Chip Chips Jam - 2.

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Chip Chips Jam - 2.
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CHIP CHIPS JAM

ISABELL SOMMER & SWEN REINHARDT

2. Die Meisterschaft

Impressum

Š Isabell Sommer & Swen Reinhardt

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-7386-1

All rights reserved

Nachdruck, auch auszugsweise, Übersetzung und jede Art der Vervielfältigung oder Wiedergabe nur mit Quellenangabe und schriftlicher Genehmigung der Verfasser.

www.chip-chips-jam.com

Die alte Dame wurde langsam aber sicher ungeduldig. „Nun Jungs, habt ihr euch so langsam entschieden?“, drängte sie. Mit verschwörerischem Blick griff jeder der Boarder zu einer „Santa Cruz“ Basecap im Feuerdesign. Die Vorräte des Ladens waren geplündert und als wäre es eine Trophäe gingen die Jungen damit stolz zur Kasse. Der junge Verkäufer scannte die Artikel ein und beglückwünschte die Jungs zum Kauf dieses geschmackvollen Skateraccessoires. An Frau Weber gewandt kassierte er den Preis. „Das macht dann genau 60,00 Euro, bitte! Wollt ihr die Caps gleich anziehen oder soll ich sie einpacken?“ Die Jungs schüttelten entschlossen den Kopf und zogen sich die Mützen gleich über. „Danke, Frau Weber.“ Sketchy und Joe drückten die Hand der alten Dame herzlich, als sie wieder auf der schmalen Seitenstraße vor dem Laden standen. „Ich habe das wirklich gerne gemacht. Trotzdem werde ich euch immer zu Dank verpflichtet sein und nie vergessen, was ihr beide für mich getan habt. Hoffentlich konnte ich euch damit wenigstens eine kleine Freude machen.“ Sie wandte sich an ihren Enkel. „So, Marc! Meine Beine brauchen jetzt eine kleine Pause. Ich werde mich auf den Nachhauseweg machen. Soll ich dich zu deinen Eltern bringen?“ Vehement schüttelte er den Kopf. „Nein danke, Oma! Das Wetter ist so genial, ich mache noch einen kleinen Abstecher zur Pipe. Wie sieht’ s mit euch aus, kommt ihr mit?“ Weder Joe noch Sketchy hatten ihr Board mit zu dem Vernehmungstermin genommen, was sie nun bitterlich bereuten. Der Weg durch halb Hamburg nach Hause und wieder zurück zur Pipe würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Trotzdem hatten sie unbandige Lust mit Marc noch ein paar Runden zu drehen und die Fahrkünste ihres neuen Bekannten genauestens unter die Lupe zu nehmen. „Wir würden sehr gerne mitkommen, aber leider hat keiner von uns sein Board dabei!“ Marc sprang währenddessen mit seinem Brett den Gehsteigrand auf und ab. Diesen Trick beherrschte er zugegebenermaßen ziemlich gut. Er fing sein Brett mit einer gekonnten Handbewegung auf, als er antwortete: „Für heute können wir uns mein Skateboard teilen. Gehen wir zur der Pipeanlage an der Alster oder bei den Landungsbrücken?“ Sie entschieden sich, zu der näher gelegenen Anlage an den Hamburger Landungsbrücken zu laufen, obwohl die Halfpipe meistens sehr überlaufen war. Oma Weber verabschiedete sich herzlich mit einem schmatzenden Kuss auf die Wange ihres Enkels und drückte Joe und Sketchy fest an sich, bevor sie sich in die umgekehrte Richtung auf den Weg zum Taxistand machte. Munter plaudernd liefen sie von Poppenbüttel in Richtung Landungsbrücken. Der Weg zog sich doch länger hin als erwartet, und sie kamen erst nach einer knappen ˝ Stunde an. Wie erwartet herrschte reger Betrieb und auf der Anlage wimmelte es vor Skatern wie in einem riesigen Ameisenhaufen. Neben der Pipe waren einige schattige Parkbänke unter einer alten Linde. Sketchy, Joe und Marc ließen sich darauf fallen und beobachteten das bunte Treiben eine Weile schweigend. „Jetzt, wo wir unter uns sind, kann ich euch auch meinen Spitznamen in der Skaterszene verraten. Also nennt mich bitte nicht Marc, sondern Goofy! Vor meiner Großmutter wollte ich es nur nicht erwähnen. Sie meint, Marc wäre ein so schöner Name ganz im Gegensatz zu Goofy.