Treulos

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Sie öffnet den Mund, schließt ihn aber sofort wieder.

Mein Verfolger scheint amüsiert. Zumindest offenbart er jetzt wieder einen offenen Blick auf die blendend weißen Zahnreihen.

So, jetzt ist er dran. Eine Beleidigung habe ich noch gut.

„Und Ihnen kann ich nur empfehlen etwas mehr Kaffee zu trinken oder weniger oft Ihr Gebiss aufhellen zu lassen. Die Farbe Ihrer Zähne blendet schrecklich in den Augen!“ Erstaunlich schnell verfinstert sich seine Mine.

Für mich ist jetzt wirklich der Startschuss gefallen, möglichst flink den Centerausgang zu erreichen.

Ich komme mir leibhaftig vor wie eine Ladendiebin, als ich vorbei an Taschenständen, Bäckereiwägen und Dönerbude durch den Ausgangsbereich des Centers eile.

Endlich erreiche ich die automatische Schiebetüre und dränge mich gemeinsam mit einer türkischen Großfamilie, die bewaffnet mit vier Einkaufswagen voller abgepackter Semmeln ist, auf den Parkplatz.

Erleichtert atme ich die frische Luft ein und setze mich zur Beruhigung erstmal auf die Fahrradständer.

Neben mir stehen drei junge Mädchen, die hübsch frisiert und tadellos geschminkt sind, und natürlich auch ein sehr modisches Outfit am Leib tragen. Neidlos muss ich anerkennen, dass sie allesamt sehr gut aussehen. Und sehr schlank sind.

Ich seufze und beobachte die drei noch eine Weile. Wenn ich mich anstrenge, kann ich sogar einige Wortfetzen des Gesprächs aufschnappen.

„

ich im Fitnessstudio bin, habe ich schon acht Kilo abgenommen. Ich trainiere jeden zweiten Tag.“

Man sieht’s!

Ihr knappes Top gibt einen Blick auf ihren muskulösen Bauch frei, an dem kein Gramm Fett zu viel ist. Unwillkürlich streiche ich über mein wabbeliges Etwas und überlege, ob es mit Mitte 30 und einem Bindegewebe, das von zwei Kindern und dem Genuss reichlich kakaohaltiger Leckereien stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, auch noch möglich wäre, sich einen straffen Bauch anzutrainieren.

Auch Paula gefällt der Gedanke an eine knackige Bikinifigur.

„Warum gehst du nachher nicht einfach ins Fitnessstudio? Gönn’ dir das doch, nachdem dein Einkaufsbummel schon ins Wasser gefallen ist! Du musst an dich denken!“

Wie nicht anders erwartet – Knubbi ist dagegen!

„So, ein Quatsch! Du hast doch einen Mann und ein Fitnessstudio kostet eine Unmenge von Geld!“

Knubbi blende ich kurzerhand aus und beschließe, Paulas Worten zu folgen. Immerhin ist sie eine Frau und weiß, was mir gut tut.

Beschwingt von dem Gedanken, bald so schön und sexy wie die Models in den Hochglanzzeitungen durch das Leben zu schweben, besteige ich meinen Wagen und fahre über einige Umgehungsstraßen nach Hause.

Die penetrant leuchtende orange Tankleuchte schafft es, mir trotz der Euphorie über meine spätestens nächstes Jahr knackig geformten Kurven Schweißausbrüche zu verursachen, obwohl mein Kleinwagen mich meistens ziemlich zuverlässig in den Hof der Tankstelle einrollen lässt und erst wenige Meter vor der Zapfsäule beschließt zu streiken.

Warum ich grundsätzlich zu geizig bin, die volle Kapazität meines Tanks auszunutzen, kann ich mir selbst nicht so genau erklären.

Sobald ich auf einem Tankstellengelände holpernd zum Stehen komme und mir gleichzeitig schwöre, es nie mehr soweit kommen zu lassen, geht mir urplötzlich durch den Kopf, was frau mit dem Geld für eine Tankfüllung so alles anfangen könnte. Neue Pumps, ein Monat Kindergartenbeitrag oder schick Essen gehen. Also investiere ich nur 20,00 €, zumal ich mit meinem Halbtagsbürojob ohnehin keine allzu großen Sprünge machen kann und leider das Pech habe, dass mein Göttergatte nicht zu den großzügigen Männern gehört, die ihrer Frau jeden Wunsch von den Augen ablesen. Mein Mann ist Schwabe durch und durch und keiner verkörpert besser das Klischee des übertrieben sparsamen, man könnte fast sagen, krankhaft geizigem Baden-Württembergers. Sicherlich will ich nicht behaupten, dass dieser Charakterzug nur seine negativen Seiten hat. Immerhin hat uns dieser Spar-Dich-Reich-Geiz schon ein kleines Einfamilienhaus beschert, das sicherlich gewisse Opfer fordert.

