Lesen in Antike und frühem Christentum

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3.1.2 Ἀναγιγνώσκω mit zusätzlichen Präfixen

Durch Präfigierung kann die Wortsemantik des Verbes spezifiziert werden: διαναγιγνώσκωδιαναγιγνώσκω (durchlesen) wird verwendet, um anzuzeigen, dass ein Text, ein BriefBrief bzw. ein BuchBuch oder Werk vollständigUmfangvollständig gelesen wird.

Vgl. Cass. DioCassius Dio. 58,10,7: καὶ τέλος διαναγνωσθείσης τῆς ἐπιστολῆςἐπιστολή πάντες …; Isokr.Isokrates or. 12,201.241, u. Diog. Laert.Diogenes Laertios 2,5,40 verwenden dieses Wort zur Beschreibung des individuellen und evaluierenden Durchlesens eines Redemanuskripts; Polyb.Polybios 3,32,1f hebt die Länge und Anzahl seines Werkes verteidigend hervor. Es sei leichter, seine 40 BücherBuchdurchzulesen (πόσῳ γὰρ ῥᾷόν ἐστι καὶ κτήσασθαι καὶ διαναγνῶναι βύβλους τετταράκοντα …), in denen Geschichte in einem Stück und komprimiert präsentiert sei, als sich die Informationen aus den verschiedensten Quellen episodischer GeschichtsschreibungGeschichtsschreibung selbständig zusammenzutragen. Bei Polyb. 21,11,3 scheint zudem die Sorgfalt beim Durchlesen hervorgehoben zu sein. Vgl. ferner Polyb. 31,14,1; Ael. var.Aelianus, Claudius hist. 14,43; Athen.Athenaios deipn. 3,60 (102b). Bei Diog. Laert. 3,1,66 hat das Verb eher die Konnotation „einsehen, konsultieren“ von spezifischen HandschriftenHandschrift/Manuskript mit kritischen Randbemerkungen.

Die Vergleichsbasis für ἐξαναγιγνώσκωἐξαναγιγνώσκω (LSJ: read through) ist vergleichsweise gering. Zwei Stellen bei PlutarchPlutarch, an denen keine spezifische Bedeutung eindeutig gesichert werden kann,1 stehen zwei Stellen ebenfalls bei Plutarch und Athenaios gegenüber, an denen es offensichtlich zur Betonung der Vollständigkeit des Lesens einer Schrift bzw. im Sinne von „ausgelesen“ gebraucht wird.2 Das Verb παραναγιγνώσκωπαραναγιγνώσκω wird allgemein dazu genutzt, den Vergleich bzw. das vergleichende/paralleleLesenvergleichend Lesen von zwei SchriftmedienLese-medium3 oder – häufig in RedenRede – das kontrastierende VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt eines zweiten Textes4 anzuzeigen; oder es wird passend zur allgemeinen Bedeutung im Sinne von „überprüfend konsultieren“ verwendet.

So nutzt Ps.-Plut.Pseudo-Plutarch X orat. 7 (mor. 841f) das Verb im Kontext eines Gesetzes, das vorsah, (autorisierte) AbschriftenAbschrift der TragödienTragödie von AischylosAischylos, SophoklesSophokles und Euripides aufzubewahren, damit die Stadtschreiber diese konsultieren können, um eine Abweichung der Aufführung vom Original zu verhindern (… καὶ τὰς τραγῳδίας αὐτῶν ἐν κοινῷ γραψαμένους φυλάττειν καὶ τὸν τῆς πόλεως γραμματέα παραναγινώσκειν τοῖς ὑποκρινομένοις: οὐκ ἐξεῖναι γὰρ παρ᾽ αὐτὰς ὑποκρίνεσθαι).

Das v. a. von PlutarchPlutarch verwendete Verb συναναγιγνώσκωσυναναγιγνώσκω (mitlesen) kennzeichnet das gemeinsame Lesen (aus) einer Schrift.