“ Sketchy musste herzlich lachen. Irgendwie kam ihm das Ganze bekannt vor. „Okay, dann bist du für uns ab jetzt Goofy! Ist auch wirklich ein cooler Spitzname!“ Joe schnappte sich Goofys Brett und inspizierte es fachmännisch. Das Skateboard war ein Freestyle-Modell der höheren Preisklasse mit einem ziemlich coolen Design. „Darf ich dein Brett mal testen?“ „Klar Joe, kein Problem! Zeig mal, was du so drauf hast!“ Das musste er ihm nicht zweimal sagen. Er schnappte sich das Brett und fuhr zum Aufwärmen ein paar Runden um den asphaltierten Belag, der rund um die Pipe geteert war. Das Skateboard hatte eine einmalige Kurvenlage und reagierte auf jede Bewegung seines Fahrers blitzschnell. Der Unterschied zwischen seinem und Goofys Brett war deutlich bemerkbar. Vorsichtig wagte er sich in die Halfpipe. Anfangs fuhr er langsam, aber nach einiger Zeit wurde er sicherer und sicherer, bis er schließlich den Rollen unter seinen Füßen mehr und mehr vertraute und sich bedacht an die ersten Tricks heranwagte. Mit der Zeit wurde seine Fahrt immer schneller und waghalsiger. Verschwitzt sprang er nach einiger Zeit vom Skateboard und ließ sich neben Sketchy und Goofy auf die Bank fallen. Anerkennend klopfte ihm Goofy auf die Schulter. „Mann, das war ganz große Klasse! Du hast es wirklich drauf!“ Joe wuchs bei all den Komplimenten innerlich einige Zentimeter. Sicher wusste er, dass sich sein Können auf dem Brett durchaus zeigen lassen konnte. Schließlich hatte er auch lange genug hart dafür trainiert, trotzdem aber tat es seinem Ego gut, ab und zu eine Bestätigung von anderen Boardern zu bekommen. Joe zuckte mit den Schultern und wehrte bescheiden ab. „Na ja, alles ist ausbaufähig. Aber vor lauter Schulstress, den mir meine Eltern machen, komme ich immer seltener zum Trainieren. Gott sei Dank sind bald Sommerferien!“ Goofy nahm sein Brett wieder an sich und fuhr seinerseits ein paar Showrunden. Er war nicht schlecht, auch wenn er noch lernen musste, seine Tricks etwas sauberer herauszufahren. Sketchy musste sich neidlos eingestehen, dass er mit Abstand der Schlechteste der Gruppe war, wobei ihn diese Tatsache unheimlich motivierte, alles aus sich heraus zu holen. Goofy drehte noch eine lockere Runde, bremste scharf vor den beiden anderen ab und schob das Brett Sketchy direkt vor die Füße. „Jetzt bist du dran!“ Goofy merkte sehr wohl, dass Sketchy zögerte und sich nicht vor den beiden anderen blamieren wollte. Aufmunternd lächelte er ihm zu. „Na komm schon! An Meister Joe kommt sowieso keiner ran, das ist doch klar!“ Langsam erhob sich Sketchy. Unsicher fuhr er auf dem fremden Board ein paar Mal hin und her und stoppte vor den Jungs, ohne sich auf die Pipe gewagt zu haben. „Wenn ich etwas vorführen soll, dann mache ich das nur mit meinem eigenen Brett!“ Dieses Argument saß. Es war selbst für einen Könner schwierig auf einem neuen Board seine ganzen Fähigkeiten zu entfalten. Verschwitzt ließ sich Sketchy neben die Jungs auf die Bank fallen. Unterdessen kramte Goofy suchend in seinem großen, tarnfarbenen Rucksack. Seine Suche wurde von lautem Geschimpfe begleitet: „Verdammt, irgendwo muss er doch sein! Das gibt’s nicht! Ich habe ihn doch eingepackt!“ Endlich zog er einen silbern glänzenden MP3-Player mit daran angeschlossenen kleinen Miniboxen heraus. „Ein bisschen Musik gefällig, Jungs?“ Ohne eine Antwort auf seine Frage abzuwarten, schaltete er das Gerät an und wippte mit seinem Kopf rhythmisch zu der aus den Lautsprechern dröhnenden Musik. „Ich finde zu einer richtigen Jam gehört auch der richtige Beat!“ Nachdem Goofy diesen Satz ausgesprochen hatte, hielt er kurz inne und kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Ihr zwei seid die Chip Chips. Ein passender Name für eine Zweiergruppe Boarder. Jetzt, wo wir zu dritt sind, gehört eigentlich noch ein dritter Namensteil dazu. Was haltet ihr von Chip Chips Jam?“ Die beiden anderen Jungs schienen hellauf begeistert. Sketchy wiederholte den Namen mehrere Male hintereinander.