Unsere Urlaube beispielsweise.

Ich träume Jahr für Jahr von einem Cluburlaub unter Palmen im sonnigen Süden. Kaum ist Sylvester vorbei, blättere ich durch Reiseprospekte und suche günstige Frühbucherrabatte, um die sparsame Seite meines Mannes davon zu überzeugen, dass wir bei diesen Angeboten 20% sparen könnten.

Leider ohne Erfolg und so verleben wir den August meist in kleinen, etwas heruntergekommenen Ferienwohnungen im Schwarzwald und verbringen unsere Zeit damit, die Regentropen zu zählen, die gegen die Scheibe prasseln.

Die Kinder wünschen sich spätestens nach dem dritten Tag Urlaub „nie wieder fortfahren“ zu müssen und ich verfluche meinen Mann für seinen Geiz.

Die darauf folgende Ehekrise, unser klassisches Urlaubsmitbringsel, zieht sich dann bis mindestens September hin.

Langsam fahre ich nun in den Hof unseres kleinen, aber sehr hübschen Einfamilienhauses mit dem Vorsatz, nur rasch meine Sportsachen zusammen zu packen und dann gleich direkt die Kurvenstraffung in Angriff zu nehmen.

Ich schließe die Haustüre auf und bemerke sofort die seltsame Ruhe, die über der hellen Diele liegt. Normalerweise hängen mir meine Kinder im Freudentaumel am Bein, noch ehe ich meine Jacke an die Garderobe gehängt habe.

Aber heute ist komischerweise niemand zu hören und zu sehen. Sicherlich werden sie zusammen im Kinderzimmer herumtoben.

Kaum betrete ich das Wohnzimmer schlägt mir das blanke Chaos entgegen.

Mein Mann sitzt umrandet von Aktenordnern hoch konzentriert vor seinem Laptop und bekommt nichts von der Welt um ihn herum mit.

Leider noch nicht einmal, dass unsere lieben Kleinen gerade damit beschäftigt sind, unserem vom Schreiner gefertigten Naturholztisch eine neue, für meinen Geschmack etwas zu aufdringliche Lackierung zu verpassen. Mit knallrotem Nagellack.

Offenbar haben sie Spaß an ihrer handwerklichen Tätigkeit, zumindest strahlen ihre runden pausbäckigen Gesichter um die Wette.

„Du hast die Lage wirklich im Griff, Schatz!“

Ruckartig drehen sich die restlichen Familienmitglieder erschrocken zu mir um.

Mein Mann steht auf und starrt ungläubig auf den Tisch und die verschmierten Kinder. Er holt tief Luft. Ich ahne, dass das die Ruhe vor dem Sturm ist.

„Das ist doch wirklich nicht zu fassen! Unglaublich! Habe ich euch nicht gesagt, ihr sollt Lego bauen?“

Vollkommen aufgebracht entreißt er Klein-Philipp den Nagellack, steuert direkt auf mich zu und hält mir erbost das Fläschchen vor die Nase.

„Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst deine Kosmetik wegsperren? Wie oft?“

Ungerührt beobachte ich seinen kleinen Ausbruch und erlaube mir dann trotzdem darauf hinzuweisen, wem die Aufsichtspflicht hier oblegen hat.

„Du solltest darüber nachdenken, wer auf die Kinder aufpassen sollte. Du oder ich?“

Mein Mann ringt mit seiner Fassung und überhäuft mich mit Vorwürfen.

„Wenn du deine Sachen so wegräumen würdest, wie es sich gehört, könnte so etwas nicht passieren. Außerdem erziehst du doch die ganze Woche die Kinder. Man sieht was dabei raus kommt!“

Die Kinder zeigen sich relativ unbeeindruckt über unser Wortgefecht und vertreiben sich die Zeit damit, gegenseitig in ihren Nasen zu bohren.

Marie kichert vergnügt und stellt sich mit hoch erhobenem Zeigefinger, auf dem undefinierbarer Schleim hängt, vor ihren aufgebrachten Vater.

„Schau mal, Papa, was ich in Philipps Nase gefunden habe!“

Die Augen des kleinen Mädchens leuchten begeistert, aber mein Mann kann sich an dem liebreizenden Anblick unserer Tochter nicht recht erfreuen.

