierung unterschiedlicher Lektüreformen,10 die unten wieder aufgenommen wird, und untersucht, welche Tageszeiten im kaiserzeitlichen Rom (im Ideal und in der Wirklichkeit) zum Lesen genutzt wurden und inwiefern das Alter eines Menschen nach seinem Berufsleben als Lesezeit galt. Dabei kann er eine enge Verbindung der intellektuellen Lektüre mit der Nachtarbeit (lucubratiolucubratio) aufzeigen.11

Johnsons Arbeiten hingegen prägen einen neuen, kultur- und sozialgeschichtlichenSozialgeschichte Ansatz in der Erforschung des Lesens in der Antike, der analog zu ähnlichen Paradigmenwechseln in der historischen LeseforschungLese-forschung12 primär an der Kultur der LeserLeser bzw. in differenzierender Perspektive an unterschiedlichen Leserkulturen und weniger an Fragen der Lesetechnik und der Wahrnehmung des Lese- und Verstehensprozesses interessiert ist.13 Johnson fokussiert demgegenüber vor allem auf die Kultur des Lesens als „ElitenphänomenElite“ in der Römischen Kaiserzeit. So richtig sein Ausgangspunkt ist, dass einzelne LeseszenenLese-szene immer in Relation zu einem spezifischen soziokulturellen Kontext stehen und generalisierende Aussagen über „das“ Lesen in der Antike dies zu berücksichtigen haben, und so hilfreich sein Modell der Konstruktion einzelner reading communities für soziologische Fragen bezüglich des Lesens auch sein mögen,14 einige Schlussfolgerungen Johnsons sind zu hinterfragen.15 Insbesondere die Fokussierung auf performative Vorleseszenen und der weitgehende Verzicht auf Fragen nach der physiologischen Dimension des Lesens bzw. auf Fragen nach der Reflexion kognitiverkognitiv Prozesse beim Lesen sind m. E. problematisch.

 

Es ist hier nicht möglich, die theoretischen Überlegungen Johnsons, seine Quellenauswertungen und seine vielfältigen Schlussfolgerungen im Einzelnen zu diskutieren und die vielen wichtigen Einzeleinsichten sowie sein Paradigma sozialer und ideologischer Konstruiertheit des Phänomens Lesen zu würdigen, möglich sind nur einige generelle Beobachtungen: Auch wenn Johnson weder die Möglichkeit stiller Lektüre noch die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre im kaiserzeitlichen Rom negiert,16 so spricht er dennoch von einer quantitativen Dominanz des performativen VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt in Zirkeln der elitären römischen OberschichtElite,17 was er als grundsätzlichen qualitativen Unterschied zur eigenen modernen Kultur markiert.18 Es ist allerdings – und das gilt gleichermaßen für die unter 1.1.2 und 1.1.3 skizzierten Ansätze – vor dem methodischen Fehlschluss zu warnen, dies aus einer (im Übrigen noch zu beweisenden) quantitativen Übermacht von literarischen Darstellungen von Vorleseszenen in Gruppen bei bestimmten kaiserzeitlichen AutorenAutor/Verfasser bzw. in der antiken Literatur zu schließen. Denn performative oder gemeinschaftliche LeseszenenLese-szene in der Literatur sind z.B. institutionell verankert (GerichtGericht, politische Versammlung o. ä.) oder im Zusammenhang mit dem Darstellungsinteresse der jeweiligen Autoren zu sehenSehen: Soziale Konflikte, Diskussionen usw. im Kontext gemeinschaftlicher Lektüre sind mutmaßlich deutlich interessanter darzustellen und zu lesen als individuell-direkte Lektüren. Individuell-direkte Lektüre ist für den Beobachter von außen zumeist gar nicht zugänglich oder muss, wenn sie doch beobachtet werden kann, z.B., wenn jemand individuell in der ÖffentlichkeitÖffentlichkeit liest, relativ gleichförmig unspektakulär erscheinen.