Das ist wirklich ein krass cooler Name! Je öfter ich ihn sagen, umso besser gefällt er mir!“ Auch Joe war hin und weg von Goofys Vorschlag zu der kleinen Namenserweiterung, die passend zu der Vergrößerung ihrer Skatergang war. „So nennen wir uns ab jetzt! Keine Skaterclique der Stadt hat einen cooleren Namen, davon bin ich felsenfest überzeugt! Wenn wir damit beim Wettbewerb antreten, haben wir schon fast gewonnen! Einfach genial, Goofy!“ Ihre Santa-Cruz Basecaps tief ins Gesicht gezogen, saßen sie noch eine ganze Weile im Schatten auf der Parkbank, hörten Musik und unterhielten sich über ihren Auftritt beim Skate-Wettbewerb und das dafür nötige ab morgen täglich angesetzte Training. Die Jungen hatten Blut geleckt. Sie wollten unbedingt siegen und alles dafür geben, dass der Traum auch in Erfüllung gehen würde. In ihrer blühenden Fantasie sahen sie sich vor ihrem geistigen Auge vor einer Unmenge kreischender Fans die Pipe rauf und runter düsen. Jeder noch so spektakuläre Trick gelang perfekt. Sketchy riss die anderen aus ihren Tagträumen. „Weiß einer von euch genau, wo der neue Hamburger Skaterpark ist? Ich war noch nie da. Aber ich habe von einem Klassenkameraden gehört, dass da viel geboten wird. Bowl, Pool, Banks, Quarters, Rails, Curbs eben alles, was das Herz begehrt. Das wäre doch der optimale Trainingsort für die Chip Chips Jam, oder wie seht ihr das?“ Goofy stimmte ihm mit heller Begeisterung zu. „Natürlich Sketchy! Warum sollen wir uns mit einer ordinären Pipe zufriedengeben, wenn wir das ganze Programm haben können?“ Joe meldete sich zu Wort. „Ich dachte, der Skaterpark ist noch gar nicht ganz fertig gestellt. Aber ich werde mich gleich zuhause an den Computer setzen und die Adresse ausfindig machen. Das wäre wirklich optimal für die Wettkampfvorbereitung!“ Mit diesen Worten erhob er sich langsam. Heute Abend wollte er nicht so spät nach Hause kommen, schließlich war morgen sein Geburtstag. Er konnte es vor Spannung kaum noch aushalten, endlich das Geschenk seiner Eltern in den Händen zu halten. „Ich pack’s dann! Wann und wo treffen wir uns morgen zum Training? Ich kann aber erst ab drei. Die Verwandtschaft kommt morgen zum Mittagessen. Da sie wegen meiner Geburtstagsfeier kommen, kann ich mich unmöglich vorher abseilen.“ Verständnisvoll nickten Sketchy und Goofy. Jeder der beiden Kinder kannte die familiäre Verpflichtung am Geburtstag nur zu gut. Es war bei den Jungen wie in jeder normalen Familie in Deutschland: Am Geburtstag ließ man überdurchschnittliche Küsse von Tanten, Onkel, Großmüttern und Großvätern, Cousins und Cousinen über sich ergehen in der vagen Hoffnung, das favorisierte Geschenk zu ergattern. „Okay, Joe! Dann drück’ ich dir die Daumen, dass dir deine Eltern auch tatsächlich das Santa Cruz Board schenken. Wir werden ja morgen Nachmittag sehen, ob du immer noch mit deinem uralten Board bei uns auftauchst!“ Sketchy unterstrich diesen Kommentar mit einem schelmischen Grinsen. Ohne sein total aus der Mode gekommenes Brett hätten sie sich vermutlich gar nicht kennengelernt. Lachend quittierte Joe die Bemerkung seines Kumpels mit einem leichten Klaps auf dessen Hinterkopf. „Lern’ du erstmal den Ollie ordentlich, bevor du frech wirst! Also morgen, um drei an der Alster-Pipe?“ Sketchy und Goofy stimmten nickend zu. „Okay, bis morgen! Und toi toi toi!“ Goofy hielt seinen rechten Daumen fest gedrückt in die Luft. Joe klatschte den Rest der Chip Chips Jam ab und joggte im lockeren Laufschrift in Richtung U-Bahn-Station davon.