„Spiel’ mit deinem Bruder, ich muss mit deiner Mutter sprechen!“

Mein Mann nimmt ihre Hand – leider die mit der Ausbeute aus Philipps Nase – und schiebt Marie in Richtung Treppe. Artig gehen die Kinder nach oben, während mein Mann erst jetzt richtig in Fahrt kommt.

„Der Tisch hat mich fast 3.000 Euro gekostet und jetzt ist er ruiniert. Schau dir das an!“

Mir fällt keine passende Antwort auf sein Gemotze ein. Schließlich kann ich nichts dafür, dass er mit der Kinderbetreuung gänzlich überfordert ist und jetzt die Quittung dafür bekommen hat.

„Ist es wirklich zu viel verlangt, einmal in der Woche ein paar Stunden mit deinen Kindern zu spielen?“

Ich gebe mir alle Mühe ruhig zu bleiben, doch ohne Erfolg. Tim kann den Verlust seines Coachtisches nicht einfach so hinnehmen und schon gar nicht die Verantwortung dafür übernehmen.

„Wenn du einfach deine Sachen aufräumen würdest, dann

“ Er unterstreicht den Ernst der Lage, indem er auf das neu gestrichene Möbelstück zeigt. Fasziniert von dem gelb-grünen Sekret aus hauseigener Herstellung, das noch immer an seinem Finger haftet, kann ich nicht mehr an mich halten und muss einfach los kichern. Tim starrt mich verständnislos an.

„Ich weiß nicht, was daran so komisch ist. Aber lach’ du nur blöd, ich für meine Teil werde mich jetzt an die Schadensbeseitigung machen!“

Hektisch macht sich mein Mann begleitet von lauten Flüchen mit einer Küchenrolle ans Werk und versucht mit Hilfe von grünem Apfelspülmittel die Nagellacküberreste abzuschrubben, was natürlich erfolglos ist.

Schnell gehe ich die Holztreppe nach oben in unser Badezimmer und nehme die Flasche Nagellackentferner vom Regal.

Wieder unten angekommen drücke ich Tim die Chemiekeule in die Hand.

„Probier es doch mal damit. Allerdings kann ich nicht dafür garantieren, dass das Holz keine Flecken bekommt.“ Skeptisch reibt mein Mann mit dem Entferner über den Tisch und tatsächlich verschwindet die knallrote Lackierung sofort. Seine Mine hellt sich wieder etwas auf.

 

„Ich glaube damit, kriegen wir alles weg.“

Nach einer guten Viertelstunde gemeinschaftlicher Arbeit sieht das Möbelstück fast wieder wie neu aus.

„Gut gemacht, Süße. Wieso bist du eigentlich schon da?“ Erst jetzt fällt Tim auf, dass ich für „meinen Samstag“ ungewöhnlich früh zuhause einlaufe und ich halte den Zeitpunkt für goldrichtig ihm, von meinen Figurverbesserungsplänen zu berichten.

„Das Supercenter hat mich heute einfach nur genervt. Massig Leute und so.“

Es ist vermutlich besser, ihm meine Schandtaten zu verschweigen, schließlich kenne ich das korrekte Wesen meines Mannes schon ein paar Tage und habe jetzt definitiv überhaupt keine Lust, mir einen weitgehenden Vortrag zum Thema „Umgang mit fremden Eigentum“ anzuhören.

„Ach okay, dann macht Shopping keinen Spaß, das kann ich gut verstehen.“

Er drückt mir einen versöhnlichen Kuss auf die Lippen und ich bemühe mich, den unwiderstehlichsten Ina Patschke Blick aufzusetzen, während ich zum wesentlichen komme. „Schatz, ich bin mit mir unzufrieden.“

Tim legt seine markante Stirn in Falten und zieht mich in seine Arme.

„Warum denn, meine Süße?“

Sanft greife ich nach seiner Hand und lege sie auf meiner kleinen, aber unübersehbar vorhandenen Unterbauchfettschürze ab.

Er scheint immer noch nicht zu begreifen. Beherzt zwicke ich in meinen Bauch und ziehe die Fettrolle nach oben.

„Siehst du das? Wie werde ich erst aussehen, wenn ich 50 bin? Ich muss unbedingt etwas für meine Figur tun.“

Statt mich davon zu überzeugen, dass ich nicht nur die schlankste sondern auch die schönste Frau auf Gottes Erdboden bin, antwortet er mir kichernd.

„Wer Bauchfett hat, friert weniger schnell und, Ina, das spart auch noch Heizöl!“

Ich traue meinen Ohren nicht und befreie mich verärgert aus seinen Armen.

