Chip Chips Jam - 4.

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Chip Chips Jam - 4.
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CHIP CHIPS JAM



ISABELL SOMMER & SWEN REINHARDT



4. Der Schatz in der Elbe




Impressum



Š Isabell Sommer & Swen Reinhardt



published by: epubli GmbH, Berlin



www.epubli.de



ISBN 978-3-8442-7388-5




All rights reserved



Nachdruck, auch auszugsweise, Übersetzung und jede Art der Vervielfältigung oder Wiedergabe nur mit Quellenangabe und schriftlicher Genehmigung der Verfasser.



www.chip-chips-jam.com





Die ersten vom Herbst gelb gefärbten Blätter tanzten vom Wind getragen um die Halfpipe. Der Himmel war wolkenverhangen und die Luft roch bereits ein klein wenig nach Regen. Obwohl es erst Anfang September war, so fühlte sich die Witterung beinahe an wie an einem frostigen Novembertag, der den Beginn eines eisigen Winters einläutete. Zitternd schloss Goofy den Reißverschluss seines Pullovers und zog sich bibbernd die Kapuze über den Kopf. „Es wird ganz schön kalt. Los lasst uns nachhause gehen!“, rief er seinen Freunden zu, die noch unbeirrt in der Halfpipe an den Feinheiten ihrer Tricks arbeiteten. Während Sketchy etwas zögerlich auf ihn zugefahren kam, war Joe offenbar so vertieft, dass er die Welt um sich herum gar nicht wahrnahm. „Joe! Wir wollen gehen!“, versuchte Sketchy seinen Freund zum Gehen zu bewegen, während er seinen Blick sorgenvoll auf die immer dunkler werdende Gewitterfront direkt über ihnen streifen ließ. Ungeduldig kickte Goofy gegen sein Skateboard. „Joe, ich gehe jetzt. Ich habe wirklich keine Lust wegen dir patschnass zu werden“, rief er etwas verärgert in Richtung Pipe. Reichlich genervt wandte er sich wieder Sketchy zu: „Gehst du mit, oder wartest du noch?“ Sketchy schnaufte tief durch, schulterte seinen Rucksack und warf noch einmal einen Blick zurück. „Tschüss Joe! Wenn du dich nicht beeilst, wirst du gleich ziemlich nass!“, verabschiedete er sich. Goofy nickte er nur kurz zu und beschleunigte sein Skateboard auf dem langen Fuß- und Radweg. Kaum waren die beiden um die erste Kurve gebogen, hinter der sich ein ziemlich maroder Spielplatz befand, der eher von Jugendlichen als von Kindern bevölkert wurde, kam Joe schon von hinten mit seinem Board angefahren. „Warum wartetet ihr denn nicht?“, stieß er völlig außer Atem zwischen den Zähnen hervor. Goofy verdrehte etwas genervt die Augen, als er fragte: „Wie oft sollen wir dir noch sagen, dass es gleich regnen wird?“ Joe konnte den Unmut seines Freundes wegen des nahenden Schauers nicht verstehen, und so fuhren sie eine ganze Weile schweigend nebeneinander her. Der Wind hatte deutlich an Stärke zugenommen und die Bäume, die den langen Weg säumten, bogen sich bereits bedrohlich. Es kostet die Jungs einiges an Kraft gegen die Windböen anzukommen und ihre Skateboards meterweise voran zu schieben. Endlich waren sie an der Weggabelung angekommen, die den Passanten die Möglichkeit bot, entweder nach