Neben dem undefinierten Gebrauch des Elitenbegriffs basieren Johnsons Schlussfolgerungen zum Lesen in der Kaiserzeit als ElitenphänomenElite19 a) auf den zu hinterfragenden quantitativen Schätzungen von Harris zur geringen LiteralitätLiteralität/Illiteralität in antiken Gesellschaften,20 b) auf einer Skepsis in der neueren Forschung gegenüber der älteren Forschung zum antiken Buchhandels- und Publikationswesens, die demgegenüber privateÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat ZirkulationsmechanismenZirkulation postuliert,21 c) auf nicht näher belegter Schätzung des hohen Preises für antike BücherBuch22 und d) auf einem Cognitive Model for Ancient Reading, das nicht aus den Quellen (d. h. aus Leseprozessen beschreibenden oder reflektierenden Texten) deduziert wurde, sondern allein aus hypothetischen Annahmen bezüglich der physischen Gestalt antiker Manuskripte (insb. Rollenform, scriptio continuaSchriftscriptio continua und Zeilenbreite) gewonnen wurde.23 Nicht zuletzt die relativ konträren Ergebnisse von Krasser und Johnson zeigen, dass die Forschungsdiskussion zum Lesen in der Antike jenseits der alten Frage nach dem „lautenLautstärkelaut“ und „leisenLautstärkeleise“ Lesen gerade erst angefangen hat und wichtige Grundlagen noch aufzuarbeiten sind.24

Auf einer Metaebene zeigt sich an der Diskussion um das „lauteLautstärkelaut“ und „leiseLautstärkeleise“ Lesen – besonders an der mehrfachen „Erfindung“ des „leisen“ Lesens in der Geschichte – eine Einsicht, die in der historischen LeseforschungLese-forschung schon von anderen gemacht worden ist – nämlich, „[d]aß die Geschichte des Lesens im Blick auf die Modalitäten der Lektüre nicht eine lineare Geschichte ergibt.“25 Dies gilt nicht nur für das Paradigma der Entwicklung vom „lauten“ zum „leisen“ Lesen, sondern z.B. auch für ein anders klassisches Paradigma, nämlich der Entwicklung von statarischer zu kursorischer Lektüre im 18. Jh.26 Gegen ein solches idealisiertes Entwicklungsparadigma sprechen frühneuzeitliche Quellen, „in denen Lesetechniken zur schnellenLese-geschwindigkeit und effektiven Wissensaneignung propagiert werden.“27 Im Rahmen dieser Arbeit wird zu zeigen sein, dass auch in der Antike schon Lektüretechniken angewandt worden sind, die traditionell (und m. E. zu undifferenziert; vgl. dazu 1.5) als „kursorisch“ bezeichnet werden. Anhand der Modalitäten des Lesens lässt sich also definitiv keine globale, vermutlich aber auch nur schwer eine auf einen bestimmten kulturellen Raum wie der griechisch-römischen Welt beschränkte, lineare Geschichte schreibenSchreiben. Die Modalitäten des Lesens sind im Wesentlichen zunächst als prinzipiell anzusehen, müssen also für jedes SchriftsystemSchrift-system und jede Schrift- und LesekulturLese-kultur als analytische Möglichkeit zunächst in Betracht gezogen werden. Ob sie jeweils im vollen Umgang realisiert werden, hängt von ganz verschiedenen Faktoren ab; d. h. die Modalitäten des Lesens in spezifischen kulturhistorischen Räumen sind jeweils einzeln anhand der Quellen zu untersuchen.

1.4 Fragestellung, methodischer Ansatz und Vorgehen

„Erforschung der MetaphernMetapher hält inne im Vorfeld der Einsichten, um den Ansichten ihr Recht widerfahren zu lassen.“1