Tim versteht wirklich nichts von Frauen. Wie soll ich ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln, wenn nicht einmal der eigene Mann meinen Körper schön und begehrenswert findet und nur an seine Heizkostenersparnis denkt?

So langsam beginne ich zu kombinieren. Nicht seine anstrengende Arbeit in einer großen Anwaltskanzlei ist daran schuld, dass in unserem Ehebett die Eiszeit ausgebrochen ist. Nein, obwohl ich trotz meiner Fettschürze im Bett nicht frieren sollte, tue ich es trotzdem.

Ich spüre, wie sich meine Augen mit Tränen füllen und fühle mich wie das kleine pummelige Mädchen von damals, das nie jemand in seine Völkerballmannschaft wählen wollte.

„Ina, was ist denn? Sage ich, du bist nicht zu dick, behauptest du, ich würde lügen. Sage ich, du könntest ruhig etwas abnehmen, beginnst du zu weinen. Egal was ich sage, es ist immer falsch!“

Irgendwie stimmt es ja.

Aber sagen wir Frauen nicht nur, unsere Männer würden lügen, weil wir immer wieder die Bestätigung hören wollen, wie schön und schlank wir sind?

Leider hat sich nur noch keiner die Mühe gemacht, diese Logik der Männerwelt begreiflich zu machen. Mit Tränen erstickter Stimme schluchze ich:

„Ich werde es dir schon noch zeigen. Die ganze Welt wird verrückt nach den heißen Kurven der Ina Patschke sein. Ab heute werde ich jeden Tag ins Fitnessstudio gehen und meinen Körper trimmen.“

„Was soll der Spaß kosten?“

Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen. Ihm ist die blanke Angst deutlich anzusehen, mein neues Körperbewusstsein könnte ihn in den finanziellen Ruin treiben.

„Das kann ich dir erst heute Abend sagen. Auf jeden Fall werde ich mich jetzt auf den Weg ins Fitnessstudio machen.“

Bevor Tim weiter darauf eingehen kann, verlasse ich das Wohnzimmer und gehe eine Etage höher, um meine Sportsachen zusammenzupacken.

Ratlos stehe ich in unserem kleinen, begehbaren Kleiderschrank und wühle mich durch sämtliche in Frage kommenden Sporthosen. Leider muss ich entsetzt feststellen, dass ich zwar viele davon im Angebot habe, aber jede von ihnen irgendeinen optischen Mangel aufweist.

Flower Power Aufdruck, Schwangerschaftshose mit Gummizug und verbreitertem Gesäßteil, unmoderne Leggings, Leopardenprint,

Endlich krame ich eine schlichte schwarze Sporthose in Jerseyqualität heraus.

„Schwarz macht schlank!“, denke ich bei mir und packe die Hose zusammen mit einem ebenso schwarzen T-Shirt und den pinkfarbenen Turnschuhen in meine schon etwas verstaubte Sporttasche.

Ich kann mich gar nicht mehr entsinnen, wann ich diese Tasche das letzte Mal für sportliche Aktivitäten verwendet habe.

In den letzten Jahren war sie jedenfalls immer mein treuer Begleiter auf unseren wenig entspannten Urlaubsfahrten in den Schwarzwald. Schnell schnappe ich die Sachen und schaue noch auf einen kurzen Abstecher ins Kinderzimmer vorbei, ehe es ernst wird.

Die Buchentüre zu Maries Zimmer lässt sich nur unter Anstrengung öffnen und kaum habe ich mich in den Raum gekämpft, denke ich, mich trifft der Schlag.

Überall liegt Spielzeug verstreut, kaum ein Quadratzentimeter des Fußbodens ist mehr sichtbar.

Im Augenblick ist Philipp damit beschäftigt, seiner Schwester den Inhalt einer Plastikspielzeugkiste über den Kopf zu schütten und Marie kichert angetan.

Ich beschließe, mich nicht darüber aufzuregen und Tim auch nichts von der blanken Verwüstung zu berichten. Fröhlich verabschiede ich mich von meinen Kindern.

„Marie, Philipp, Mama geht zum Sport. Tschüß ihr beiden!“ An jedem anderen Wochentag würden meine Kinder verrückt spielen, wenn Mama sich erlauben würden, auch nur zum Bäcker um die Ecke zu gehen, ohne sie im Schlepptau zu haben.

Aber nach tagelanger Vorbereitung wissen sie, dass samstags mein hart erkämpfter „Mama-Tag“ ist und nehmen diese Tatsache relativ gefasst hin.

Trotzdem traue ich dem Frieden nicht so ganz und beeile mich, möglichst schnell aus dem Haus zu kommen.