rechts in Richtung Innenstadt zu spazieren oder dem Fußweg entlang der Alster weiterzufolgen. Von hier aus waren es nicht mehr ganz fünf Minuten bis zur Fußgängerzone. Leichter Nieselregen setzte ein, als die Jungen um die Kurve bogen, sodass sie versuchten, noch einmal an Tempo zuzulegen. Gerade als die Chip Chips Jam in eine Seitengasse der Einkaufsmeile einbogen, öffnete der Himmel seine Schleusen und der Regen prasselte unbarmherzig auf die Jungs herab. „Kommt, stellen wir uns unter!“, schrie Joe und wechselte die Straßenseite, um unter der Markise eines kleinen Haushalts-warengeschäfts Schutz vor dem Unwetter zu suchen. In Windeseile beeilten sich auch Sketchy und Goofy ihm zu folgen. Vorsichtig lugten sie unter der schützenden Markise hervor, auf der sich das Wasser zwischenzeitlich bereits zu großen Pfützen gesammelt hatte, um dann in einem Sturzbach herunter zu fließen. „Wann hört es denn endlich auf zu schütten? Mir ist eiskalt!“, jammerte Goofy leise vor sich hin. Seine Lippen waren bläulich gefärbt, und er bereute es zutiefst, dass er nicht dem Rat seiner Mutter gefolgt war und eine Jacke übergezogen hatte. „Irgendwann hört es bestimmt wieder auf!“, beruhigte ihn Sketchy, während er seinen Blick über die kleine verregnete Gasse schweifen ließ. Bis auf ein paar Passanten, die mit ihren bunten Regenschirmen vorbeieilten, war kaum jemand auf der Straße zu sehen. Außer einem Pärchen, das auf der anderen Straßenseite so verliebt unter einem großen Familienschirm turtelte, dass ihnen der Regen nichts antun konnte, hatten sich offenbar zwischenzeitlich alle Passanten vor dem Unwetter in Sicherheit gebracht. Der Regen prasselte immer noch auf die Markise herab, was eigentlich ein ziemlich gemütliches Geräusch verursachte. Vorausgesetzt, man wäre im Warmen, natürlich! Nur ab und zu konnte man durch den Regen das Gelächter der Frau hören, die Arm in Arm mit ihrem Freund die Auslage des gegenüberliegenden Geschenkeladens betrachtete und sich nun langsam abwandte. Wie vom Donner gerührt starrte Sketchy in die glücklichen Gesichter der beiden, die er jetzt das erste Mal sehen konnte. „Das kann doch nicht sein!“, schoss es ihm durch den Kopf, und er riskierte entsetzt einen zweiten Blick, um vollkommen sicher zu gehen. Nein, er hatte sich nicht getäuscht, es handelte sich bei dem Mann zweifelsfrei um Joes Vater, nur die Frau an seiner Seite war nicht Joes Mutter. Er atmete tief durch und warf Joe, der gerade dabei war, seinen Rucksack nach einer Regenjacke zu durchwühlen, einen fragenden Blick zu. Sketchy zerriss es innerlich. Zu offensichtlich war der Betrug, den der Vater seines Freundes an seiner Frau beging. War es besser Joe darauf aufmerksam zu machen, oder sollte er lieber schweigen? Noch bevor Sketchy sich diese Frage beantworten konnte, hatte auch schon Goofy die beiden bemerkt. Er nahm kein Blatt vor den Mund und puffte Joe in die Rippen. „Schau mal da drüben! Ist das nicht dein Vater?