Lesen in Antike und frühem Christentum

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4.3 Weitere „typographische“1 Gestaltungsmerkmale antiker Handschriften und die Frage nach „Lesehilfen“

Neben der scriptio continuaSchriftscriptio continua weisen antike Hss.Handschrift/Manuskript noch eine ganze Reihe weiterer Merkmale auf, die in Relation zur LesepraxisLese-praxis zu interpretieren sind. Ein Großteil dieser Merkmale – z.B. DiakritikaDiakritika, Interpunktion, Dikola, ParagraphoiParagraphos – werden üblicherweise als „LesehilfenLese-hilfe (reading aid)“ verstanden, wobei implizit an Hilfen für das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt gedacht wird. In diesem Zuge abzuhandeln ist auch die Frage nach der durchschnittlichen Zeilenlänge in literarischen PapyriPapyrus mit Prosa aus der Kaiserzeit, die nach W. A. Johnson in einem Zusammenhang zu konkreten Leseanlässen gestanden hätten: „Bookrolls were not, in gross terms, conceptualized as static repositories of information (or of pleasure), but rather as vehicles for performative reading in high social contexts.“2 Insbesondere in der Forschung zu den neutestamentlichen Papyri werden diese sog. „Lesehilfen“ in den frühen Papyri, die traditionellerweise auf das 2. Jh. datiert werden, als Evidenz dafür herangezogen, dass diese Hss. für die Lesung im „GottesdienstGottesdienst“ geschriebenSchriftGeschriebenes worden wären.3

Interpretationen, die „typographischen“ Merkmale antiker und antik-christlicher Hss.Handschrift/Manuskript in der Summe als Hilfen für das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt interpretieren, stehen in der Gefahr eines Zirkelschlusses, da sie die schwierigere LesbarkeitLesbarkeit der scriptio continuaSchriftscriptio continua a priori voraussetzen.4 Dies ist allerdings angesichts der obigen Ausführungen nicht mehr zu rechtfertigen. Es kommt hinzu, dass zwischen primären und sekundären (daher auch schwer zu datierenden) „LesehilfenLese-hilfe (reading aid)“ zu unterscheiden ist5 – also solchen „typographischen“ Gestaltungsmerkmalen, die in der ursprünglichen Anlage der HandschriftHandschrift/Manuskript vorgesehen waren, und solchen Eintragungen, die Benutzer in die Texte eingetragen haben, die eine Hs. dann für einen Vortrag verwendet haben. In methodischer Hinsicht ist zu formulieren: Nur aus primären „typographischen“ Gestaltungsmerkmalen, die sich eindeutig nur dem Vortragslesen zuordnen ließen, könnte eine sichere Aussage über die primäre Verwendungsweise einer Hs. getroffen werden.

Ein Problem, insbesondere der Debatte um die Merkmale neutestamentlicher PapyriPapyrus, ist die einheitliche Kategorisierung von unterschiedlichen Phänomenen in den Hss.Handschrift/Manuskript als „LesehilfenLese-hilfe (reading aid)“ oder lectional signs, die m. E. getrennt voneinander besprochen werden müssen. Und zwar:

1 Markierungen auf der BuchstabenBuch-stabe- bzw. Wortebene;

2 Markierungen, die eine Bedeutung für die Syntax haben bzw. größere Texteinheiten strukturieren;

3 ParatextParatextuelle Elemente, die insofern von a) und b) zu unterscheiden sind, als es um textliche Elemente (Überschriften, Verfasserangaben, Seitenzahlen etc.) und Verzierungen geht;

4 die Breite der Kolumnen.