Jetzt bleibt mir nur noch die männliche Hürde im Wohnzimmer, die ich souverän meistern muss.

Tim sitzt wieder vor seinen Akten. Sanft lege ich von hinten die Arme um ihn und hauche ihm einen zarten Kuss auf die Wange.

„Also mein Schatz. Ich bin dann weg. Denk’ an die Kinder!“ Statt meinen Abschiedskuss zu erwidern, runzelt er nur genervt die Stirn.

„Musst du jetzt wirklich schon wieder weg? Denk’ du doch mal an Marie und Philipp.“

„Das mache ich die ganze Woche und einen Tag kannst du am Wochenende wohl für deine Kinder opfern. Tschüß Tim!“

Mit diesen Worten verabschiede ich mich und beeile mich, schnell in Schuhe und Jacke zu schlüpfen, ehe mein Mann weitere Schimpftiraden auf mich niederprasseln lässt. Als ich gerade dabei bin, die Haustüre hinter mir zuzuziehen, höre ich noch wie Tim mir etwas hinterher ruft.

Ich entscheide, dass es besser ist, so zu tun, als würde ich ihn nicht mehr wahrnehmen.

Flink klettere ich in meinen Kleinwagen, drehe das Radio auf und entfliehe dem Alltagsstress.

Während ich an der ersten roten Ampel stehe, die unser Wohngebiet von einer Durchfahrtsstraße abtrennt, überlege ich, in welchem der zwei Fitnessstudios unserer kleinen beschaulichen Stadt ich das Probetraining absolvieren möchte.

Zur Auswahl steht der „Fit Club“ und das „Lady Fitty“.

Das letzte Studio ist ein Fitnessclub nur für Frauen. Der Vorteil daran wäre zweifelsohne, dass ich auf dem Stepper trainieren könnte, ohne meinen Bauch einzuziehen. Andererseits wäre nach dem Training ein Drink an der Bar mit einem attraktiven Trainingspartner auch nicht zu verachten.

Spontan folge ich meinem Bauchgefühl, das mich untrüglich in den „Fit Club“ führt.

Kurze Zeit später stehe ich bewaffnet mit meiner angestaubten Sporttasche vor der verspiegelten Glasfassade und beobachte eine Weile das rege Kommen und Gehen der Mitglieder.

Irgendwie bekomme ich zwischenzeitlich Angst vor meiner eigenen Courage.

Warum alle diese sportbegeisterten Menschen mit ihren perfekten Körpern überhaupt ein Sportstudio aufsuchen, ist mir mehr als schleierhaft und ich erwäge ernsthaft, doch ins „Lady Fitty“ zu gehen.

Plötzlich taucht eine kolossal dicke Frau auf der Bildfläche auf, die vollkommen selbstbewusst durch die Eingangstüre des Sporttempels verschwindet.

„Ina, nichts wie hinterher!“, schreit Paula.

Ich schnappe meine Tasche und folge der Frau unauffällig. Im Eingangsbereich des Fitnessstudios befindet sich eine lange Empfangstheke in Teakholzoptik.

Dahinter steht ein knackiges Kerlchen Anfang 30.

Mit leicht zittrigen Knien gehe ich auf ihn zu, lächele mein bezauberndstes Ina-Patschke-Lächeln und hauche ihm ein betont laszives „Hallo“ entgegen.

„Hallo, was kann ich für dich tun?“

„Ich möchte mir das Studio einmal anschauen und – wenn es möglich ist – ein Probetraining absolvieren.“

Er streicht sich kurz durch sein blondes Haar und wirft einen Blick in den Terminkalender.

Freundlich tritt er hinter der Theke hervor und deutet auf eine Türe mit der Aufschrift „Büro“.

„Komm’ doch einfach mit, dann erkläre ich dir kurz unser Trainingskonzept und zeige dir das Studio. Wenn du möchtest, können wir anschließend ein Probetraining machen.“

Etwas zögerlich folge ich dem Trainer und kann mich dabei auch davon überzeugen, dass sein Hinterteil ebenso lecker ist wie die Frontansicht.

Das Büro ist nicht nur mit einem runden Besprechungstisch und einigen Stühlen ausgestattet, sondern ebenso mit einer Körperfettanalysewaage, die große rote Digitalzahlen in erschreckender Größe an die Wand projiziert.

Die Vorstellung, mich vor den Augen dieses absoluten Traumtyps mit der erschreckenden Wahrheit konfrontieren zu müssen, lässt mich jetzt schon erröten und ich überlege mir, ob es nicht besser ist, an dieser Stelle zu fliehen.

