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Maik Albrecht und Frank Rudolph



Wu



Ein Deutscher bei den Meistern in China








Palisander




Impressum



Der Verlag dankt Dr. Sven Hensel, Dr. Janett Kühnert und Norbert Wölfel vom Chemnitzer Karateverein sowie Jens Regner, Chemnitz, für die fachliche Unterstützung bei der Redaktion.



Die Bildrechte wurden nach bestem Wissen recherchiert. Die Fotos des Buches stammen von Norman »Siddhartha« Gerhardt, Rainer Knoblauch, Maik Albrecht und Frank Rudolph bzw. sind lizenzfrei.



Erstausgabe



1. Auflage März 2011



© 2011 by Palisander Verlag, Chemnitz



Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.



Umschlaggestaltung: Anja Elstner, unter Verwendung eines Fotos von Brianna Laugher (Lushan – ein Berg in der chinesischen Provinz Jiangxi)



Lektorat: Frank Elstner



Redaktion & Layout: Palisander Verlag



1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013



ISBN 9783938305362





www.palisander-verlag.de











Gewidmet allen Lehrern der Kampfkunst,







besonders aber meinem shifu Li Zhenghua.





Maik Albrecht








Meister Li Zhenghua







Die Autoren



Maik Albrecht

, Jahrgang 1981, praktiziert seit mittlerweile zwei Jahrzehnten die verschiedensten östlichen und westlichen Kampfkünste. Mit 20 Jahren ging er nach China und studierte dort chinesische Kampfkunst bei den letzten noch lebenden Meistern des alten Wushu.



2006 gewann er als einziger Ausländer in der chinesischen Profigruppe eine Goldmedaille bei der Wushu-Weltmeisterschaft in Zhengzhou. Im selben Jahr erhielt er den 4. Meistergrad (Wushu Duan) und war zu dieser Zeit der jüngste Ausländer mit einer solch hohen Graduierung. Albrecht besitzt einen Abschluss in Sinologie von der Universität Wuhan, die zu den besten der Welt gehört.



Maik Albrecht ist heute einer der führenden Chinaexperten und Kenner der chinesischen Kampfkünste weltweit. Er trainierte als einer der ersten Ausländer in China sogar Chinesen, unter anderem Mitglieder chinesischer SWAT-Einheiten.



Das ARD hat 2008 einen Dokumentarfilm über sein Leben in China gedreht: »Herr Albrecht macht Wushu – Ein Deutscher kämpft in China.« In China, wo er selbst von den Meistern der alten Generation als Kenner und Könner des Wushu anerkannt wird, gibt es zahlreiche Veröffentlichungen über ihn. 2009 drehte das chinesische Staatsfernsehen eine mehrteilige Dokumentation über sein Leben mit der Kampfkunst.



Maik Albrecht lebt in Wuhan, China. Er ist mit der Tochter seines Shifu (Lehrer-Vater) Li Zhenghua verheiratet.



Frank Rudolph

, Jahrgang 1969. Nach mehreren Ausbildungen absolvierte er von 1993 bis 1996 ein Journalistikstudium. Tätigkeit als freier Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitungen und Magazinen. Seit 1992 Veröffentlichungen über Philosophie, Geschichte, Kampfkunst und Kultur mit Schwerpunkt Asien und vergleichende Geschichte. Mehrere Studienreisen führten ihn nach China. Er verfasst Belletristik, Lyrik und Essais, des weiteren Biographien und Fachtexte zu den unterschiedlichsten Themen. Er lebt in Wolfsburg.



Frank Rudolph praktiziert verschiedene europäische und asiatische Kampfkünste. Gemeinsam mit Maik Albrecht gründete er das Albrecht-Rudolph Institute of Martial Arts Research (ARIOMAR).








Maik Albrecht (links) und Frank Rudolph.




Inhaltsverzeichnis





Cover







Titel







Impressum







Zitat







Die Autoren







Motto







Geleitwort







Hinter Mauern







Einleitung






      Eine kurze Darstellung des Wushu






Begriffe und Bedeutungen







Stilrichtungen und Schulen des Wushu







Grundlegende Klassifizierungen im Wushu







Innere und äußere Stile







Daoismus







Shaolin






      Wushu heute






Ein Turnier- und Wettkampfsport







Wen Jingming – der erste Wushu-Professor







Wushu und die chinesische Oper







Wushu und Sport






      Modernes und altes Wushu






Eine Geschichte des Niedergangs







Dehnung und Stand im alten und neuen Wushu







Traditionelles und heutiges Training







Die Meister und die Kulturrevolution







Ausgespähte Geheimnisse






      Gongfu






Geschichten vom Gongfu







Die zweite Bedeutung von Gongfu







Yanchigong







Clausewitz und das Gongfu







Gongfu als beständige Mühe







Gongfu und Sport






      Die Kultur des Wushu






Lehrer und Schüler







Die Tradition in der Gegenwart







Der Xiake-Geist







Dalei – Wettkampf auf Leben und Tod






      Über die Effektivität der Kampfkünste






Die physische Verfassung







Die wahre Effektivität des Xingyi Quan







Cheng Jianping – mein älterer Wushu-Bruder







Faust ohne Faust, Sinn ohne Sinn







Kampfkunst und Selbstverteidigung






      Die Scharlatane im Wushu






Die Tradition der Jianghu Pianzi







Die modernen Scharlatane







Ein neuer Bruce Lee







Jianghu – die Gesellschaft der Erfolgreichen






      Die Meister von China






Zu Besuch bei Meister Li







Meister Zhang Kejian







Einblicke in die Vielfalt des Wushu







Xu Shiyou – Berater des Großen Vorsitzenden







Die Meister und das Sport-Wushu



 