“ Joes Blick wanderte auf die gegenüberliegende Straßenseite. Sein Gesichts-ausdruck versteinerte sich innerhalb von Sekunden, als er begriff, dass sein Vater in den Armen einer fremden Frau lag. Kichernd und Händchen haltend schlenderten die beiden langsam weiter ohne die Kinder zu bemerken. Wie vor den Kopf geschlagen blickte Joe ihnen geschockt nach, während sie sich langsam aus seinem Blickfeld entfernten. Er spürte wie sich seine Augen mehr und mehr mit Tränen füllten, die ganz langsam über seine Wangen flossen. Sketchy empfand tiefes Mitleid für seinen Freund und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. Er suchte lange nach den richtigen Worten, bis er schließlich vorsichtig begann: „Vielleicht ist auch alles gar nicht so wie es jetzt scheint, und die Frau ist nur eine gute Kollegin von deinem Vater.“ Goofy lachte künstlich auf und meinte wenig feinfühlig: „Das glaubst du doch wohl nicht im Ernst. Diese Tussi ist die Geliebte von deinem Vater, da bin ich mir ziemlich sicher.“ Joe stand immer noch wie angewurzelt da und brachte kein Wort über die Lippen. Seine Hände und Knie zitterten wie Espenlaub. „Ich glaube nicht daran, dass dein Vater deine Mutter betrügt. Ich habe das Gefühl, dass sie glücklich verheiratet sind“, fuhr Sketchy fort, ohne auf Goofys Kommentar einzugehen. Joe schniefte kurz auf und stammelte niedergeschlagen: „Ich werde es rausfinden, das garantiere ich euch!“ „Und wir werden dir dabei helfen!“, versprach Goofy. Der Regen hatte etwas nachgelassen, als die Jungen ihre Fahrt schweigend fortsetzten. Vor seinem geistigen Auge sah Joe all die glücklichen Momente, die sie als Familie erlebt hatten: Der Urlaub in Italien, das letzte Weihnachtsfest oder der Geburtstag seiner Mutter. War ihr Familienglück etwa nur eine hübsche Fassade, aufgebaut auf einem Berg voller Lügen? Joe überlegte fieberhaft wie seine Eltern in der letzten Zeit miteinander umgegangen waren, und dabei fiel ihm auf, dass er dazu im Grunde gar keine Aussage treffen konnte, da beide äußerst selten gleichzeitig zuhause waren. Bei der Vorstellung, dass seine Familie vielleicht bald wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen würde, verkrampfte sich alles in ihm. Er wollte kein Scheidungskind werden, soviel war ihm klar! Noch hatte er die Fäden in der Hand und konnte vielleicht noch verhindern, dass das Unheil seinen Lauf nahm. Natürlich war ihm klar, dass er dazu erst einmal die absolute Gewissheit brauchte, dass alles auch so war wie es im Moment schien. Zwischenzeitlich waren die Jungen am Ende der Fußgängerzone angekommen, wo sich ihre Wege trennten. Mahnend redete Sketchy noch einmal auf Joe ein: „Hör zu, wenn du jetzt nach Hause fährst, darfst du die Bombe nicht zum Platzen bringen! Du solltest dir erst absolut sicher sein, dass dein Vater tatsächlich eine Geliebte hat. Ich würde vorschlagen, wir heften uns morgen einfach mal an seine Fersen. Einverstanden?“ Joe nickte verhalten, auch wenn er wusste, dass Sketchy natürlich Recht hatte.