Die paratextuellenParatext Elemente c) werden zwar zumeist nicht unter „LesehilfenLese-hilfe (reading aid)“ gezählt, gehören aber in den Kontext der hier zu besprechenden Merkmale der Hss.Handschrift/Manuskript In diesem Zuge müssen auch andere, primär für die visuellevisuell Rezeption gedachte, Elemente wie Nomina sacra u. ä. kurz besprochen werden. Hinzu kommt das Problem, dass m. W. bisher keine umfassende, Handschriften übergreifende und systematische Untersuchung der als „Lesehilfen“ interpretierten Merkmale antiker Hss. existiert. Im Rahmen dieser Studie sind einige exemplarische Beobachtungen zu den frühen PapyriPapyrus (bis zum 3. Jh.) angezeigt, die auch dazu dienen, den Befund der neutestamentlichen Papyri in den Kontext antiker Hss. insgesamt zu stellen. Vorab ist auf ein gravierendes Erschließungsproblem der Forschungsdaten hinzuweisen.6 So werden insbesondere diakritischeDiakritika Zeichen und WortzwischenräumeWort-zwischenraum in den EditionenEdition von HandschriftenHandschrift/Manuskript nicht konsequent erfasst.7 In analogen Transkripten werden sowohl WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) als auch diakritische Zeichen (gemäß den späteren grammatischen Regeln) hinzugefügt. Auch in digitalen Transkripten werden Informationen über diese Aspekte nicht konsequent in die Metadaten aufgenommen.

Ein Beispiel dafür sind die digitalen Transkripte, die im Rahmen der Erstellung der Edito Critica maior hergestellt werden. Hier wird in den Richtlinien zur Transkription (von Matthias Piontek und Marie-Luise Lakmann, Version III, 1. November 2013) explizit ausgeschlossen, dass AkzenteAkzent, Spiritus (außer sie seien „das einzige Unterscheidungsmerkmal einer Wort- oder Formvariante“) und TremataTrema mittranskribiert werden. Der Verzicht ist mit dem Erkenntnisinteresse des Projektes, der Rekonstruktion des AusgangstextesAusgangstext, zu erklären, der, so die Annahme, keine diakritischenDiakritika Zeichen gehabt hätte. Darauf wird unten zurückzukommen sein.

ad a) Markierungen auf der Buchstaben- bzw. Wortebene

HierunterBuch-stabe fallen die sog. diakritischenDiakritika Zeichen (das TremaTrema, AkzenteAkzent sowie Spiritus) und aus meiner Sicht auch der ApostrophApostroph. Diese Zeichen sind sowohl in christlichen als auch nicht-christlichen Hss.Handschrift/Manuskript zu finde, aber kommen, so der Stand der Forschung, selten vor und deren Verwendung folget keiner festen Systematik.8 Es gibt mittlerweile einige Studien zu den sogenannten scribal habitsscribal habits, in denen diese Phänomene z. T. berücksichtigt werden. Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar.9

TremataTrema sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen PapyriPapyrus zu finden.10 Schon in 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota (ϊ; ro,1 f; vo,2), die Hurtado als LesehilfeLese-hilfe (reading aid) interpretiert.11 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine DiäreseDiärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet.12 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen13 und frühchristlichen14 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss.15 und findet sich sogar vielfach in InschriftenInschriften.16 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden.17 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29Joh 1,29 in 66 im Vergleich zu 75. In 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf dem initialen Iota von ιδε, obwohl die Trennung von dem vorhergehenden finalen Iota schon durch einen Mittelpunkt gegeben ist (λε-γει·ϊδε), während in 75 an dieser Stelle kein Mittelpunkt steht und das Trema tatsächlich die Funktion hat, die Diärese anzuzeigen. Das gleiche Phänomen lässt sich in Joh 1,36Joh 1,36 sehenSehen (vgl. 66, f. 4, Z. 1818). Diese (auch noch an anderen Stellen zu findende) Redundanz in 66 lässt sich vermutlich dadurch erklären, dass der Schreiber das Trema aus konventionellen Gründen gesetzt oder aus seiner VorlageVorlage übernommen und den Mittelpunkt selbst eingefügt hat.19 Außerdem stellt sich die Frage, inwiefern der Schreiber von 66 Tremata überhaupt als Lesehilfe aufgefasst haben kann, wenn er ein funktionslos gewordenes Trema stehen lässt. Insbesondere die weitgehende Beschränkung auf die Vokale ι und υ macht es zudem sehr unwahrscheinlich, dass das Trema die generelle Funktion hatte, ein neues Wort zu markieren.20 Insgesamt erscheint es mir vor diesem Hintergrund fragwürdig, dass Trema als „lectional sign that guide pronunciation“21 zu kategorisieren und eine eindeutige Verknüpfung zum vokaliserenden Lesen bzw. Vortragslesen (neutestamentlicher Texte im GottesdienstGottesdienst) herzustellen. Denn sollte das Trema tatsächlich als Lesehilfe gedacht gewesen sein, so ist diese auch für einen individuellen LeserLeser hilfreich, und zwar unabhängig davon, ob er vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend liest oder seine innere LesestimmeStimmeinnere (inner reading voice) verwendet. Die griechischen Wörter werden im Folgenden bewusst ohne Berücksichtigung der konventionellen Akzentsetzung geschriebenSchriftGeschriebenes, um den Befund in den HandschriftenHandschrift/Manuskript darstellbar zu machen.