Vgl. v. a. die aufschlussreiche Szene, die eindeutig kollektiv-direkteLektürekollektiv-direkt Rezeption belegt, bei Plut.Plutarch de Alex. fort. 1,11 (mor. 332e333a), in der Alexander nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend einen BriefBrief seiner Mutter liest und dabei merkt, dass Hephaistos über seiner Schulter mitliest. Vgl. auch Plut. de Alex. fort. 2,7 (mor. 340a); reg. et. imp. 27,14 (mor. 180d); ferner de Amic. 11 (mor. 97a) sowie den Verweis auf die Gemeinschaftslektüre von Schriften Platons (ἐν ταῖς Πλατωνικαῖς συναναγνώσεσιν …) in symp. 7,2 (mor. 700c).5 Vgl. außerdem den Verweis auf das gemeinsame Lesen eines Werkes von Hippokrates bei Gal.Galenos Hipp.Hippolytos von Rom fract., ed. KÜHN, 18b, p. 321. PASSOW, 1668, führt noch weitere, allerdings sehr späte Belege an. Interessant ist ferner ein Fragment aus dem Werk von Johannes von Antiochia, der das PartizipPartizip im Sinne von „Mitstudenten“, d. h. Kommilitonen verwendet. Vgl. Iohan. Ant., fr. 218. Dazu passt, dass Marinus von Neapolis sich im 5. Jh. beklagt, er habe es innerhalb von zwei Jahren nicht geschafft, Aristotelesschriften gemeinsam zu lesen: Ἐν ἔτεσι γοῦν οὔτε δύο ὅλοις πάσας αὐτῷ τὰς Ἀριστοτέλους συνανέγνω πραγματείας, λογικάς, ἠθικάς, πολιτικάς, φυσικάς, καὶ τὴν ὑπὲρ ταύτας θεολογικὴν ἐπιστήμην. (Marin.Marinos von Neapolis v. Proc. 13) Dies klingt nach einer Art Philosophenkolloquium, bei dem gemeinsam Aristotelesschriften gelesen und diskutiert wurden.

Προαναγιγνώσκωπροαναγιγνώσκω bedeutet einerseits vorlesen (to read [ahead] in a loud voice),6 wird aber andererseits auch häufig im temporalen Sinne verwendet, um anzuzeigen, dass jemand zuvor/zuerst ein Schriftstück/ein Werk etc. (individuell[!]) gelesen hat.7

Ἐπαναγιγνώσκωἐπαναγιγνώσκω wird genutzt, um das Verlesen, das Lesen aus etwas zu benennen.8 Daneben kann das Verb anzeigen, dass jemand einen Text in voller Länge gelesen hat.9

3.1.3 Ἀναγνωστικός

Das selten bezeugte Adjektiv ἀναγνωστικόςἀναγνωστικός hat nach LSJ die folgenden Bedeutungsnuancen: a) capable of reading, a good reader (Epikt.Epiktet diatr. 2,18,2: lesefähigLese-fähigkeit (s. auch Literalität), gut im Lesen);1 b) fond of reading (Plut.Plutarch de garr. 22 [mor. 514a]: das substantivisch gebrauchte Adjektiv verweist bei Plutarch auf jemanden, der viel und gerne liest, also eine Leseratte, der in diesem Fall Geschichten, narrative Texte [ἱστορίαι] liest); c) suitable for reading (Aristot.Aristoteles rhet. 3,12,2 [1413b12]: zum Lesen geeignet). Während die ersten beiden Belege recht eindeutig sind, hat D. J. Allan gezeigt, dass die Interpretation der ἀναγνωστικοί bei Aristoteles im Sinne von „Dichter, die zum Lesen geeignet sind“2, also deren Texte gut aussprechbar wären (λεκτικός), aus philologischer Sicht falsch ist. Vielmehr spreche Aristoteles ganz im Sinne der beiden anderen Stellen davon, dass AutorenAutor/Verfasser, die selbst gute LeserLeser oder Vielleser sind, populär seien, weil sie leserorientiert schreibenSchreiben, wobei an dieser Stelle offen bleibe, ob Aristoteles auf kollektive oder individuelle Formen der Rezeption abzielt.3