Joes Herz klopfte bis zum Hals, als er im Dachgeschoss den Schlüssel der Wohnungstüre ins Schloss steckte und zaghaft herumdrehte. Vorsichtig schlich er die Diele entlang und entledigte sich an der Flurgarderobe seiner nassen Sachen. Stimmengewirr drang aus dem Wohnzimmer. Offenbar war Besuch da. Joe atmete noch einmal tief durch, ehe er die Tür ins Wohnzimmer öffnete und gerade im Begriff war einzutreten. Noch auf der Türschwelle blieb er wie angewurzelt stehen. Das Bild, das sich ihm bot, war einfach zu unglaublich. Seine Eltern saßen gemeinsam mit der unbekannten Frau, die eben noch in den Armen seines Vaters gelegen war, gemütlich auf dem Sofa und unterhielten sich ganz augenscheinlich blendend. „Joe, komm’ doch rein und sag’ hallo!“, begrüßte ihn seine Mutter. Joe war nicht fähig zu reagieren. „Nun setzt dich doch endlich! Das ist übrigens Frau Lübke, meine neue Kollegin“, rief ihm sein Vater freundlich entgegen. Nein, das war zuviel für Joe! Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte wie von der Tarantel gestochen in sein Zimmer, wo er sich schluchzend auf das Bett warf. Warum tat er das seiner Mutter an? Warum war er so unverfroren, dass er seine Geliebte sogar mit in ihre Wohnung brachte, und warum setzte er ihr Familienglück so leichtfertig aufs Spiel? Er liebte Mutter und Vater und wollte von keinem der beiden getrennt werden. Er wollte sich nicht entscheiden, bei wem er leben wollte. Ein leichtes Klopfen an die Zimmertüre riss ihn aus seinen Gedanken. Schnell wischte er notdürftig seine Tränen weg und stellte sich schlafend. Leise öffnete sich die Türe und seine Mutter setzte sich auf den Bettrand. Sanft strich sie ihm über den Hinterkopf, als sie leise fragte: „Was ist denn los mit dir? Ich spüre doch, dass irgendwas nicht stimmt. Möchtest du nicht mit mir darüber reden?“ Joe schluchzte kurz auf. Nichts würde er lieber tun, als ein Gespräch mit seinen Eltern über ihre Zukunft als Familie zu führen, doch er wusste genau, dass das zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich war. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als zu einer Notlüge zu greifen. „Ich fühle mich so krank. Mir geht’s einfach nicht gut“, stammelte er. Der sorgenvolle Blick seiner Mutter ruhte eine Weile auf ihm. Fürsorglich legte sie ihren Handrücken kurz auf seine Stirn. „Fieber hast du aber nicht!“, diagnostizierte sie schnell. „Was fehlt dir dann?“ Joe zuckte die Schultern. Es fiel ihm schwer seine Gefühle unter Kontrolle zu halten, und nicht augenblicklich wieder in Tränen auszubrechen. „Mein Kopf und meine Glieder schmerzen. Ich glaube, ich schlafe ein bisschen!“, log er. „Mach’ das, mein Sohn. Wenn du mich brauchst, ruf einfach! Ich bin dann sofort bei dir“, sagte seine Mutter und wandte sich bereits wieder zum Gehen ab. Endlich schloss sie die Türe hinter sich, als aus Joe sein ganzer Schmerz herausbrach. Er heulte wie ein Schlosshund und war irgendwann vom vielen Weinen so erschöpft, dass er in einen unruhigen Schlaf fiel.