„Ina, beruhige dich! Noch hat er doch gar nichts vom Wiegen gesagt. Setz dich hin!“

Paula schaltet sich wieder ein und ich bin heute mehr als froh, dass ich sie an meiner Seite weiß. Komischerweise verhält sich Knubbi im Moment ziemlich ruhig. Der Trainer holt mich zurück in die Wirklichkeit.

„Was möchtest du denn mit dem Fitnesstraining erreichen? Ich meine in Zahlen, wie viel möchtest du denn abnehmen?“ Auf diese Frage bin ich nicht vorbereitet.

Über mein Körpergewicht habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, zumal das voraussetzen würde, überhaupt zu wissen, wie schwer ich eigentlich bin. Ich weiß nur, dass ich einen flachen Bauch und straffe Kurven möchte und dass mir das schweißtreibende Training dazu verhelfen soll, so knackig wie junges Gemüse zu werden.

„Äh, keine Ahnung. Wie soll ich sagen, ich möchte, dass mein Körper einfach ein bisschen fester wird. Nach der Geburt meiner zwei Kinder hat das Bindegewebe doch ziemlich gelitten.“

Diese Entschuldigung ist doch wirklich perfekt.

Ich brauche mich für nichts zu schämen, denn schließlich hat mein Körper zwei zukünftige Renten-und Steuerzahler hervorgebracht. Perfekt!

Der Trainer nickt verständnisvoll.

„Das ist normal. Trotzdem denke ich, wir kommen nicht drum herum, erstmal deine Anfangsdaten aufzunehmen. Sonst weißt du nicht, welche Trainingserfolge du wirklich erzielt hast.“

Ich gebe mich geschlagen und pflichte ihm bei.

„Okay, also gut.“

Artig folge ich dem knackigen Fitnessguru und stelle mich auf die Waage: „65,8.“

Ungläubig starre ich zwischen Trainer und Wand hin und her. Kann es wirklich sein, dass ich so viel zugelegt habe? Okay, ich muss zugeben, dass es eine ganze Weile her ist, seit ich das letzte Mal Batterien in meine Waage eingelegt habe.

Vermutlich hat mein Unterbewusstsein bereits geahnt, dass es einfacher ist, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, wenn man zwar eine Waage im Haus hat, aber nie die passenden Batterien dafür besorgt.

Der Trainer scheint das Ergebnis nicht weiter verwunderlich zu finden und notiert, als sei es das normalste auf der Welt, dass Ina Patschke ein stolzes Kampfgewicht von 65,8 kg aufweist und damit nie mehr im Winter frieren muss, auf meinem Mitgliederbogen.

Als nächstes rückt er mir mit einer Art Rohrzange zu Leibe.

„Damit kann ich den genauen Körperfettanteil an Hüften und Bauch errechnen. Keine Angst, das tut nicht weh!“ Aufmunternd lächelt er mir zu. Einen solchen Traumtypen in meine Speckrollen kneifen zu lassen, bedeutet für mich nun wirklich den Gipfel der Demütigung.

 

„26,7% - das ist für eine Frau mit deinem Gewicht durchaus noch im Rahmen“, schmunzelt er mir entgegen.

All die ernüchternden Zahlen und Fakten führen aus dem Mund des Mannes mit dem gestählten Körper dazu, dass ich mich zwischenzeitlich mindestens so dick fühle wie ein schwangeres Nilpferd.

Das Ziel, jemals filigran über den Strand unseres Badesees zu schlendern und dabei von den Blicken des Bürgermeisters, des Postboten oder des Bankers in Gedanken ausgezogen zu werden, rückt irgendwie in verdammt weite Ferne. Der Trainer klopft mir aufmunternd auf die Schulter.

„Lass’ dich nicht hängen. Unser Studio hat nicht umsonst über die Grenzen der Stadt hinaus einen überragenden Ruf und du wirst sehen, in ein, zwei Monaten zeigen sich erste Ergebnisse! Ich zeig’ dir jetzt mal unser Studio und dann trainieren wir ein bisschen. Komm’ mit!“

Ich folge dem Muskelpaket etwas zögerlich in einigen Metern Abstand. Im Studio liegt eine eigenartige Geruchsmischung aus Schweiß und Raumdeodorant „Fichtennadeln“.

Ich kämpfe kurz mit meiner Phobie, versuche mich dann aber doch am Riemen zu reißen.

Meine Nase erkennt das Raumdeodorant sofort, schließlich verwende ich es zuhause auch gelegentlich und zwar immer dann, wenn ich heimlich geraucht habe und weder Tim noch die Kinder etwas davon bemerken sollen.

Tim ist hoch erfreut darüber, dass ich endlich meine gesundheitsschädigende Sucht abgelegt habe.