 

In der kleinen Dachgeschosswohnung lag der süße Duft frischgebackenen Kuchens in der Luft, und Joe hörte seine Mutter in der Küche hantieren. Sie hatte ihre rosa karierte Küchenschürze um ihre schlanke Hüfte gebunden und war gerade dabei, Joes Lieblingskuchen mit Schokoladenguss zu verzieren. Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie Joe gar nicht kommen hörte. Er schlich sich auf Zehenspitzen leise von hinten an und piekste ihr mit beiden Zeigefingern seitlich in die Rippen. „Ha!“ Beinahe wäre ihr die Schüssel mit der flüssigen Schokoladenglasur aus der Hand gefallen, als sie erschrocken herumfuhr. “Oh mein Gott! Musst du dich immer so an mich ran schleichen? Es ist kein Wunder, wenn ich eines Tages tot umfalle, weil mein Herz diese Aufregung nicht mitmacht!“ Trotz des gespielten Ärgers drückte sie ihren Sohn lachend an sich. „Na, mein Sohnemann? Papa hat mir schon von dem Vernehmungstermin und eurer Shoppingtour mit Frau Weber erzählt. Die Mütze hast du wohl abgestaubt?“ Neckend zog sie Joe die Cap so tief ins Gesicht, dass es vor seinen Augen stockdunkel wurde. Schnell befreite er sich aus der Umarmung seiner Mutter und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange, bevor er mit seinem unwiderstehlichen Dackelblick fragte: „Mama, darf ich kurz an deinen Computer?“ Ihm war nur allzu gut bekannt, dass seine Eltern felsenfest die Meinung vertraten, dass Kinder an einem Computer nichts zu suchen hatten. Wie schon erwartet, runzelt seine Mutter ihre Stirn. Mit durchdringendem Blick musterte sie ihren Sohn, ehe sie äußerst zögerlich mit einer Gegenfrage antwortete. „Joe, ich glaube nicht, dass wir schon wieder über dieses Thema diskutieren müssen. Du weißt, was ich darüber denke, und ich habe auch ehrlich gesagt überhaupt keine Lust dazu, dir tagtäglich meine Auffassung zu erläutern. Was willst du am PC?“ Obwohl Joes Eltern eigentlich eher locker waren, so war an ihrer Meinung zum Thema Computer nicht zu rütteln. Genervt schnaufte Joe tief durch. Er konnte gar nicht in Worte fassen, wie sehr es ihn aufregte, wenn er wie ein dreijähriges Kleinkind behandelt wurde und mit seinen fast 11 Jahren noch immer darum betteln musste, kurz an den PC gelassen zu werden, während andere Kinder in seinem Alter längst ihren eigenen Laptop im Zimmer stehen hatten. Pampig antwortete er auf die mehr als lästige Fragerei. „Wenn’ s recht ist, möchte ich nur kurz nach der Adresse vom neuen Hamburger Skaterpark schauen! Überhaupt haben fast alle aus meiner Klasse einen eigenen Computer! Ich bin der Einzige, der blöd fragen muss, ob ich gnädigerweise kurz an den PC darf! Das nervt mich wirklich! Also, darf ich jetzt?“ Unirritiert von der Gefühlsregung ihres Sohnes dachte sie kurz nach, nickte ihm dann aber schließlich zustimmend zu. „Okay, fünf Minuten! Länger dürfte es nicht dauern, eine Adresse herauszufinden!“ Eltern waren manchmal wirklich zum Davonlaufen. Warum wollten sie nicht begreifen, dass ihre Kinder selbständige Wesen mit eigenem Willen waren, und warum mussten sie einem immer diktieren, wie man zu leben hatte?