 



****



Es war Punkt sechs Uhr am nächsten Morgen, als Joes Wecker die ruhelose Nacht endgültig beendete. Missmutig stieg er aus dem Bett und trat zunächst an das Fenster, von wo aus sich ein wunderschöner Blick über die Dächer der Hansestadt bot. Immer noch hingen einzelne dunkle Regenwolken über dem Morgengrauen. Es schien fast so, als habe sich das Wetter seiner üblen Laune angepasst. Nach einer ausgedehnten Morgendusche erschien Joe in der Küche, in der sie jeden Morgen gemeinsam frühstückten. Sein Vater saß vor einer Kaffeetasse und studierte aufmerksam die Zeitung, während seine Mutter gerade dabei war Pausenbrote zu schmieren. „Guten Morgen, Joe! Geht’s dir wieder besser?“, rief sie ihm freundlich entgegen. Selbst sein Vater legte die Zeitung beiseite, musterte seinen Sohn mit hochgezogenen Augenbrauen verwundert und fragte schließlich erstaunt: „Guten Morgen, was fehlt dir denn?“ Widerwillig beantwortete Joe die Nachfragen, während er sich eine kleine Glasschüssel mit Müsli befüllte. „Guten Morgen, es geht wieder. Ich hatte ziemlich Kopfschmerzen.“ Lustlos rührte Joe in seiner Schüssel herum und fragte sich, wie er wohl das Thema am Unauffälligsten auf Papas neue Kollegin lenken konnte. Na klar, er musste sich doch nur nach dem gestrigen Abend erkundigen! Nachdem er sich kurz geräuspert hatte, begann er unsicher: „Wie lange war der Besuch gestern noch da?“ Seine Mutter hatte sich zwischenzeitlich ebenfalls einen Kaffee eingegossen und sich zu ihnen an den Tisch gesetzt. Sie gähnte herzhaft, ehe sie antwortete: „Ich glaube, wir sind noch bis kurz vor elf gesessen. Schade, dass es dir nicht gut ging. Frau Lübke ist wirklich ein sehr unterhaltsame Person.“ Stimmt, gestern hat man gesehen wie gut Papa sich mit ihr amüsiert hat, schoss es Joe durch den Kopf. „Seit wann hast du eigentlich eine neue Kollegin, Papa?“, hakte Joe so unbeteiligt wie möglich nach. „Seit etwa zwei Wochen. Wieso fragst du?“, erwiderte sein Vater. Joe zuckte die Schultern und gab sich Mühe, seine Antwort unauffällig klingen zu lassen. „Einfach so, es hat mich eben interessiert.“ Die komische Reaktion seines Vaters auf eine ziemlich normale Frage schob er auf das schlechte Gewissen, das ihn wohl quälte. „So, ich muss jetzt ins Büro. Heute Abend wird es wohl später, Schatz!“ Sein Vater stand auf, gab seiner Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange und strich Joe über das Haar. Damit war er verschwunden.