Einen gut lesbaren Text beschreibt Aristoteles hingegen mit dem Adjektiv εὐανάγνωστοςεὐανάγνωστος (Aristot.Aristoteles rhet. 3,5,6 [1407b12]). Ein gut lesbarer Text ist nach der weiteren Spezifikation an dieser Stelle ein solcher, der gut erfassbar (εὔφραστος)4 ist, Konjunktionen (σύνδεσμοι) sparsam verwendet, der leicht punktiert (διαστίζω) werden kann und wenig Ambiguität in den Bezügen aufweist.5 Es geht ihm hier also stärker um das kognitivekognitiv Erfassen als um die lautliche Realisierung. Das Adjektiv εὐανάγνωστος kommt außerdem bei Demetr. eloc.Demetrios von Phaleron 4,193 vor. Hier legt der Kontext – die Gegenüberstellung von Stilen (λέξεις), die sich entweder besser zum Aufführen (ὑποκρίνομαι) oder zum Lesen (ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω) eignen – eine der Aristotelesstelle analoge Verwendung des Lexems nahe. Als Beispiele führt Demetrios an, Menander sei besser für die Aufführung geeignet, Philemon besser für die Lektüre. Die Ausführungen von Demetrios gleichen im Übrigen denjenigen von Aristoteles (Aristot. poet. 1462a101462b5), die unten noch zu diskutieren sind. Ferner wird dieses Lexem von Konstantin in seinem BriefBrief an Euseb verwendet, in dem er den Auftrag zur Beschaffung von Bibelausgaben gibt, um die Beschaffenheit der Schrift der PergamentkodizesKodex zu beschreiben (vgl. Eus.Eusebios von Caesarea vita Const. 4,36,2).

 

3.1.4 Ἀνάγνωσις

Das entsprechende Verbalabstraktum ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις verweist aus morphologisch-semantischer Sicht (Suffix -σις) auf den Prozess bzw. den Vorgang des Lesens.1 Die genaue Bedeutung dieses Lexems ist jedoch nicht in jedem Fall klar. So fragt D. J. Allan im Hinblick auf Aristot.Aristoteles rhet. 3,12,5 (1414a17f)2: „Which type of reading is meant – public or privateÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat? Or is the point intentionally left undetermined? This is hard to decide“3 Einen Hinweis darauf, dass ἀνάγνωσις auch die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre bezeichnen kann, findet sich in Aristot. poet. 1462a10–17. Hier stellt er Lektüre und Aufführung der TragödieTragödie als zwei unterschiedliche Rezeptionsmodi gegenüber; bei beiden hätte man die gesamte Tragödie vor Augen:

„Außerdem erfüllt die TragödieTragödie genauso wie die epische Dichtung auch ohne (körperliche) Aktion ihre Wirkung. Denn schon durch das Lesen (ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω) wird offenbar, wie (gut oder schlecht) sie ist. […] Ein weiterer Grund für ihren höheren Rang [der Tragödie gegenüber dem Epos] […] ist ein musikalisches und visuellesvisuell Element. Dass dieses ästhetischesästhetischer Genuss/Vergnügen Vergnügen bereitet, ist völlig evident. Außerdem hat man (die ganze Tragödie) klar vor AugenAugen – sowohl bei der Lektüre als auch, wenn sie zur Aufführung kommt [… εἶτα καὶ τὸ ἐναργὲς ἔχει καὶ ἐν τῇ ἀναγνώσει καὶ ἐπὶ τῶν ἔργων].“ (Üb. SCHMITT, leicht modif. JH)4

Mit dieser Aussage – das Adjektiv ἐναργής bedeutet lautLautstärkelaut LSJ visible, palpable, in bodily shape, aber auch manifest to the mind’s eye – ist impliziert, dass man die TragödieTragödie bei einer (Vor)Lesung dagegen allenfalls „im/vor dem OhrOhr“ hätte.5 Bei der Aufführung (ἔργον) hat man die Tragödie auf der Bühne sichtbar, bei der Lektüre der RolleRolle (scroll) im Kopf des LesersLeser, wobei freilich die akustische Dimension hier nicht ausgeklammert werden darf.6 Auch Diod.Diodorus Siculus 20,1,4f, der betont, es sei gerade eine reizvolle Lektüre (ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις), wenn man die gesamte KompositionKomposition lese, rekurriert eher auf die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre als auf das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt – wieso sollte jemand beim Vorlesen die doch gerade für die Aufführung wichtigen τὰς ῥητορείας überspringen (ὑπερβαίνω)? Wenn Plut.Plutarch poet. aud. 1 (mor. 14e) differenzierend vom Maßhalten beim Hören und Lesen spricht (… ἐν ταῖς ἀκροάσεσιν καὶ ἀναγνώσεσιν …), verweist dies auch eher auf die individuell-direkte Lektüre.7 Auch innerhalb der Aufzählung individueller Tätigkeiten wie Ruhe (σχολή), Spazierengehen (περίπατος) und Schlafen (ὕπνος) in Plut. de exil. 12 (mor. 604c/d) ist wohl individuell-direkte Lektüre im Blick.8 Wenn Artemidor von Daldis ἀποδημίαι δὲ καὶ ἀναγνώσειςἀνάγνωσις als beste Möglichkeit nennt, um Wissen über Orte und die Eigenheiten von Orten zu erlangen, meint er damit ReisenReise und die Lektüre von Büchern (vgl. Artem.Artemidor von Daldis on. 4,4 [ed. Pack, p. 247,1–5]). PolybiosPolybios antizipiert im ganz zu Beginn dieser Studie zitierten Prooemium des elften Buches seiner Historien verschiedene LeseinteressenLese-interesse (Polyb. 11 prooem. 2):