 

AkzenteAkzent und spiritusspiritus sind im Vergleich zum TremaTrema deutlich seltener in den frühen PapyriPapyrus zu finden.22 Es ist aufschlussreich, dass es sich bei den spiritus überwiegend um einen spiritus asper handelt23 (ⱶ) – und zwar wird dieser in vielen Fällen nur dann gesetzt, wenn eine semantische Ambiguität bei einsilbigen Wörtern vermieden werden soll.24 Dies hat eine stichprobenartige Durchsicht der frühen Papyri (2./3. Jh.) ergeben. In der unten stehenden Tabelle finden sich einige Beispiele zur Illustration. Das bedeutet, die Frage der richtigen phonologischenPhonologie Realisierung kann nicht das primäre Interesse der Schreiber gewesen sein. Parallelphänomene lassen sich im Übrigen aus nicht-christlichen Papyri – auch in solchen, die definitiv nicht für den performativen Vortrag bestimmt waren25 – und InschriftenInschriften, die ebenfalls schwerlich zur performativen Lesung bestimmt waren,26 beibringen.


Stellenangabe Befund
Gegenprobe (exemplarisch)
13 (III/IV) P.Oxy. 4 657 ὁυ: Relativpronomen vs. Adverb
15 ([III]/IV) P.Oxy. 7 1008 ἡ: Artikel vs. Partikel (disjunktiv/komparativ o. Adverb) ὡ: Vereindeutigung des Relativpronomens
z.B. vo 9
45 (III) P.Beatty 1 ὁς: Vereindeutigung des Relativpronomens (könnte im Kontext mit ενος verwechselt werden) εἱς: Numeral vs. Präposition εἰς
f. 10vo,6
ἑν: Numeral vs. Präposition εἱς: Numeral vs. Präposition εἰς
f. 6ro 22–24
77 (III) P.Oxy. 64 4405
104 (II) P.Oxy. 64 4404
113 (III) P.Oxy. 66 4497 ὁυ: Relativpronomen vs. Adverb

Zahlreiche spiritusspiritus asper finden sich auch in KodexKodex P.Bodm 7–8 (=72).10–12.13, bei dem es angesichts der eigenartigen Zusammenstellung, die durchaus ein redaktionellesRedaktion/redaktionell Interesse erkennen lässt,31 sowie angesichts des im Vergleich zu anderen Hss.Handschrift/Manuskript eigenwilligen Formats fraglich erscheint, ob es sich um ein ManuskriptHandschrift/Manuskript handelt, das die VorlageVorlage für performative Lesungen gebildet hat. Es finden sich einige Stellen, an denen analog zu den schon angeführten Beispielen, einsilbige Wörter mit einem spiritus asper versehen worden sind.32 Daneben findet sich aber z.B. auch mitten im Kompositum εισὁδος ein spiritus asper (f. 25,3; 2Petr 1,112Petr 1,11), den A. Mugridge als Irregularität interpretiert.33 M. E. erklärt sich der spiritus asper hier aber durch den Zeilenumbruch, der durch das Wort geht (εισὁ-δος) und der möglicherweise auch die Disambiguierung von Vorsilbe und Präposition notwendig erscheinen ließ.