Ihm fehlt gänzlich das Verständnis dafür, wie schwer es tatsächlich ist, sich das Rauchen abzugewöhnen.

Von daher lasse ich ihn lieber in dem Glauben, Nichtraucher zu sein und erspare mir damit eine Diashow des Grauens. Tims bester Freund ist nämlich Vorstand der örtlichen Krankenkasse und hat ihm für sein Projekt „Inas Rauchentwöhnung“ eine Unmenge Fotos zur Verfügung gestellt, auf denen von Raucherbeinen bis schwarz verfärbten Lungen die ganze Bandbreite an Nikotin bedingten Krankheiten bildlich dargestellt ist.

Ich gebe zu, dass diese Aufnahmen immerhin zur Folge hatten, dass ich eine ganze Woche nicht geraucht habe. Leider war irgendwann die Sucht stärker als mein Charakter.

„Hier befinden sich unsere Konditionsgeräte. Hier machst du einen Warm-up auf Stepper, Laufband oder Rad und anschließend das Cool-down, aber dazu kommen wir später noch.“

Wenn ich mir die gequälten Blicke der Sportler so ansehe, wirken die surrenden und brummenden Gerätschaften auf mich wie moderne Foltermaschinen des 21. Jahrhunderts.

So sehr ich mich auch suchend umschaue, ich sehe zwar jede Menge wohlgeformter Körper, aber nirgendwo ein glückliches Gesicht.

Ich verstehe vermutlich zu wenig von Sport. Sonst wäre mir klar, dass Köpertrimmung nicht in der gleichen Liga spielt wie Wellness.

Der Trainer rennt in schnellen Schritten voran. Durch einen schmalen Gang mit Glasdach geht es weiter in die „Muckibude“.

An der einen Ecke des Raumes stehen stählerne Bodybuilder, die auf mich wie der Terminator leibhaftig wirken, und stemmen schwere Gewichte vor einer großen Spiegelfront.

„Muss ich solche Übungen auch machen?“

Der Trainer schüttelt lachend den Kopf.

„Außer du möchtest natürlich Miss Universe werden. Aber ich denke für dein Vorhaben sind die anderen Geräte hier hinten geeignet.“

Gemeinsam gehen wir vorbei an Bauch-, Oberarm-, Oberschenkel-, Gesäß- und Rückentrimmstationen. Mit so viel Technik müsste es doch selbst mir gelingen, meine hartnäckige Fettschürze in stählerne Muskulatur zu verwandeln. Unser Rundgang endet vor den hellen Buchentüren der Umkleidekabinen.

„Wenn du möchtest, kannst du dich hier umziehen und wir machen zum Reinschnuppern ein kleines Konditionstraining.“

Er lächelt mir zu und wendet sich zum Gehen ab.

„Ach ja, ich warte an der Bar!“

Neugierig öffne ich die Türe und bin gespannt wie ein Flitzebogen, was bzw. wer sich dahinter verbirgt. Bis auf einige Kleidungsstücke, Schuhe und einer Trainingstasche erwartet mich definitiv niemand in der großen hellen Umkleidekabine. Ich setze mich erstmal auf eine der Holzbänke und lasse meinen Blick umherschweifen. Neben mir baumelt eine ausgewaschene Jeans mit aufgenähten Glitzersteinchen. Ich kann nicht anders, nehme die Hose vom Haken und halte sie mir zum ultimativen Figurenvergleich an die Taille. Die Besitzerin der Jeans ist frustrierender Weise mindestens ein gutes Drittel schmaler als ich. Ich seufze tief auf und bin einen kleinen Augenblick desillusioniert. Schnell meldet sich Paula zu Wort:

„Eine Ina Patschke gibt nicht so einfach auf! Geh’ raus und kämpfe für deine 90 – 60 – 90 Maße!“

Sie hat doch recht. Also schlüpfe ich eilig in meine Trainingssachen, bewaffne mich mit Philipps Alutrinkflasche bedruckt mit Pinguinen und hetze in Richtung Bar. Der Trainer erwartet mich bereits.

„Okay Ina, dann wollen wir mal zum Laufband gehen!“

Der Anblick des Sportgerätes erinnert mich an die Kassiererin des Supercenters. Ich versuche diesen Gedanken schnell zu vertreiben und konzentriere mich stattdessen auf die Erklärungen meines Fitnessgurus.