Den ganzen, langen Schulalltag nagten an Joe quälende Sorgen. Es gelang ihm nur sehr schwer, seine Gedanken auf den Unterricht zu konzentrieren und so war er sehr erleichtert, als das durchdringende Läuten des Gongs die Schule für heute beendete. Hektisch warf er Mäppchen und Hefte in seinen Schulrucksack und beeilte sich, das Schulgebäude so schnell wie möglich zu verlassen. Vor dem großen schmiedeeisernen Tor, hinter dem sich das weitläufige Schulgelände befand, warteten bereits Goofy und Sketchy auf ihn. „Hi Joe! Hast es auch endlich geschafft?“, rief ihm Goofy zur Begrüßung entgegen. „Hallo ihr zwei! Länger hätte ich das heute auch nicht ertragen!“, erwiderte Joe mit einem etwas gequälten Lächeln. „Was haltet ihr davon, wenn wir erstmal an der Pizzabude um die Ecke einbremsen und uns etwas zu Kauen besorgen?“, fragte Sketchy, dessen Magen schon seit einiger Zeit knurrende Geräusche von sich gab. Zustimmend nickten ihm die Anderen zu, und kurze Zeit später standen sie vor dem kleinen Imbiss. Das „Pizza-Eck“ hatte seine besten Zeiten schon lange hinter sich. Die Einrichtung bestach durch einen etwas verstaubten 70er-Jahre Charme. Die einst hell gestrichenen Wände waren zwischenzeitlich vollkommen vergilbt, und der in italienischen Landesfarben gehaltene Thekenlack blätterte an allen Ecken und Enden ab. Nichts desto trotz gab es hier die beste Pizza in ganz Hamburg und den wahrscheinlich sympathischsten Gastgeber auf der gesamten Erdkugel. Giovanni war ein kleiner, etwa 60-jähriger Italiener, dessen dunkle Knopfaugen voller Lebensfreunde strahlten und der immer ein freundliches Wort für seine Gäste übrig hatte. Auch heute freute sich der Pizzabäcker sehr, die Jungs mal wieder im „Pizza-Eck“ zu sehen. Er klopfte die staubigen Mehlhände an seiner blauen Schürze ab, trat hinter der Theke hervor und verbeugte sich etwas übertrieben vor den Jungen. „Ciao! Wie schön euch zu sehen! Wie geht es euch? Einmal Pizza Giovanni Speziale, wie immer?“ Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Man konnte einfach nicht anders, als sich von der guten Laune des lachenden Italieners mitreißen zu lassen. „Ciao Giovanni! Natürlich wie immer – Pizza Giovanni Speziale!“, lachte Joe und ließ sich auf die hohen Barhocker fallen, die vor einem Brett, das dem Imbiss als Tischersatz diente, aufgereiht waren. Die Pizza Giovanni Speziale konnte man auf der Speisekarte des „Pizza-Ecks“ nicht finden. Sie war eine Eigenkreation der Jungen, die sie an einem verregneten Sonntag bei dem verblüfften Italiener bestellt hatten. Obwohl die Auswahl des Pizzabelags, nämlich Tortellini, Zwiebeln, Ananas und Ei, nicht sehr gut harmonierte, so schmeckte die fertige Pizza doch unbeschreiblich lecker und wurde schnell zum Leibgericht der Jungs. Der Italiener hatte zwischenzeitlich schon ein kleines Notizblöckchen gezückt und in unleserlichen Hieroglyphen die Bestellung notiert. Mit einem eifrigen Blick in die Runde fragte er: „Si, Pizza Giovanni Speziale. Was wollt ihr trinken! Vier Cola?“ Eifriges Nicken schlug ihm entgegen. Obwohl die Bestellung der Chip Chips Jam jedes Mal die gleiche war, so ließ es sich Giovanni doch nicht nehmen, alles genau mitzuschreiben. „Joe, leider habe ich die Antipasti für deinen Papa noch nicht fertig. Sonst hätte ich sie dir natürlich gleich mitgegeben. Aber ich fürchte, er muss die Antipasti doch um 19 Uhr holen. Mi dispace!“ Damit grinste er noch einmal in die Runde und verschwand hinter seiner Theke. Zurück blieb ein ziemlich verwunderter Joe, der dem Italiener etwas ratlos hinter herblickte, und dann stammelte: „Was für Antipasti? Wozu sollte mein Vater Essen bestellen, wenn meine Mutter doch jeden Tag kocht?“ „Vielleicht eine Überraschung für sie!“, mutmaßte Sketchy. „Wahrscheinlich eher eine Überraschung für die Frau, mit der er sich gestern im Regen vergnügt hat!“, schaltete sich Goofy blitzschnell ein. Joe zuckte die Schultern. Plötzlich fiel ihm ein, dass er seinen Freunden noch gar nicht vom gestrigen Abend erzählt hatte und legte sofort los: „Ihr glaubt nicht, wer gestern auf unserem Sofa gesessen ist, als ich heimgekommen bin! Genau diese Frau! Angeblich ist sie Papas neue Arbeitskollegin und heißt Frau Lübke. Meine Mutter war so begeistert von dieser Frau, dass sie regelrecht ins Schwärmen geraten ist!“ Seine Freunde starrten ihn ungläubig an. „Also, das ist wirklich der Hammer! Entweder die Sache ist wirklich harmlos und wir haben uns gestern irgendwas eingebildet oder dein Vater ist ein Lügner vom Allerfeinsten“, sagte Goofy fassungslos. „Giovanni hat doch gesagt, er holt um sieben das Essen ab. Wir erwarten ihn einfach hier und heften uns an seine Fersen. Dann werden wir doch rausbekommen, was hier Phase ist“, überlegte Sketchy laut. Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als Giovanni die heißdampfende Pizza servierte und sich zu ihnen setzte.