Auch die wenigen AkzenteAkzent,34 die sich in den frühen Hss.Handschrift/Manuskript finden lassen, haben zumeist die Funktion, eine semantische Ambiguität auszuschließen. Auch hier scheint es nicht um die richtige phonologischePhonologie Realisierung zu gehen. In 1 (P.Oxy. 1 1) findet sich vermutlich ein Akut auf einem ή (vo,14 [Mt 1,18Mt 1,18])35 und disambiguiert die Partikel vom Artikel oder Relativpronomen, möglicherweise auch vom folgenden Wort. In 46 (200–225; P.Beatty 2) zeigt der Akut auf πέρας (f. 26vo,7 [Hebr 6,16Hebr 6,16]) möglicherweise den Unterschied des Nom. Sg. ntr. vom Dat. Pl. fem. von πέρα bzw. von Formen des Verbes περάω in der 2. Pers. Sg. an.36 Der Akut in 66 (P.Bodm. II) f. 101.8 (Joh 13,29Joh 13,29) hilft potentiell -δοκουν vom PartizipPartizip von δοκοω zu disambiguieren. Es könnte hier im speziellen Fall als notwendig erachtet worden sein, weil das Augment in der vorhergehenden Zeile geschriebenSchriftGeschriebenes ist.

Besonders aufschlussreich ist die Verwendung des ApostrophApostroph in den neutestamentlichen Hss.Handschrift/Manuskript Der Apostroph wird dort analog zu antiken Hss. insgesamt37 sowie zum inschriftlichenInschriften Befund38 vor allem als Auslassungszeichen verwendet.39 Die Funktion erschließt sich, berücksichtigt man, dass die parafovealeparafoveal preview WorterkennungWort-erkennung in der scriptio continuaSchriftscriptio continua vor allem durch Buchstabenkombinationen am Anfang und vor allem am Ende der Worte geleitet wird (s. o. 4.1). Fällt nun ein BuchstabeBuch-stabe aus lautlichen Gründen aus, wird dies markiert, um die gewohnte Worterkennung zu gewährleisten. Dadurch lässt sich auch die in ihrer Funktion für die Forschung z. T. nicht direkt erschließbare, in den frühen Hss. sehr regelmäßig zu findende40 Apostrophierung von indeklinablen semitischen Namen in den neutestamentlichen PapyriPapyrus erklären,41 die wegen der fehlenden Passung in das griechische Endungssystem ebenfalls sehr häufig mit einem Apostroph markiert werden.42 Die Praxis, fremdsprachliche Wörter mit einem Apostroph zu kennzeichnen, findet sich auch vielfach in dokumentarischen Papyri.43 Auch beim Apostroph handelt es sich also nicht um eine Vorlesehilfe und auch nicht um ein Zeichen, das zu „clarity of pronunciation in the public readingpublic reading“44 beitrüge – dagegen spricht auch der statistische Befund.45 Der Apostroph ist vielmehr eine Worterkennungshilfe, welche die parafoveale Wahrnehmung des Textes sowohl beim Vortragslesen, aber v.a. bei verschiedenen Modi des (nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend) individuellen Lesens unterstützen kann.

Aus dem Vorkommen von TremataTrema, Akzenten, Spiritus und ApostrophenApostroph in einer Hs. kann also nicht auf ihren primären Verwendungskontext geschlossen werden.46 Dieses Ergebnis wird dadurch gestützt, dass sich diese Merkmale auch in nicht-christlichen Hss.Handschrift/Manuskript finden lassen, die eindeutig zu Studienzwecken verwendet worden sind – Grammatiklehrbücher,47 Manuskripte mit Kommentartexten,48 oder mit kommentierenden Annotationen (zumeist am Rand, aber z. T. auch interlinear).49 Noch eindrücklicher sind Belege von diakritischenDiakritika Zeichen in listenartigen50 oder anderen dokumentarischen PapyriPapyrus51 sowie in InschriftenInschriften,52 bei denen eine performative Lesung auch nicht anzunehmen ist. Ältere Studien deuten zudem darauf hin, dass die Zeichen in den nicht-christlichen Hss. ebenfalls in der Mehrzahl semantische Ambiguität vereindeutigen.