Mit hängenden Schultern schlenderte Joe ins Wohnzimmer und setzte sich an den altmodischen Eichenschreibtisch seines Vaters. Während der altersschwache Computer im Zeitlupentempo hochfuhr, skizzierte er kurz eine Abfolge von Tricks, wie er sie bei seinem letzten Wettkampf wenig erfolgreich vorgeführt hatte. Endlich erschien die Internet-Startseite und er tippte in die Suchleiste „Hamburger Skatepark + Adresse“ ein. Nach wenigen Sekunden landete er auf der im Graffiti-Design gestalteten Webseite und sah sich mit sehnsüchtigen Augen die Bilder von Funbox, Pyramide und Quarterpipe an. Endlich hatte sich die Stadt Mühe gegeben und für die Boarder der Hansestadt ein richtiges Paradies geschaffen. Eins war klar: Morgen würde er mit den Chip Chips Jam nicht an der Alster-Pipe rumhängen, sondern sie mussten wirklich zu dem neuen Skaterpark fahren! Während er sich durch die Bilder der Webseite klickte, hörte er die Stimme seiner Mutter in strengem Tonfall aus der Küche rufen: „Joe, die fünf Minuten sind gleich um! Bitte komm’ jetzt zum Ende!“ Schnell notierte er auf einem kleinen roten Schmierzettel die Adresse des Skaterparks, steckte sich das Papier in die Hosentasche und schaltete den Computer aus. Dann beschloss er, zurück in die Küche zu gehen und seine Mutter ein bisschen nach dem Geburtstagsgeschenk auszufragen. Doch wenn er die Hoffnung gehabt hatte, aus ihr etwas herauszubekommen, so wurde diese herb enttäuscht. Sie war nicht gewillt, auch nur irgendetwas zu verraten und schickte ihn stattdessen in sein Zimmer, um noch vor dem Abendessen für die HSU-Probe nächste Woche zu büffeln. Joe starrte zwar in sein Heft, aber es gelang ihm beim besten Willen nicht, irgendetwas in seinen Kopf zu bringen. Zu aufgeregt war er wegen seines Geburtstags! In weniger als zwölf Stunden würde er wissen, ob sich sein sehnlichster Wunsch erfüllte.