Es war schon stockfinstere Nacht, als sich die Jungen um kurz vor sieben hinter den Altglascontainer kauerten, der genau gegenüber dem Pizza-Eck aufgestellt war. Von hier aus konnten sie das Kommen und Gehen der Gäste unauffällig beobachten. Der Wind heulte eisig um die Ecken, und die Luft roch fast schon ein wenig nach Schnee. Es dauerte nicht lange, da erschien auch schon Joes Vater auf der Bildfläche. Den Kragen seines braunen, langen Wintermantels hat er tief ins Gesicht geschlagen. Joe hätte ihn gar nicht sofort erkannt, würde unter seinem rechten Arm nicht die abgenutzte, wildlederne Aktentasche klemmen. „Da, jetzt kommt er!“, tuschelte Joe leise und deutete vorsichtig in die Richtung, aus der sich sein Vater mit schnellem Schritt näherte. Aus ihrem Versteck heraus konnten die Jungen beobachten wie schnell er von Giovanni bedient wurde, sein Portemonnaie zückte und dann das Pizza-Eck wieder verließ. „Achtung! Wir müssen ihm unauffällig folgen!“, wisperte Goofy und huschte vorsichtig aus dem Versteck hervor. Er hielt kurz inne und winkte dann den beiden Anderen ihm zu folgen. Der Schritt des Verfolgten wurde immer schneller, sodass die Jungen beinahe rennen mussten, um seine Spur nicht an der nächsten Straßenecke zu verlieren. „Nach Hause geht der jedenfalls nicht! Das ist komplett die falsche Richtung!“, flüsterte Joe. Die Spannung in seinem Inneren zerriss ihn fast. Inständig hoffte er, dass sein Vater die Richtung wechseln und endlich den Heimweg einschlagen würde. Zwischenzeitlich waren sie in der Hamburger Speicherstadt angekommen, einem Viertel in unmittelbarer Hafennähe, das früher zur Lagerung von Tee, Kaffee und Gewürzen genutzt wurde. Die meisten der Lagerhäuser waren so gebaut, dass sie jeweils auf der einen Seite einen Zugang zum Wasser hatten und an der anderen Seite an der Straße gelegen waren. Herr Sommer eilte weiter über unzählige Brücken und bog schließlich in den Eingang eines alten Lagerhauses ein. Die Jungen warteten noch ein wenig ab. „Jetzt können wir ihm hinterher. Er hat genug Vorsprung, um uns nicht zu bemerken!“ Goofy, der eine Vorliebe für Detektivspiele hatte und dessen bevorzugter Lesestoff Kriminalromane waren, übernahm ohne zu Zögern die Rolle des Anführers. Joe und Sketchy gehorchten ihm widerstandslos, da sie eigentlich sehr froh waren die Verantwortung an ihren Freund abgeben zu können. Leise schlichen sie durch die massive Holztüre, über der ein großes, verblichenes Schild mit der Aufschrift „Pepe Brazilian Café“ angebracht war. Der alte Holzboden knackte bedrohlich unter ihren Füßen. An der Decke über ihnen thronten hunderte von Spinnen, die die Holzbalken mit zahllosen Spinnweben überzogen hatten, in denen sich Unmengen kleiner Insekten und gelbbrauner Staub verfangen hatte. „Psst! Ich höre Stimmen!“, wisperte Joe. Keiner der Jungen wagte sich zu bewegen, und tatsächlich konnten sie in der Ferne das hallende Echo zweier Stimmen wahrnehmen. Vorsichtig schlichen sie auf Zehenspitzen weiter, immer darauf bedacht auf dem alten, knarrenden Holzboden keine zu schnellen Bewegungen zu machen. In der Luft lag eine eigenartige Mischung aus dem wohlriechenden Duft gerösteter Kaffeebohnen und dem verstaubtem Mief der vergangenen Jahrzehnte. Langsam wurden die Stimmen immer deutlicher, und Joe konnte die dunkle, markante Stimme seines Vaters deutlich heraushören, obwohl er nicht besonders laut sprach. Am Ende des langen Ganges lag direkt vor ihnen die große Lagerhalle, in der säckeweise geröstete Kaffeebohnen übereinander gestapelt waren. Ganz eng an die Wand gepresst schlichen die Jungen immer näher, bis sie schließlich direkt an der Ecke stehen blieben. Sie mussten jetzt ganz nah bei Joes Vater sein. Komischerweise war außer einem gelegentlichen Knacken der Holzbalken überhaupt nichts zu hören. Immer auf der Hut nicht entdeckt zu werden, lugten die Jungen gespannt um die Ecke. Doch Joe wollte nicht glauben, was er da zu sehen bekam. Er rieb sich die Augen und wagte einen zweiten Blick. Aber leider änderte sich das Bild nicht, das sich ihm bot. Inmitten von Kaffeesäcken lag auf einem kleinen, unbedeckten Fleck eine rote Wolldecke auf dem Boden ausgebreitet, und die Umgebung wurde in das warme Licht flackernder Kerzen getaucht. Neben einer edlen Flasche Champagner standen zwei langstielige Sektflöten in einer Reihe mit dem bei Giovanni gerade gekauftem Antipasti-Teller. Was ihm aber die Luft zum Atmen nahm, war der Anblick, der sich auf der Decke bot: Sein Vater lag mit dem Rücken auf der Decke und auf seinem Schoß saß „Frau Lübke“, deren Oberkörper vollständig nackt war. Kichernd schob sie Herrn Sommer mit spitzen Fingern die italienische Vorspeise zwischen die Lippen. Dann beugte sie sich voller Leidenschaft über ihn, nahm seinen Kopf zwischen beide Hände und küsste ihn feurig, was Joes Vater erwiderte. Joe starrte so entsetzt auf das sich am Boden rollende Liebespärchen, dass er dabei vollkommen vergaß, sich weiter in Deckung zu halten. „Komm’ hinter die Mauer!