 

So kommt B. Laum in seiner einschlägigen Studie53 zum alexandrinischen Akzentuationssytem, in der er neben den Homerscholien zahlreiche PapyriPapyrus auswertet, zu dem Ergebnis: „Die LesezeichenLese-zeichen dienen dazu, bei Wörtern bzw. BuchstabenBuch-stabe- und Wortverbindungen, die verschieden gedeutet werden können, dem LeserLeser die richtige Auffassung klar zu machen. Das Zeichen für den Hauchlaut bzw. Psilose ist vornehmlich auf Wörtern gesetzt, die je nach dem Spiritus eine andere Bedeutung hatten […]. Das Quantitätszeichen dient in gleicher Weise der Unterscheidung von Vokalen oder Vokalverbindungen, die gleichgeschrieben waren, aber je nach Quantität Verschiedenes bedeuteten […]. Der Charakter als Unterscheidungszeichen tritt besonders bei der Akzentsetzung deutlich hervor. Vor allem werden jene Wörter, die in der Buchstabenzusammensetzung gleich sind, aber je nach der Bedeutung verschieden betont werden können, mit dem zukommenden AkzentAkzent versehen. […] Sodann hat der Gravis auch den Zweck gehabt, bei Textstellen, wo wegen der scriptio continuaSchriftscriptio continua Trennungen bzw. Zusammenfassungen von einzelnen Buchstaben bzw. Buchstabengruppen umstritten waren, dem Leser die richtige Auffassung zu verdeutlichen. Die frühen Alexandriner scheinen in solchen Fällen mit Vorliebe Akzente als Mittel der Unterscheidung angewendet zu haben (man hat, um die Verdeutlichung zu erreichen, sich nicht gescheut, gegen die Akzentregeln zu verstoßen, hat Doppelakzente gesetzt, Akzente vertauscht oder verrückt) […]. Alle Zeichen (Akzente, Spiritus, Quantitäten und Diastolai) dienen also dem Zwecke, an mehrdeutigen Stellen dem Leser die richtige Auffassung kenntlich zu machen. Diese Tatsache tritt sowohl aus der Interpretation der Homerscholien wie aus der prosodischen Praxis in den Papyri deutlich hervor.“54

Inwiefern dieser Befund auch den seit den 1920er Jahren erheblich gewachsenen Bestand an edierten PapyriPapyrus halten lässt, müsste eingehender untersucht werden. Eine dafür notwendige, sehr umfangreiche, vergleichende Untersuchung, die außerdem auch noch den inschriftlichenInschriften Befund miteinbezieht, kann im Rahmen dieser Studie jedoch nicht geleistet werden.55 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass schon Aristoteles die Praxis reflektiert, dass im Schriftlichen diakritischeDiakritika Zeichen gesetzt werden, um Ambiguitäten zu vereindeutigen.56 Bei Ps.-ArcadiosPseudo-Arcadios – es gibt gute Gründe, Theodosios von Alexandria als VerfasserAutor/Verfasser zu vermuten,57 – findet sich im Kontext der Beschreibung der Funktionsbezeichnung der diakritischen Zeichen die Formulierung, dass „die Längen, AkzenteAkzent und Hauche – von Aristophanes geformt – entstanden sind für die Unterscheidung zweideutiger Wörter (πρός τε διαστολὴν τῆς ἀμφιβόλου λέξεως)“58. Dies entspricht exakt der hier diskutierten Funktionsbestimmung.

Auch viele der Beispiele für einen spiritusspiritus asper in dokumentarischen PapyriPapyrus, die R. Ast jüngst aufführt, „are clearly used in order to avoid ambiguity“.59 So handelt es sich auch dort zumeist um die „kleinen Wörter“, die mit einem spiritus asper versehen werden, wie in seiner Zusammenfassung des Befundes deutlich wird.