„Wichtig ist, dass du nicht einfach stehen bleibst. An den Schaltern hier kannst du die Geschwindigkeit einstellen. Ich würde sagen, dann läufst du für den Anfang einmal locker ź Stunde und dann werden wir sehen, ob wir noch weiter machen.“

Brav folge ich seinen Anweisungen und beginne zu laufen. An der Wand vor mir ist ein überdimensionaler Plasmabildschirm aufgehängt, über den fetzige Videoclips flimmern. Mit Musik macht es richtig viel Spaß auf der Stelle zu traben und ich bemerke gar nicht, wie schnell die ersten zehn Minuten vergehen. Auf dem Stepper neben mir macht sich gerade eine hübsche blonde Mittzwanzigerin an die Arbeit. Beim Anblick dieses Figürchens muss ich unwillkürlich laut seufzen. Die Blondine mustert mich irritiert von oben bis unten. Offenbar gebe ich gerade keinen sehr filigranen Anblick ab. Noch drei Minuten! Zwischenzeitlich fühlen sich meine Beine an wie Blei und es fällt mir sehr schwer nicht aufzugeben. Ich versuche mich abzulenken, indem ich mich in die Videoclips vertiefe. Aber jetzt kann ich wirklich nicht mehr und meine Beine verselbstständigen sich und werden immer langsamer. Und langsamer. Ehe ich mich versehe, reißt mir das Sportgerät den Boden unter den Füßen weg und ich knalle mit einem lauten Klatschen auf das Laufband. Kurzzeitig sehe ich Sternchen. Verschwommen merke ich, wie sich der Kopf des Fitnessgurus über mich beugt.

„Ist alles in Ordnung, Ina?“

Benommen rapple ich mich auf. Um mich herum dreht sich alles. Es kommt mir vor wie in einem schlechten Film, als mich der Trainer in einen Sanitätsraum schleppt und auf eine Liege hievt. Zugegebenermaßen fühle ich mich im Augenblick als wäre ich unter die Räder eines 30-Tonners geraten. Mein Kopf schmerzt wie verrückt und ich merke wie durch einen Schleier, dass der stählerne Mann meiner Stirn mit Verband und Pflaster zu Leibe rückt.

„Ina, bleib hier ganz ruhig liegen. Ich werde jetzt versuchen, jemanden zu erreichen.“

Ich schließe die Augen. Das fühlt sich an als wäre ich auf einem kleinen schaukelnden Segelschiff, das sich durch riesige schäumende Wellen des Ozeans kämpft. Ich habe keine Ahnung wie lange ich auf der ungemütlichen Pritsche im Sanitätsraum des „Fit Clubs“ vor mich hin gedöst habe, als ich plötzlich meine, dass die piepsende Stimme von Klein-Philipp an mein Ohr dringt. Vorsichtig öffne ich die Augen und blicke mich im Raum um. Tatsächlich sehe ich Tim, der mit den Kleinen im Schlepptau auf mich zukommt. Er greift zärtlich nach meiner Hand.

„Was machst du denn für Sachen? Du kleines Dummerchen, hättest du nur auf mich gehört!“

Marie reagiert auf den Anblick, ihrer lädierten Mutter mit hysterischem Geschrei.

„Mama! Mama! Bist du jetzt tot?“

Angesichts der Panikattacke meiner Tochter versuche ich, meine Kopfschmerzen kurzzeitig zu verdrängen und rapple mich von der Sanitätsliege hoch. Ich breite die Arme aus und ziehe meine Kinder wortlos an mich. Philipp scheint fasziniert von dem Verband, den der Fitnessguru mir um den Kopf gewickelt hat. Unentwegt starrt er darauf und packt plötzlich mit seinen kleinen Fingerchen wild entschlossen danach. Mit den Worten „Will Fips auch Indianer sein!“ reißt er mir den Mull von meiner klaffenden Platzwunde. Marie schaut mich an und beginnt beim Anblick der blutenden Kopfwunde noch lauter als gerade eben zu weinen. Völlig von der Rolle umklammert sie die Beine ihres irritierten Vaters. Trotz meiner körperlich etwas angeschlagenen Lage scheint es nun an der Zeit, dass ich meiner hilflosen Familie sage, was zu tun ist. Es ist bei uns wie in beinahe jeder normalen Familie. Ohne die Rudelführerin geht gar nichts. Vorsichtig stehe ich auf. Mein Kopf dröhnt immer noch, als würden sich mindestens zehn Presslufthammer darin zu schaffen machen. Wenigstens Tim erkennt, wie schlecht es mir geht und eilt auf mich zu um mich zu stützen. Der Fitnessguru erscheint wieder mit meiner angestaubten schwarzen Reisetasche im Sanitätsraum und drückt sie meinem Mann in die Hand. Entschuldigend lächelt er mich an.