a) diejenigen, die es intendiert lesen wollen (τοὺς ἀναγινώσκειν θέλοντας);

b) diejenigen, die zufällig darauf stoßen;

c) diejenigen, die nur etwas nachschlagen (ζητέωζητέω; s. u.) wollen.9

Dabei soll das Prooemium diejenigen, die (zufällig) auf sein Buch treffen, zur Lektüre auffordern (καὶ παρορμᾷ πρὸς τὴν ἀνάγνωσιν τοὺς ἐντυγχάνονταςἐντυγχάνω). Die Motive, mit denen Polybios hier rechnet, sind allesamt Motive von Individuen. Er setzt also individuell-direkte Lektüre des Buches voraus und nicht das Hören oder Veranstalten einer Vorlesung.10

Einen ähnlich tiefen Einblick in die antizipierte Rezeptionsweise antiker Historiographie bietet DiodorDiodorus Siculus am Beginn seiner Universalgeschichte (Βιβλιοθήκη ἱστορική). In Kapitel 3 des ersten Buches legt er die Vorzüge seiner umfassenden Aufbereitung des historischen Stoffes dar, den man sich sonst mühsam aus einer großen Masse von historiographischen Schriften zusammensuchen müsste, und formuliert:

„Doch die Darstellung in einem einzigen Werke, die alle Ereignisse miteinander verknüpft, macht die Lektüre (ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις) leicht und das Begreifen mühelos“ (Diod.Diodorus Siculus 1,3,8, Üb. WIRTH).

Aus dem Kontext ist eindeutig ersichtlich, dass DiodorDiodorus Siculus eine Rezeptionssituation individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre voraussetzt. Die LeserLeser müssen nicht selbständig durch die gesamten historiographischen Schriften hindurchgehen (διέξειμιδιέξειμι; Diod. 1,3,8). Diese schwere Arbeit hat Diodor den Lesern abgenommen und alles in seinem Gesamtwerk aufgearbeitet, „das bei einem Höchstmaß an Nutzen den Lesern ein Mindestmaß an Belastung versprach“ (Diod. 1,3,5; Üb. G. WIRTH). Der Nutzen besteht aber nicht darin, dass die Leser das Werk zwingend sequentiellKontinuitätsequentiell und vollständigUmfangvollständig zu lesen hätten. Vielmehr formuliert Diodor explizit:

„Aus ihm steht es jedem frei, nach Belieben wie aus einer gewaltigen Quelle zu schöpfen (ὥσπερ ἐκ μεγάλης ἀρυόμενον πηγῆς), was ihm für seine Zwecke von Nutzen scheint“ (Diod.Diodorus Siculus 1,3,7, Üb. WIRTH).

Aus dieser Formulierung wird deutlich, dass DiodorDiodorus Siculus es den Lesern überlässt, wie sie das Werk gemäß ihrer Bedürfnisse nutzen. Insbesondere die MetapherMetapher des Schöpfens (ἀρύω) aus einer gewaltigen Quelle (i. e. sein gesamtes Werk) besagt eindeutig, dass er durchaus eine selektiveUmfangselektiv und diskontinuierlicheKontinuitätdiskontinuierlich Lektüre seines Werkes antizipiert.