„While one might expect that spiritusspiritus asper would be used to alert the reader to cases of aspiration in rare or unusal words, quite the opposite is actually the case. By far the most common terms that are aspirated are relative pronouns (e.g. ὅς, οὗ, ὅν, ὧν, οἷς, οὕς, ἧς, ἥν, ἅ) […]. In addition, articles (ὁ, ἡ, οἱ), adverbs such as ὡς, and cardinal numbers, especially ἑν and on a couple of occasions ἕξ, can bear a rough breathing mark. [In Anm. 38 ergänzt er dann noch:] As an aside, I note that in Attic Greek inscriptionsInschriften, too, the same types of words tend to be marked with the spiritus asper.“60

Diese „kleinen Wörter“ wären ohne spiritusspiritus asper nicht nur in vielen Fällen ambigue, sondern viele von ihnen können auch leicht mit Endungen verwechselt werden, was wiederum die WorterkennungWort-erkennung erschwert. Denn, wie oben zu sehenSehen war und worauf schon bezüglich des Gebrauchs des ApostrophsApostroph bei fremdsprachlichen Termini hingewiesen wurde, wird die parafovealeparafoveal preview Worterkennung in der scriptio continuaSchriftscriptio continua vor allem durch Buchstabenkombinationen am Anfang und vor allem am Ende der Worte geleitet (s. o. 4.1).

ad b) Markierungen, die eine Bedeutung für die Syntax haben bzw. größere Texteinheiten strukturieren

In den frühen neutestamentlichen PapyriPapyrus finden sich verschiedene Merkmale, welche dazu dienen, die Texte zu strukturieren, wobei erstens kein einheitliches und durchgängiges System zu finden ist und zweitens der Textbestand bei zahlreichen Papyri zu fragmentarisch ist, um eine statistisch valide Aussage zu treffen.

WortzwischenräumeWort-zwischenraum (Spatien) und Interpunktion: Schon im mutmaßlich ältesten PapyrusPapyrus mit Texten aus dem NT, 52, finden sich Wortzwischenräume (ro., Z. 2: ουδενα|ινα; re., Z. 3 [ει]πεν|σημαινων; vs., Z. 2 [κοσ]μον|ινα), die L. Hurtado als „LesehilfenLese-hilfe (reading aid)“ interpretiert, die Sinneinheiten voneinander abtrennten.61 Auch wenn er im Anschluss an ROBERTS, 1936, 226f, Parallelen anführt (P.Ryl. 3 458; P.Egerton 2), an denen Wortzwischenräume möglicherweise Sinnabschnitte markieren, so ist die Stichprobe in 52 zu gering und zu disparat, um sichere Schlussfolgerungen zu ziehen. So ist etwa der Abstand zwischen ουδενα und ινα genauso groß wie der Abstand zwischen dem ι- und den beiden darauffolgenden BuchstabenBuch-stabe -να innerhalb von ινα: ουδενα|ι|να. Zudem ist im Übergang von Joh 18,32Joh 18,32 f zu 33 gerade kein Wortzwischenraum zu erkennen, obwohl ein neuer Hauptsatz beginnt, der eine deutlichere Zäsur zum Ausdruck bringt als die von Hurtado angeführten Beispiele. Interessant sind sodann die markanten Wortzwischenräume vor Relativpronomina in 104 (II, ro 3.5), die als Hilfe für die WorterkennungWort-erkennung der „kleinen Worte“ gedacht gewesen sein könnten, die in der scriptio continuaSchriftscriptio continua tendenziell etwas schwieriger zu identifizieren gewesen sein müssen, da sie leicht mit Endungen verwechselt werden können.62 Dennoch bleibt das methodische Problem bestehen, das die Untersuchung aller Wortzwischenräume in den frühen Papyri betrifft – nämlich intentionale und versehentliche Wortzwischenräume v. a. angesichts der geringen Stichprobe sauber voneinander zu unterscheiden.63 Einige neutestamentliche Papyri mit größerem Textbestand bieten mehr MaterialMaterialität für die Analyse des Gebrauchs von Wortzwischenräumen, wobei weder die Forschungsdaten vollständigUmfangvollständig digital erschlossen sind noch eine systematisch vergleichende Untersuchung vorliegt. Einzelne Texte sind allerdings in letzter Zeit untersucht worden. So hat E. B. Ebojo die Wortzwischenräume im Hebräerbrief von 46 (P.Beatty 2/P. Mich. inv. 6238) systematisch untersucht.64 Er kommt zu dem Ergebnis, dass a) „space-intervals, enough for one or more letters, occur before (almost always) and after (always) a nomen sacrumnomina sacra“65, dass b) die meisten ZitateZitat aus dem ATAT/HB/LXX durch Wortzwischenräume markiert werden,66 und dass c) Wortzwischenräume die Funktion von Interpunktion übernehmen, um Sinneinheiten bzw. syntaktische Gefüge zu markieren.67 Daneben finden sich dann auch schon in den Papyri Belege für die (gelegentliche) Interpunktion mit Doppelpunkten oder Punkten, die entweder oben, in der Mitte oder unten gesetzt werden.68 Auch eine vergleichende Untersuchung, die versucht, Muster bzw. Funktion der Interpunktion in den frühen Papyri zu erschließen, ist m. W. ein Desiderat.