Das Ziel dieser Studie ist es, genauer als bisher zu konturieren, wie die neutestamentlichen Texte in ihrem unmittelbaren Entstehungskontext und im Rahmen der frühen Rezeptionsgeschichte gelesen bzw. für welche Leseanlässe sie konzipiert worden sind. Dabei wird die skizzierte, weitgehend monosituative Verortung frühchristlicher LesepraxisLese-praxis in gottesdienstlichenGottesdienst Versammlungskontexten (oder performativen Lesungen in Gruppen) zur Diskussion gestellt. Es wird dabei angesichts der notorischen und der Sache inhärenten Schwierigkeiten, den Lesebegriff exakt und eng zu definieren,2 und, um das heuristischeHeuristik Raster nicht unnötig einzuengen, bewusst auf einen solchen der Untersuchung vorausgehenden Definitionsversuch verzichtet. Die Komplexität des Phänomens Lesen und seine Multidimensionalität (physiologisch, kognitionspsychologischKognitionswissenschaften, neurologisch, semiotisch, kulturell, [kultur]historisch, sozial, politisch, medien- und kommunikationstheoretisch, usw.) kommt treffend bei U. Saxer zum Ausdruck, der Lesen, anknüpfend an M. Mauss, als Totalphänomen beschreibt.3 Unter dem Stichwort „Lesen“ werden in dieser Studie im Rahmen eines breiten Verständnisses in den Quellen sichtbare Formen der InteraktionInteraktion mit (geschriebenen) Texten untersucht,4 wobei nicht der Anspruch erhoben wird, die Multidimensionalität im historischen Kontext der Antike auch nur annähernd vollständigUmfangvollständig zu beschreiben. Um der analytischen Genauigkeit willen wird jedoch, wenn Texte in Gruppen oder von Individuen nicht direkt über das AugeAugen, sondern über das OhrOhr rezipiert werden, von indirekter Rezeption gesprochen (s. u. 1.5). Zudem ist bei der Analyse antiker Quellen auch in Betracht zu ziehen, dass Lexeme, die an anderer Stelle das Phänomen „Lesen“ referenzieren, theoretisch auch bezeichnen kann, dass jemand etwas AuswendiggelerntesAuswendiglernen „vorliest“, ohne dabei ein SchriftmediumLese-medium zu konsultieren. Um eine solche Praxis zu belegen, müssten allerdings klare Textsignale vorliegen. Und – so viel ist vorwegzunehmen – der Beleg einer weiten Verbreitung eines solchen Konzepts fällt für die griechisch-römische Antike schwer.5

Doch wie kann man Lesen in historischer Dimension beobachten, um die skizzierten Verkürzungen der bisherigen Forschung zu überwinden? Während die moderne LeseforschungLese-forschung empirisch arbeiten kann, ist die Untersuchung vergangener Lesekulturen auf die geschichtswissenschaftliche Auswertung von Quellen angewiesen. R. Darnton hat in einem programmatischen Aufsatz (erstmals 1986 erschienen) als Ordnung für eine historische Untersuchung des Lesens die Fragen nach dem Wer, Was, Wo, Wann, Warum und Wie vorgeschlagen, wobei er konstatiert, dass es für die ersten vier Fragen, die sich auf die „externe Geschichte des Lesens“6 bezögen, schon zahlreiche Antworten gäbe, das „Warum“ und „Wie“ des Lesens, also der LeseaktLese-akt selbst und seine Wahrnehmung und Reflexion durch antike LeserLeser, aber noch weitgehend unerforscht sei.7 Darnton schlägt daraufhin fünf Wege vor, um das „Wie“ des Lesens zu untersuchen: 1) Die Analyse von zeitgenössischen Darstellungen des Lesens in Fiktion, Autobiographien, Bildern etc.; 2) Die Untersuchung der „Art und Weise, wie das Lesen erlernt wurde“ bzw. die Untersuchung von LiteralitätLiteralität/Illiteralität (auch unabhängig von der Schreibfähigkeit); 3) historische Zeugnisse des Leseaktes in Form von Marginalnotizen; 4) rezeptionsästhetischeRezeptionsästhetik Ansätze; 5) Die Untersuchung von physischen Büchern und deren Typographie.8

Dieser programmatische Ansatz weist eine Lücke auf. Und zwar besteht ein großes, bisher von der historischen LeseforschungLese-forschung ungenutztes Potential darin, die Sprache selbst, mit der über das Lesen kommuniziert und reflektiert wird, zu untersuchen. An dieser Stelle setzt die vorliegende Studie an. Für die antike griechisch-römische Welt ist dieser Ansatz nicht zuletzt deshalb vielversprechend, weil die Quellensituation insbesondere auf die von Darnton genannten Aspekte 2, 3 und 5 sowie für die Rekonstruktion einer „externen Geschichte des Lesen“ sehr viel schlechter ist als für die Zeit seit der frühen Neuzeit,9 auf welche sich die historische Leseforschung maßgeblich bezieht.