An anderer Stelle setzt ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις bei DiodorDiodorus Siculus eindeutig individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre voraus (vgl. Diod. 20,4,4f). Darauf deutet einerseits das Motiv des Überspringens (ὑπερβαίνω), andererseits die Reflexion der Erfahrung, dass LeserLeser die Lektüre abbrechen, wenn die Länge des zu lesenden Textes sie ermüdet. Hier ist also das Phänomen selektiverUmfangselektiv Zugriffe auf historiographische Texte eindeutig bezeugt. Zudem ist die Lektüre eines historiographischen Werkes für Diodor dann mit Vergnügen (ἐπιτερπής) und Klarheit (σαφής) verknüpft, wenn sie den notwendigen Zusammenhang der historischen Ereignisse bewahrt und die Darstellung der historischen Ereignisse nicht zum Beiwerk der RhetorikRhetorik verkommt (vgl. Diod. 20,4,1–3). Das Ziel der Lektüre historiographischer Werke besteht also für Diodor sowohl in der UnterhaltungUnterhaltung als auch in der Aneignung von historischem Wissen. Ein empirischer Beleg für eine solche LektürehaltungHaltung bietet Plut.Plutarch Caes. 11, der historiographische Literatur über Alexander den Großen in einer Mußestunde individuell-direkt, nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend11 und in Anwesenheit von Freunden in Spanien liest.12

Aufschlussreich ist sodann auch der Hinweis im sog. Aristeasbrief (Arist. 127), dass eine gute Lebensführung bzw. Einhaltung der Gesetze viel eher durch Hören als durch Lesen (… διὰ τῆς ἀκροάσεως πολλῷ μᾶλλον ἢ διὰ τῆς ἀναγνώσεως) erreicht werde. Ἀνάγνωσις bezieht sich mit größter Wahrscheinlichkeit auf eine individuelle Lektüre.13 Ἀνάγνωσις als individuell-direkteLektüreindividuell-direkts Lesen ist ebenfalls in der Antwort eines der 72 Gelehrten auf die Frage des ägyptischen KönigsKönig Ptolemaios impliziert, womit sich die KönigeKönig die meiste Zeit beschäftigten: „Mit dem Lesen (ἐν ταῖς ἀναγνώσεσι) und der Beschäftigung mit Reiseberichten …“ (Arist. 283). Vor diesem Hintergrund erscheint es dann auch sicher, dass ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις in der folgenden Passage in TheonsTheon Progymnasmata nicht das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt meint, sondern vielmehr die Wichtigkeit von individueller Lektüre von mythischen Erzählungen im Rahmen der rhetorischen Vorbildung hervorhebt.14

„‚Die Lektüre aber‘, wie einer der Älteren sagt – Apollonius von RhodosApollonius von Rhodos meine ich – ‚ist die Nahrung des Stils/der Ausdrucksweise (τροφὴ λέξεώς ἐστι)‘. Denn wir formen die Geistesfähigkeit von den schönen Beispielen her (τυπούμενοι γὰρ τὴν ψυχὴνψυχή ἀπὸ καλῶν παραδειγμάτων) und die schönsten werden wir auch imitieren.“ (Theon prog. p. 61,28–31 [Ed. SPENGEL])

Diese Stelle ist mindestens in zweifacher Hinsicht aufschlussreich: a) Theon grenzt die ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις analog zu den oben diskutierten Quellen von der ἀκρόασις ab, wobei letztere hier aber nicht ein akustisches Aufnehmen, sondern den mündlichen Vortrag im Unterrichtskontext meint.15 b) Die Perzeption des Gelesenen wird nicht mit dem Gehör, sondern mit der Seele, also mit einer Instanz, die man eher dem Inneren des Menschen zuordnen würde, in Verbindung gebracht, aus der sich wiederum das Ausdrucksvermögen (vor allem auch in schriftlich produktionsorientierter Form16) speist. Ferner ist wohl auch der bei Diogenes Laertios überlieferte TitelTitel einer Schrift von Thrasylos (Τὰ πρὸ τῆς ἀναγνώσεως τῶν Δημοκρίτου βιβλίων; Diog. Laert.Diogenes Laertios 9,41) nicht auf eine Vorlesung bezogen. KaiserKaiser/Princeps Iulian schreibt in einem BriefBrief an Libanios (Iul.Iulianus, Flavius Claudius (Kaiser) ep. 53 [382d]), er habe dessen RedeRede vor dem Mittagessen fast ganz gelesen (individuell-direktLektüreindividuell-direkt!), konnte seine Lektüre (ἀνάγνωσις) aber erst danach, aber noch vor dem Mittagsschlaf, beenden. Darüber hinaus verweist häufig auch die Formulierung τὴν ἀνάγνωσιν ποιέω („ich betreibe die Lektüre“) auf individuell-direkte Lektüre.17