EkthesisEkthesis und ParagraphosParagraphos: Allein aus der einen Hs. ist der Befund eines nach links ausgerückten Alphas in Mt 26,31Mt 26,31 in 64 nicht eindeutig, den L. Hurtados als Ekthesis interpretiert.69 So ist zunächst fraglich, ob aus den vier erhaltenen Zeilen eines linken Randes eine solche Schlussfolgerung gezogen werden kann. Zudem gehört das ausgerückte Alpha zum dritten Wort der Sinneinheit und steht mitten im Satz. Dies merkt auch Hurtado und argumentiert, dass der Schreiber die erste volle Zeile des neuen Abschnitts markiert. Er selbst führt hierfür keine exakten Parallelbeispiele an,70 diese lassen sich aber beibringen. Ebenfalls zu fragmentarisch bleibt der Befund in 90.71 Eindeutig strukturierende Funktion haben mehrere Ektheseis aber in 4, 64/67 (ursprünglich vermutlich aus einem KodexKodex), wie S. Porter herausgearbeitet hat.72 Die strukturierende Funktion der Ektheseis zeigt sich darin, dass sie in den meisten Fällen durch eine Paragraphos (ein horizontaler Strich) ergänzt werden und an Textstellen stehen, die sich auf Grund von Textsignalen als Einschnitte interpretieren lassen (vgl. v. a. Lk 1,76Lk 1,76.80Lk 1,80; 2,1Lk 2,1; 3,18Lk 3,18 f.21Lk 3,21.23Lk 3,23; 5,36Lk 5,36; 6,1Lk 6,1.6Lk 6,6.12Lk 6,12; Mt 5,21Mt 5,21.27Mt 5,27; 26,31Mt 26,31). Besonders aufschlussreich sind die Ektheseis in Lk 1,76Lk 1,76 (f. 1vo, col. 1,9 f: και|συ) und 6,12Lk 6,12 (f. 4 vo, col. 2,9 f: ε̣[γ]ε̣-|ν̣ετ̣ο̣), da jeweils nicht der erste BuchstabeBuch-stabe ausgerückt wird, sondern analog zum Befund in 64 und 90 die erste volle Zeile des neuen Abschnitts, der zusätzlich durch eine Paragraphos markiert wird. Interessant ist zudem der Befund am Übergang von Mt 23,36 fMt 23,36 f in 77, wo in der Zeile vor dem Beginn von V. 37, in modernen Bibelausgaben überschrieben mit „Klage über Jerusalem“, fast eine gesamte Leerzeile Platz gelassen wurde; ob die Zeile darunter mit einer Ekthesis beginnt, ist aufgrund des fragmentarischen Charakters nicht mehr festzustellen.73 In 66 finden sich zahlreiche Abschnittsmarkierungen, wobei zumeist eine Ekthesis auf eine nicht voll ausgeschriebene Zeile folgt, die zumeist durch Interpunktionszeichen beendet wird (vgl. exemplarisch Joh 1,24Joh 1,24; 2,11Joh 2,11; 2,23Joh 2,23; 3,22Joh 3,22; 4,1Joh 4,1).74 Ein recht elaboriertes System der Textstrukturierung in thematisch zusammenhängenden Einheiten, angezeigt durch Ekthesis und/oder einen kleinen WortzwischenraumWort-zwischenraum vor dem ersten Wort der Zeile und/oder einer Paragraphos und mit erstaunlichen Übereinstimmungen zu späteren Kapitel- und Perikopeneinteilungen, findet sich in 75,75 dessen Aussagekraft als Zeuge aber wegen der neuen Datierungsdiskussion unter einem kleinen Vorbehalt stehen muss.76 Die Schlussfolgerung von C. H. Roberts,77 dass die Anfänge des in den großen MajuskelnMajuskel des 4./5. Jh. zu findenden Systems von Textstrukturierung,78 in das späte zweite Jh. zurückgeführt werden können, ist daher unsicher.