“, raunte ihm Goofy zu und zog ihn dabei mit einem festen Griff am Oberarm zu sich. „Das gibt’s doch wohl wirklich nicht! Unfassbar! Dieser verlogene Kerl trifft sich in einem Lagerhaus mit seiner Geliebten! Da wird es wohl nur eine Frage der Zeit sein, bis sich meine Eltern scheiden lassen!“, stammelte Joe sichtlich aufgewühlt. Seine Augen glänzten verdächtig, und auf seiner Stirn hatten sich tiefe Falten gebildet. „Na komm, so schlimm wird es vielleicht auch nicht gleich werden“, beschwichtigte Sketchy ihn mitfühlend. „Pst! Wenn ihr weiter so schreit, werden die uns gleich bemerken!“, schimpfte Goofy. „Los, lasst uns lieber schnell verschwinden!“ Damit packte er seine Freunde an den Händen und zog sie hinter sich hier in Richtung Ausgang. Erst bei Tageslicht konnte man erkennen, dass Joes Gesicht überzogen war von roten Stressflecken. Seine Augen waren vom Weinen schon stark gerötet. „Dieses Schwein!“, stieß er durch seine aufeinander gepressten Lippen hervor, und die beiden Anderen konnten nur erraten, wie schrecklich sich Joe in dieser Situation fühlen musste. Ziemlich geknickt schlenderten sie zurück in Richtung Innenstadt und überquerten dabei wieder zahllose kleine Brücken, die sich beinahe wie in Venedig über die Kanäle des Viertels zogen. Eine ganze Zeit waren sie nun schweigend nebeneinander hergelaufen, als sie vor einer Fußgängerampel, die Rotlicht zeigte, zum Stehen kamen. Voller Rage holte Joe aus und kickte wütend mit dem Fuß in einen an der Ampelanlage montierten Abfalleimer, als wolle er ihn für das Verhalten seines Vaters strafen. „Ah, verdammt! Tut das weh! So ein Mist!“ Fluchend hüpfte Joe auf einem Bein herum, als wäre er Rumpelstilzchen. Keiner seiner Freunde wagte jedoch auch nur daran zu denken, über seine Ungeschicktheit zu lachen oder gar ihn darauf hinzuweisen, dass das wohl zu erwarten gewesen wäre. Stattdessen fühlten sie alle mit ihm und überlegten, mit welchen Worten es ihnen wohl gelingen würde, Joe ein bisschen zu beruhigen. Die Ampel schaltete auf grün, und die Jungen setzten sich in Bewegung, um die Straße zu überqueren. Dabei stützen sie rechts und links den humpelnden Joe, der seinen körperlichen Schmerz schon fast überwunden hatte, sich aber jetzt dem ganzen Ausmaß seines seelischen Leids bewusst wurde und Rat bei seinen Freunden suchte: „Was soll ich denn bloß machen? Ich kann doch schlecht zu meiner Mutter gehen, und ihr sagen, was ich heute gesehen habe, oder?“ Augenblicklich schüttelten beide energisch mit den Köpfen. „Ich denke nicht, dass es schlau ist deiner Mutter alles zu erzählen“, sagte Goofy und Sketchy schob noch hinterher: „Da kannst du gleich die Scheidung einreichen!“ Joe zuckte die Schultern und musterte seine Freunde mit einem ratlosen Blick, als er zögernd meinte: „Aber ich kann doch meinem Vater nicht einfach dabei zu sehen, wie er unsere Familie zerstört. Es muss doch irgendetwas geben, was ich machen kann, dass es nicht soweit kommt!“ Sketchy kratzte sich nachdenklich am Kopf. Er konnte sich zu gut in die Lage seines Freundes versetzten, schließlich war er selbst zum Opfer der Scheidung seiner Eltern geworden. Allerdings war damals kein neuer Partner im Spiel. Vielmehr versuchten seine Eltern Sketchy in einem langen Gespräch zu erklären, dass sie sich nicht mehr lieben würden und sich auseinander gelebt hätten. Eine Scheidung war damals schon beschlossene Sache und ihm blieb keine andere Wahl, als sich wohl oder übel damit abzufinden. Nie hatte ihn ein Erwachsener nach seiner Meinung gefragt, selbst dann nicht, als es darum ging zu entscheiden, ob Sketchy in Zukunft bei seiner Mutter oder seinem Vater leben möc

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