Daneben existieren aber auch Kontexte, in denen ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις eindeutig im Sinne von „(Vor-)Lesung“ verwendet wird.18 Ἀνάγνωσις wird sodann bei den antiken Grammatikern spezifisch als gleichsam phonologischerPhonologie Fachterminus betreffs der Prosodie verwendet.19 Daher und vor allem angesichts des gerade besprochenen, eindeutigen Befundes sollte man auch die dionysische Erläuterung des ersten von sechs Teilen der Grammatik – ἀνάγνωσίς ἐστι ποιημάτων ἢ συγγραμμάτωνσυγγράμματα ἀδιάπωτος προφορά (Dion. ThraxDionysios Thrax 2) – nicht als allgemeingültige Definition des Lexems bzw. als Beschreibung des Leseaktes generalisieren.20 „In conclusion we may say that the usual interpretation of Dionysian ἀνάγινωσις, according to which this notion meant for Dionysius the act of reading by the use of one’s own voice (thus also Pfeiffer 1968: 268f), is mistaken.“21 Die als ἀνάγνωσις bezeichnete Domäne der alexandrinischen Grammatik beschäftigt sich mit der fehlerfreien Aussprache (ἀδιάπωτος προφορά) bzw. dem den verschiedenen Gattungen angemessenen Ton (vgl. Dion. Thrax 2); „ἀνάγνωσις ἐντριβὴς κατὰ προςῳδίαν [Dion. Thrax 1] refers to the determination of the correct accent of a word.“22

 

3.1.5 Ἀνάγνωσμα

Das viel seltener vorkommende Lexem ἀνάγνωσμαἀνάγνωσμα müsste aus morphologisch-semantischer Sicht demgegenüber eigentlich das Ergebnis oder Resultat einer Handlung bezeichnen,1 wobei die Grenzen zwischen diesen nomina rei actae und den o. g. Verbalabstrakta (nomina actionis) in den Grammatiken jedoch als fließend bezeichnet werden.2 Neben wenigen Belegen, die eine gleichsam synonyme Verwendung mit ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις im Sinne einer Vorlesung aufweisen,3 zeigt sich in den Quellen, dass das Lexem, ganz ähnlich wie der Lektüre-Begriff im Deutschen, in seiner Bedeutung changiert. Dies zeigt sich ganz deutlich in Plutarchs Schrift Quomodo adolescens poetas audire debeat (poet. aud. 14 [mor. 35f]), in der er u. a. die Lehren Platons und Pythagoras’ Jugendlektüren (παιδικά ἀναγνώσματα) gegenüberstellt. Die παιδικά ἀναγνώσματα sind hier sowohl ein Sammelbezeichnung für die schulische Lektürepraxis als auch eine Bezeichnung für die LesestoffeLese-stoff selbst.4 Ähnlich ambigue gebraucht wird ἀνάγνωσμα, wenn PlutarchPlutarch die Kultivierung Asiens u. a. daran festmacht, dass Homer zur Lektüre wurde.5 Das Lexem ἀνάγνωσμα kann aber ebenso eindeutig in einem potentiellen Sinne, also zur Bezeichnung einer Lektüre gebraucht werden, die sich konkret materiellMaterialität in einem BuchBuch manifestiert. So wird z.B. bei Plutarch AkesandersAkesander Schrift Περὶ Λιβύης als eher ungewöhnliche, nicht gebräuchliche Lektüre charakterisiert: καὶ τοῦτο μέν’ ἔφην ‘τὸ ἀνάγνωσμα τῶν οὐκ ἐν μέσῳ ἐστί (Plut. symp. 5,2 [mor. 675b]).6 Die Wendung ἀναγνώσμασιν ἐντυγχάνειν (begegnen, d. h. lesen von Lektüren [s.u.]) an einer anderen Stelle (Plut. symp. 5,3,2 [mor. 676c]) hat dagegen eher eine resultative Bedeutung, da dadurch im Kontext die herausragende Belesenheit eines Redners hervorgehoben wird.7 Analog formuliert Nikomachos von Gerasa in seiner Einführung in die Arithmetik:

„Dies also über die drei Proportionen, die bei den Alten ständig behandelt werden (θρυλλουμένων), die wir auch ausreichend klar und breit ausgeführt haben, weil man ihnen oft und vielfältig in den Lektüren (ἐν τοῖς ἀναγνώσμασι) begegnet (ἐντυγχάνεινἐντυγχάνω)“ (Nikom.Nikomachos von Gerasa Ar. 2,28,1).