Der Ansatz der Studie besteht darin, zunächst die Leseterminologie im Griechischen zu untersuchen, mit Seitenblicken auf das Lateinische und später auf das Hebräische. Es werden also Lexeme, die Lesen entweder direkt benennen oder indirekt charakterisieren, lexikologisch und semantisch zu untersuchen sein. Dabei wird deutlich werden, dass die Leseterminologie im Wesentlichen metaphorischMetapher und metonymischMetonymie konzeptualisiert ist. Entsprechend neuerer metapherntheoretischerMetapher-ntheorie Ansätze, die trotz ihrer Unterschiede in der Beschreibungssprache gemeinsame Linien aufweisen, wird die Metapher hier nicht einfach als rhetorisches Stilmittel bzw. ein Mittel poetischer Sprache aufgefasst. Vielmehr ist die Metapher als das sprachliche Zusammenwirken von zwei Größen zu verstehen, die unterschiedlichen Ordnungssystemen angehören. Die wichtige Einsicht neuerer metapherntheoretischer Ansichten besteht darin, dass durch das dynamische Zusammenwirken der beiden Größen in der Metapher diese etwas beschreiben, das mehr ist als die Summe der beiden Einzelgrößen. Damit nimmt die Metapher eine ganz eigene Perspektive auf das zu Beschreibende ein. Dies wiederum bedeutet im Umkehrschluss, dass sich aus der Analyse von konkreten Metaphern in Relation zum von diesen beschriebenen Referenten Erkenntnisse über diesen generieren lassen (s. u.). Diese beiden Größen, für die in der Forschung sehr unterschiedliche Bezeichnungen zu finden sind, werden in dieser Studie Bildspende- und Bildempfangsbereich genannt. Zudem wird berücksichtigt, dass Metaphern in vielfältigen grammatisch-syntaktischen Formen auftreten können, in einem jeweils spezifischen Verhältnis zu vorgegebenen sprachlichen Konventionen stehen, in ihrer Bedeutung situations- und kontextabhängig sind und in diachroner Hinsicht Wandlungsprozessen unterliegen (beschrieben z.B. als innovative, usuelle, konventionalisierte, lexikalisierte Metaphern).10 Der Unterschied zwischen Metapher und Metonymie wird in dieser Studie folgendermaßen bestimmt: Im Gegensatz zur Metapher ist der Bildspende- und der Bildempfangsbereich im Falle einer Metonymie durch eine Beziehung der Kontiguität charakterisiert, wobei dem VerfasserAutor/Verfasser die Abgrenzungsprobleme von Metapher und Metonymie wohl bewusst sind.11 Im Hinblick auf die Lesemetaphern und -metonymien lässt sich das Kriterium jedoch in analytischer Hinsicht pragmatischPragmatik recht gut anwenden, da sich die Kontiguitätsbeziehung zwischen Lesemetonymie und Lesevorgang in den meisten Fällen recht genau beschreiben lässt (z.B.: „ein BuchBuch durchblättern“ ist eine Lesemetonymie, „ein Buch verschlingen“ ist eine Metapher).

Eine systematische Aufarbeitung der Sprache, der MetaphernMetapher und MetonymienMetonymie, die in der antiken Welt das Lesen konzeptualisiert, ist bisher nicht geleistet worden. Die Erschließung der Lese-Metaphern und ‑Metonymien in der antiken Literatur (aber auch in InschriftenInschriften und dokumentarischen PapyriPapyrus) bietet daher einen bisher nicht genutzten Zugang zur antiken LesekulturLese-kultur. Durch die Untersuchung der Leseterminologie wird eine große Fülle bisher nicht berücksichtigter Daten erschlossen, die als Selbstzeugnisse für den Lesevorgang gelten können. Insofern ist etwa auch das Diktum Bickenbachs nur teilweise richtig, dass Lesen prinzipiell unbeobachtbar sei.12 Lesen ist zwar ein flüchtiger und momentaner Akt, hat aber in der Dokumentation der Selbstwahrnehmung und der Selbstreflexion Spuren in der Sprache hinterlassen. Dem methodischen Ansatz liegt die Einsicht zugrunde, dass Metaphern und Metonymien aus kognitionswissenschaftlicher Sicht eine besondere Bedeutung für die menschliche Wahrnehmung haben.13 Diese Einsichten aus der kognitivenkognitiv Linguistik sind in den Altertumswissenschaften schon für die Erforschung von Emotionen fruchtbar gemacht worden, wie die Arbeiten von D. Cairns zeigen.14 Seine Analysen antiker Emotionskonzepte basieren auf der folgenden Grundannahme:

 

“[P]roperties of emotions […] depend not just on objective processes in the body, the brain, and the world, but on the representation of the phenomenology of such processes in the intersubjective system that is language. […] Though they [i. e. the properties of emotions] exist in the shared and intersubjective system of language.”15

Daher können antike Emotionskonzepte durch die Erschließung und Analyse von MetaphernMetapher, die Emotionen konzeptualisieren, rekonstruiert werden. Um dementsprechend der Selbstwahrnehmung des eigenen Leseprozesses auf die Spur zu kommen, ist also die metaphorisch und metonymischMetonymie konzeptualisierte Leseterminologie zu untersuchen. Die zu erwartende Heterogenität der antiken Beschreibungssprache, in der sich die Selbstwahrnehmung antiker LeserLeser kondensiert hat, reflektiert dabei die Vielfalt antiker LesepraxisLese-praxis, von Lese- und Verstehensgewohnheiten bis hin zu Lesetechniken. In methodischer Hinsicht ist zwischen lexikalisierten Metaphern, bei deren Verwendung die Metaphorizität in den meisten Fällen nicht mehr im Bewusstsein ist, und innovativen Metaphern zu unterscheiden. Das größte Erkenntnispotential im Hinblick auf die Selbstwahrnehmung des Lesens haben freilich innovative Metaphern, da diese mutmaßlich einen spezifischen Aspekt des Lesens betonen wollen. Aber auch die lexikalisierten Metaphern (insbesondere, wenn sie nicht das HauptleseverbHauptleseverb einer Sprache bilden) lassen Rückschlüsse auf die Selbstwahrnehmung antiker Lesepraxis zu, und zwar dann, wenn sie in Relation zu direkten Beschreibungen und Reflexionen antiker Lesepraxis und in Relation zur materiellenMaterialität Dimension antiker Lesepraxis gesetzt werden.

Die Sprache, mit der über das Lesen kommuniziert wird, kann also auch nicht ohne den Bezug zur materiellenMaterialität Dimension antiker LesepraxisLese-praxis untersucht werden. Daher beginnt der erste Hauptteil der Studie (II) mit einem Überblick über die Vielfalt von LesemedienLese-medium in der Antike (2), zu denen die LeseterminiLese-terminus in Relation zu setzen sind. Darauf folgt die Darstellung der Ergebnisse der lexikologischen und semantischen Untersuchung der antiken Beschreibungssprache des Lesens, die entlang der Bildspendebereiche der metaphorischenMetapher und metonymischenMetonymie Konzepte strukturiert ist.

Für die Untersuchung der antiken Leseterminologie selbst, deren Ergebnisse in der vorliegenden Studie dargelegt werden, wurde eine semi-automatisierte HeuristikHeuristik angewandt. Und zwar bestand die Erschließung der Lexeme, Wendungen und Konzepte aus einem Wechselspiel unsystematisch explorierender Zugänge zu den Quellen und der systematischen Anwendung von Methoden der digitalen KorpusanalyseKorpusanalyse/Kookkurrenzanalyse. Das bedeutet, es wurden erstens zunächst zahlreiche Quellen gelesen und LeseterminiLese-terminus identifiziert, sowie zweitens Übersetzungen nach modernen Lesetermini digital durchsucht, um die übersetzten griechischen (und lateinischen) Lexeme und Wendungen zu finden, die „Lesen“ konzeptualisieren. Diese Form der Heuristik wurde ergänzt durch digitale Verfahren der Kookkurrenzanalyse und der Nutzung von Vektorisierungsverfahren zur Suche von Synonymen.16 Kombiniert mit den Lexemen für LesemedienLese-medium konnten mit Hilfe dieser erschlossenen Lesetermini und Wendungen dann durch die proximity search im Thesaurus Linguae Graecae (TLG) und in der Library Latin Texts (LLT) eine große Anzahl von Quellen neu erschlossen werden, in denen Lesen in der Antike thematisiert wird.