Zuletzt ist ferner noch darauf hinzuweisen, dass vermutlich durch das Wiederansetzen des Schreibrohrs visuellevisuell Strukturierungsmerkmale in den Texten vorhanden waren, die möglichweise durch den Produktions- oder Reproduktionsprozess in gewisser Weise syntaktische Strukturen visuell darstellbar machten.79 Sowohl beim DiktatDiktat als auch beim inneren Diktat ist es plausibel anzunehmen, dass das re-inking80 tendenziell eher an syntaktischen Einschnitten vorgenommen worden ist.

Die Art und Weise der Markierungen, wie in den neutestamentlichen PapyriPapyrus der Text (vorwiegend nach inhaltlichen Kriterien) strukturiert wird, unterscheidet sich eigentlich nicht von derjenigen, die in Papyri mit nicht-christlichen Texten aus derselben Zeit zu finden ist.81 Auch hier werden Texte mit Leerzeilen und/oder ParagraphoiParagraphos und/oder EktheseisEkthesis82 nach inhaltlichen Kriterien (in der Forschung zumeist als „Sinneinheiten“ o. ä. bezeichnet) strukturiert. Ferner finden sich auch Eistheseis (eingerückte Zeilen) als Strukturmarker in den Hss.Handschrift/Manuskript; so z.B. in einem Papyrus mit Fragmenten aus KallimachosKallimachos Aetia (P.Lille 76d; 3./2. Jh.), in dem ein Kommentar zum Text jeweils drei bis vier BuchstabenBuch-stabe eingerückt wird.83 Angesichts des Befundes insgesamt kommt S. A. Adams zu Recht zu der Schlussfolgerung: „Accordingly, the use of sense-unit divisions needs to be viewed as a scribal convention and part of a culturally conditioned writing practice.”84

Wichtig sind zuletzt noch einige Beobachtungen zum Gebrauch die ParagraphosParagraphos. So wird diese bei Mss. mit dramatischen Texten üblicherweise dazu verwendet, um einen Figurenwechsel anzuzeigen, wobei der Name der Figur zuweilen am Rand notiert wird.85 Aus meiner Sicht ist es wahrscheinlich, dass es sich bei den meisten Textexemplaren dramatischerDrama Texte nicht um Vorlesemanuskripte oder Gebrauchsmanuskripte für das TheaterTheater handelt, sondern um Texte für die individuelle Rezeption.86 Dafür spricht etwa, dass PapyriPapyrus mit Tragödientexten gefunden wurden, die musikalische NotationMusik enthalten – also tatsächlich für performative Zwecke konzipiert worden sind87 –, während andere in den Chor-Passagen den bloßen Text bieten.88 Auch bei dramatischen Texten, die sekundär auf die Rückseite von (meist dokumentarischen) Papyri geschriebenSchriftGeschriebenes worden sind, finden sich Paragraphoi;89 genauso wie bei solchen, die Scholien enthalten.90 Zudem werden auch in einem ManuskriptHandschrift/Manuskript mit Platons Phaidon, ein philosophischesPhilosophie Werk in Dialogform, Paragraphoi verwendet, um den Sprecherwechsel der erzählten Figuren zu kennzeichnen.91