****

An einem normalen Wochenende schlief Joe leidenschaftlich gerne aus und kroch normalerweise nie vor zehn Uhr aus den Federn. Doch an diesem Samstagmorgen an seinem 11. Geburtstag wachte er schon ungewöhnlich früh auf. Ein Blick auf seinen Digitalwecker verriet ihm, dass es erst kurz vor halb sieben war. 06.28 Uhr! In der Wohnung lag noch die Stille der Nacht. So sehr er sich auch bemühte, ein Geräusch zu erhaschen, das darauf hindeutete, dass seine Mutter bereits dabei war, das Geburtstagsfrühstück zuzubereiten, so wenig hörte er. Seufzend dreht er sich wieder auf die Seite und versuchte, noch mal einzuschlafen. Er konzentrierte sich auf den Schlag seines aufgeregten Herzens. Bum, bum, bum. Auf dem Korridor hörte er Fußtritte, die immer leiser wurden und sich schließlich in Richtung Badezimmer entfernten. Endlich war seine Mutter aus ihrem Tiefschlaf erwacht und schien sich darauf besonnen zu haben, dass ihr Junior vor Aufregung zu platzen drohte, wenn er nicht bald wusste, was ihm seine Eltern zum Geburtstag schenken. Joe hörte das Rauschen der Dusche. Seine Mutter startete in jeden neuen Tag mit einer ausgiebigen Dusche, aber wenn sie jetzt nicht bald den Wasserhahn abdrehte, lief sie wirklich Gefahr, dass ihr Schwimmhäute zwischen den Fingern und Zehen wuchsen. Wie lange wollte sie sich denn noch waschen?? 06.59 Uhr! Endlich – das Rauschen des Wassers war abgeebbt. Joe räusperte sich geräuschvoll und beschloss, mit einem lauten vorgetäuschten Hustenanfall sich und seinen Geburtstag in Erinnerung zu rufen. Täuschend echt klang das! Joe war von seinen schauspielerischen Fähigkeiten begeistert und überlegte einen kurzen Augenblick, ob er nicht der Theatergruppe der Schule beitreten sollte. Ein neues Geräusch drang aus dem Badezimmer. Joe konnte nicht sofort erkennen, dass es sich um das neu errungene Lieblingsspielzeug seiner Mutter handelte. Erst das grelle Piepsen machte ihm klar, dass es der neue Drei-Stufen-WärmeIntensivkur-Föhn aus dem Shoppingkanal PVD für schlappe 139,90 € war, den sie jetzt lautstark in Betrieb genommen hatte. Der Kauf dieses in den Augen des Vaters absolut unnützen und überteuerten Elektrogeräts hatte in den vergangenen zwei Wochen für viele Zankereien zwischen seinen Eltern gesorgt und Joe dazu gebracht, sich ernsthaft Sorgen darüber zu machen, ob ein Drei-Stufen-WärmeIntensivkur-Föhn ein Scheidungsgrund war. Irgendwann aber hatte Joes Vater kleinbeigegeben und seiner Frau die Freude an dem Föhn gelassen, im Gegenzug aber den Fernsehsender PVD von der Programmliste ihres Receivers entfernt. Ein durchdringendes Piepen läutete endlich den Beginn der dritten und letzten Wärmekurstufe ein. Die Ungeduld in Joe nahm ein schier gar unerträgliches Maß an und zerriss ihn fast. Zwischenzeitlich war er aufgestanden und trottete ziellos zwischen Fenster, Bett und Schreibtisch hin und her. Die Straße vor ihrem Haus war um diese Uhrzeit noch wie ausgestorben, und außer einem alten Mann, der seinen Pudel spazieren führte und direkt vor ihre Haustüre pinkeln ließ, bot sich kein besonderes aufregender Ausblick. 07.23 Uhr! Wie nach einer halben Ewigkeit öffnete sich endlich die Badezimmertüre, und die Schritte seiner Mutter gingen in Richtung Küche. Endlich hörte er das Klappern des Geschirrs und das gemütliche Blubbern der Kaffeemaschine. Seit Joe denken konnte, war es Brauch in ihrer Familie, dass das jeweilige Geburtstagskind solange im Bett liegen bleiben durfte – oder in seinem Fall musste –, bis die anderen den Geburtstagstisch gedeckt hatten und den Jubilar riefen. Lange konnte es jetzt nicht mehr dauern. Joe setzte sich an den Schreibtisch und wühlte in seiner Hosentasche nach der gestern angefangenen Trickplanung für den Skate-Wettbewerb. Schlagartig kam ihm in den Sinn, dass die Chip Chips Jam noch gar nicht wussten, um welche Art Contest es sich eigentlich handelte. War es ein Streetstyle-Contest, bei dem es hauptsächlich um Ollies ging, oder ein Halfpipe-Wettbewerb? Am liebsten wäre es Joe, der Wettkampf würde unter dem Motto „Best Trick“ stehen. In diesem Fall bliebe es jedem Fahrer selbst überlassen, ob er seine Tricks in der Halfpipe, auf der Miniramp oder schlicht und ergreifend auf der Straße zum Besten gebe. Joe legte den Zettel wieder beiseite. Zum Schluss machte er sich ewig lange Gedanken über die geschickteste Abfolge seiner besten Tricks, und dann stellte sich heraus, dass bei dem Wettbewerb nur der höchste oder längste Ollie gefragt war. Diesen Punkt mussten die Chip Chips Jam heute Nachmittag noch unbedingt klären, ehe sie mit dem Training beginnen würden. 