Der skizzierte Ansatz hat daher gegenüber Forschungsansätzen, die entweder die LautstärkeLautstärke des Lesens, die materiellenMaterialität Zeugnisse oder Fragen der LiteralitätsrateLiteralität/Illiteralität als „äußere Bedingungen“ des Lesens in der Antike ins Zentrum gerückt haben, den Vorteil, dass das Phänomen Lesen in einer breiteren Perspektive in den Blick kommen kann. Die oben skizzierte Ausgangslage der Forschung hängt mit einem drängenden Desiderat zusammen, nämlich der grundlegenden Erschließung der überhaupt in Betracht kommenden Quellen. Denn die bisherigen Engführungen der Forschung haben dazu geführt, dass die zur Diskussion stehende Quellenbasis viel zu klein ist. Dies zeigt sich symptomatisch daran, dass das Vokabular des Lesens im Griechischen (und Lateinischen) bei weitem nicht vollständigUmfangvollständig erschlossen ist,17 geschweige denn sämtliche Quellen, die in der antiken Literatur auf LeseszenenLese-szene oder Lesen als Kulturtechnik im Allgemeinen verweisen, und die Einträge in den gängigen Lexika (aus nachvollziehbaren Gründen) defizitär sind.18

Vorab ist allerdings schon darauf hinzuweisen: Angesichts der Fülle von Daten ist eine vollständigeUmfangvollständig Erschließung aller Stellen, an der Lesen in den Quellen thematisiert wird, im Rahmen dieser Studie nicht zu leisten. Die Erschließung der Lesetermini zeigt, dass es sich um ein historisches Thema handelt, bei dem einmal nicht über das Fehlen von Quellen geklagt werden muss – vielleicht ein Grund, warum die systematische Untersuchung über die Disziplinengrenzen hinweg bisher nicht realisiert worden ist. Zur Veranschaulichung: Allein für die am weitesten verbreiteten Lexeme, die das Phänomen Lesen im Griechischen beschreiben, ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω und ἐντυγχάνωἐντυγχάνω (hier allerdings nur als eine Bedeutung des Verbes unter vielen), finden sich im TLG für die Zeit vom 8. Jh. v. Chr. bis zum 5. Jh. n. Chr. rund 8800 bzw. 6400 Einträge. Um der Materialfülle zu begegnen, musste daher ein pragmatischerPragmatik Weg gewählt werden. Bei der Analyse habe ich mich darauf beschränkt, so viele Stellen für die jeweiligen Verben zu begutachten, bis sich ein quantitativ relativ valides Bild ergeben hat. Das bedeutet, dass die Suche dann abgebrochen werden konnte, wenn die gefundenen Belegstellen lediglich schon Bekanntes wieder und wieder bestätigten. Für das Verb ἀναγιγνώσκω wurden dazu z.B. weit mehr als 3500 Belegstellen geprüft (die Belegstellen zu den Derivaten von ἀναγιγνώσκω konnten angesichts der deutlich geringeren Anzahl größtenteils vollständig durchgesehen werden). Auch bei der Interpretation der Quellen im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit musste eine exemplarische Auswahl der aussagekräftigsten Stellen getroffen werden. Als aussagekräftige Stellen gelten solche, die differenzierte Aussagen über LesepraktikenLese-praxis im Hinblick auf die unter 1.5 zu entwickelnden Kategorien ermöglichen.

Methodisch ist bezüglich der Interpretation der Quellen Folgendes anzumerken: Es wird davon ausgegangen, dass literarische Texte, in denen LeseszenenLese-szene vorkommen, Weltwissen reflektieren und im Hinblick auf die antike LesekulturLese-kultur ausgewertet werden können, selbst wenn es fiktionale Gehalte sind, die erzählt werden. Diese Voraussetzung gilt auch für die weiteren Hauptkapitel (s. u.) und wird bei der Analyse der jeweiligen Texte nicht mehr im Einzelnen erwähnt.