08.04 Uhr! Joe lauschte. Kaum wahrnehmbar hörte er seine Mutter in der Küche flüstern. Das war ein gutes Zeichen, dass es jetzt bald losgehen würde. Schließlich war Joe noch nie aufgefallen, dass seine Mutter Selbstgespräche führte, und von daher musste sein Vater zwischenzeitlich auch aufgestanden sein. Tatsächlich näherten sich vier Füße gar nicht mehr leise, sondern eher trampelnd wie eine Horde Pferde, die durch die Wohnung galoppierte, seiner Zimmertüre. Vorsichtig öffnete sein Vater die Türe. Der erste Blick ging in Richtung des Bettes seines Sprosses, und erst im zweiten Moment entdeckte er Joe an seinem Schreibtisch sitzen. „Hey, Geburtstagskind! Schon so früh wach? Alles, alles Liebe und Gute zu deinem 11. Geburtstag!“ Er drückte Joe fest an seine durchtrainierte, muskulöse Brust und wollte ihn gar nicht mehr loslassen. „Jetzt lass mich doch auch mal dem Jungen gratulieren!“ Mühevoll befreite Joes Mutter ihn aus der Umklammerung seines Vaters. Sie streichelte ihm sanft über den Kopf und nahm seine Hände. „Joey, herzlichen Glückwunsch zu deinem 11. Geburtstag. Ich wünsche dir, dass sich in deinem Leben alle deine Wünsche und Träume erfüllen, Gesundheit und natürlich, dass du auch weiterhin dein Herz auf dem richtigen Fleck trägst.“ Sie machte eine kurze bedeutungsvolle Pause, bevor sie langsam weitersprach. “Außerdem will ich dir sagen, dass wir – Papa und ich – sehr stolz auf dich sind. Du hast uns durch deine Diebesjagd deutlich gemacht, zu was für einem couragierten, hilfsbereitem, jungen Mann wir dich bisher erzogen haben. Mach’ weiter so, mein Kind!“ Schön hatte sie das gesagt! Die Worte seiner Mutter ließen Joes Brust vor Stolz schwellen. „So jetzt lasst uns aber in die Küche gehen und auf deinen Geburtstag anstoßen!“ Zusammen gingen sie den langen Flur entlang. Die Türe zur Küche stand offen, und das helle Flackern der Geburtstagskerzen spiegelte sich in der weißen Hochglanzlackierung der Möbel wider. Joes Herz schlug bis zum Hals, als er hinter seinen Eltern auf den Geburtstagstisch zuging. Der Tisch war hübsch gedeckt. Die Mitte wurde von einer doppelstöckigen Schokoladentorte, auf der in roter Zuckerschrift „Happy Birthday Joey!“ geschrieben stand, geziert. Unter dem Geburtstagsgruß war eine Halfpipe aufgemalt, auf der sich vier Skaterboarder tummelten. „Auspusten Joey! Letztes Jahr hast du noch alle Kerzen auf einmal geschafft. Aber da war es noch eine weniger!“ Joe grinste seinen Vater an, holte tief Luft und pustete mit einem Atemzug alle elf Kerzen aus. Wie es sich gehörte, schloss er die Augen und wünschte sich heimlich etwas. Er wäre nicht Joe, wenn er sich nicht den Sieg mit den Chip Chips Jam beim Boarder-Contest gewünscht hätte! Begeistert klatschen seine Eltern und drückten ihm ein Sektglas voll frischgepresstem Orangensaft in die Hand. „Prost, Joe! Auf deinen Ehrentag!“ Wie immer bei solchen Anlässen gab es für die Erwachsenen feinsten, italienischen Prosecco zum Zwecke der frühmorgendlichen Leberschädigung, und für Joe vitaminhaltigen, gesunden Orangensaft zur Stärkung des Immunsystems. Sich darüber zu ärgern, hatte er schon lange aufgegeben. Ganz abgesehen davon war ihm heute sein Geschenk wichtiger, als das blöde Prickelwasser, um das die Erwachsenen einen solchen Hype machten. Unauffällig schielte Joe in Richtung der hübsch verpackten Präsente. Jedoch keines davon sah von der Form her dem erträumten „Santa Cruz“ Board ähnlich. In Joe stieg der bittere Geschmack einer tief sitzenden Enttäuschung auf. Warum konnten ihm seine Eltern nicht wenigstens diesen einen sehnlichsten Wunsch erfüllen? Er merkte deutlich, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Tapfer versuchte er, die Tränen zurückzuhalten. Seiner Mutter fiel Joes Traurigkeit natürlich auf. Aufmunternd strich sie ihm mit einem Lächeln über den Kopf. Mit sanfter Gewalt drückte sie ihn auf seinen Platz und stellte ihm einen mit hübschem grünem Papier und riesiger blauer Schleife verpackten Karton vor die Nase. „Willst du nicht mal deine Geschenke auspacken?“ Missmutig begann Joe das Geschenkband zu lösen und ungeduldig das Papier zu zerreisen. Ein stinknormaler brauner Karton ohne irgendeinen Aufdruck, der etwas über den Inhalt verraten könnte, kam zum Vorschein. Joe wackelte das schwere Paket neugierig hin und her. Was konnte sich nur darin verbergen? Der Karton war mit extrem viel Klebeband verschlossen, und ohne den Einsatz einer Schere war es schlicht und ergreifend nicht möglich, an den Inhalt zu gelangen. Sein Vater schien seine Gedanken gelesen zu haben und stand ungefragt auf, um ihm eine Schere zu reichen. Nachdem das Klebeband durchschnitten war, konnte Joe endlich den Deckel aufklappen. Die erste Lage bestand aus zusammengeknülltem Zeitungspapier, das er schnell auf den Boden warf. Darunter lag in leuchtendem sonnengelb ein Schularbeitsheft mit dem Titel „Alle Diktate von Jahrgangsstufe 4 bis 8“. Ungläubig starrte er auf das Heft und konnte die Tränen nicht mehr länger zurückhalten. „Soll ich mich darüber etwa freuen?“ Schluchzend sank er auf seinem Stuhl zusammen wie ein kleines Häufchen Elend. Mit strengem Blick beobachtete sein Vater den Gefühlsausbruch seines Kindes und wartete ab, bis er sich wieder etwas beruhigt hatte. „Humor ist eine Eigenschaft, die dir wirklich noch fehlt! Schade, dass du keinen Spaß verstehst. Trotzdem würde ich vorschlagen, dass du uns allen deinen Geburtstag nicht vermiest und jetzt aufhörst mit der Heulerei und weiter auspackst.“ Die Stimmlage seines Vaters duldete keinerlei Widerspruch. Joe schniefte kurz auf und machte sich wieder daran, den Inhalt des Kartons zu erkunden. Wieder eine Lage Zeitungspapier! Was kam jetzt wohl zum Vorschein? Ein neuer Füller etwa oder zur Abwechselung vielleicht ein Mathematikarbeitsheft? Tatsächlich lag dort wieder ein umgekehrtes Buch. Leicht genervt wendete Joe es, um den Titel lesen zu können. „Zephyr Skate-Team – Legendäre Tricks und mehr aus Kalifornien“ stand in großen roten Lettern auf der Fotografie eines Boarders, der in einem leer gepumpten Swimmingpool seine Runden fuhr. Joe war begeistert! Dieses Buch war sensationell! Schließlich war das Zephyr Skate-Team absolute Legende, und ihre Tricks hatten das Skateboarden revolutioniert. Mit leuchtenden Augen blätterte er durch das mit vielen Fotos und Abbildungen anschaulich gestaltete Buch, in dem viele, auch für Joe neue Tricks detailgetreu beschrieben waren. Das war genau das Richtige für seine Wettkampfvorbereitung. „Danke, das ist echt cool! Ich hätte euch gar nicht so viel Fachkenntnis zugetraut!“ Seine Mutter erwiderte mit einem breiten Grinsen, dass sie ihrem Sohn schließlich gelegentlich auch bei seiner Fachsimpelei zuhöre und von daher, wenigstens was das Theoretische anginge, Ahnung vom Skateboarden habe. Die nächste Lage des Kartons bestand – wer hätte das gedacht? – wieder aus zerknüllten Zeitungen. Gespannt warf Joe mit dem Altpapier um sich, bis er das nächste Geschenk sah. Schweigend blickte er in den Karton und sagte lange Zeit überhaupt nichts mehr. Sein Mund war leicht geöffnet, und als könne er es nicht fassen, rieb er sich die Augen und schaute wieder in den Karton. Völlig unerwartet sprang er plötzlich so heftig von seinem Stuhl auf, dass dieser mit lautem Gepolter nach hinten umkippte und fiel seinen Eltern mit lautem Jubelgeschrei um den Hals. „Jiiiiepiiii, DANKE! Vielen, vielen Dank! Ihr seid einfach ganz große Klasse! Ist das krass!“ Joe schnappte sich den Karton wieder, und zog mit vorsichtigen Bewegungen das nagelneue Skateboard heraus. Stolz strich er über die orangerot glänzende Feuerlackierung auf der Unterseite des Decks. Die dazu farblich sehr gut passenden feuerroten Wheels waren mit einen der besten auf dem Markt befindlichen Kugellagern ausgestattet. Um den Unterschied zu seinem alten Brett festzustellen, musste Joe noch nicht einmal darauf fahren. Das bloße Anstoßen mit den Fingern genügte. Joe war nur noch glücklich. Endlich durfte er das Brett, das er monatelang nahezu täglich im Skatershop bewundert hatte, sein eigen nennen. „Schön, wenn wir dir eine kleine Freude machen konnten. Aber ein Geschenk haben wir noch.“ Joe konnte sich gar nicht vom dem Anblick seines Bretts losreisen. Vor seinem geistigen Auge sah er sich schon mit diesem krassen Skateboard als Teamführer der Chip Chips Jam den Highest Ollie beim Skate-Contest fahren. „

 
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