Die beiden Meister Yuan






      Meister Li Zhenghua und seine Lehrer






Der erste Lehrer







Der Xiake und seine Schüler







Meister Xiong Daoming







Wuhan und die Meister Kampfkünste







Zeng Tianyuan, der Meister des Leitai






      Meisterschaft






Vom Wesen eines Meisters







Ein Meister der Kampfkunst







Die Realität der Kampfkunstmeister







Lu Zhishen






      Die Schätze der chinesischen Kampfkunst






Die Stile des Wushu – Legende und Wahrheit







Zhou Tong und Yue Fei






      Ein Streifzug durch die Welt des Wushu






Bekannte Stile







Einige kaum bekannte Stile







Stile aus der Provinz Hubei






      Die Waffen des Wushu






Vorbemerkung







Die Waffen des Volkes







Waffenlose und Waffentechniken







Die Einteilung der chinesischen Waffen







Säbel und Schwert







Fransen und Blut







Die Technik des Yue Fei







Bewahrenswerte Vielfalt






      Trainingsprinzipien im Wushu






Vorbemerkung







Der Vorzug der Jugend







Weichheit durch Härte







Das Training des Jin







Das Verdauen der Kraft







Kraftaufbau und Kraftausgabe






      Trainingsmethoden des Wushu






Vorbemerkung







Die Dehnung in den chinesischen Kampfkünsten







Gong-Übungen







Die Trainingsmethode Zhan Zhuang







Weichheit als Ziel







Trainingsgeräte






      Der Ursprung der Kraft im Wushu






Dantian – das Zinnoberfeld







Dipan – der Unterbau






      Gesund durch Kampfkunst






Gesunder Körper, gesunder Geist







Dipan und Gesundheit







Die Bewegung Oyu






      Kampfkunst für die Massen






Eine vertane Chance







Ein Wushu-Großvater







Yip Man und die Vermarktung des Wingchun







Vom Sinn und Unsinn der Graduierungen







Die Zergliederung der Kampfkünste







Was kostet ein Meistertitel?







Die Zeit der Karrieristen






      Anhang






Die Kulturrevolution






      Die Präfektur Hong’an und ihre Kinder






Der Landkreis der Generäle







Marschall Lin Biao







Dong Biwu – der Anführer der Huangma-Revolution







Li Xiannian – vom Zimmermann zum Präsidenten







Eine Liste ohne Ende







Auf dem Lande







Eine zweite Heimat







Die Yanyu







Schreibweise und Aussprache der chinesischen Begriffe







Anmerkungen
















Vivere militare est.





Leben heißt kämpfen.




Geleitwort



武术起原中国,属于世界。



弘扬中华武术。



武术最高境界贡献于人类,和谐社会。





wu shu qi yuan zhong guo, shu yu shi jie.







hong yang zhong hua wu shu.







wu shu zui gao jing jie gong xian yu ren lei, he xie she hui.





Das

wushu

 ist China entsprungen, es gehört jedoch der ganzen Welt. Fördert die (chinesischen) Kampfkünste.



Die höchste Stufe der Kampfkunst ist es, einen Beitrag für die Menschheit zu leisten, für eine ausgeglichene und harmonische Gesellschaft.



Li Zhenghua –

 李正华

, Wuhan, 1. Februar 2011




Hinter Mauern



Hinter einer Mauer wurde ich geboren und wuchs dort auf.

1

 Als die Mauer zusammenbrach, stürzte ich mich gierig auf die Welt der Kampfkünste. Der Koautor dieses Buches machte mich noch hungriger auf die Kunst des Kämpfens. Er inspirierte mich und riss viele Mauern in mir ein.



Vor zehn Jahren reiste ich in ein großes Land, das die größte Mauer der Welt besitzt – China. Diese Mauer wird nicht einstürzen. Hinter diesem Wall lernte ich einiges. Vor allem, dass von den Menschen immer Mauern errichtet werden, die alles voneinander trennen, alle Wissenschaften, alle Kampfkünste … Wir trennen Ost von West, wir trennen unsere Glaubensrichtungen und natürlich auch die Stile der Kampfkunst. Durch Mauern entstehen Abgrenzungen und werden Kriege hervorgerufen. Der Mensch mauert sich ein, geistig und körperlich. Doch es sollte immer unser Ziel sein, eigene Mauern einzureißen, dahinter zu schauen und so den Horizont zu erweitern.



Im Kampf bzw. im Krieg es ist das Ziel, Mauern zu durchbrechen und zu überwinden. Zu diesem Zweck haben Menschen Kampfkünste entwickelt. Die okinawanische Kampfform

passai

 drückt dies sogar wörtlich aus.

2

 Und doch entstehen gerade dadurch neue Wälle, die man dann wieder durchbrechen und umstürzen möchte. Das ist der Kreislauf innerhalb von Mauern.



Auch Bücher mit ihren vielen Worten gleichen Mauern. Der Mensch ist begierig danach, diese Mauern abzureißen, um zu sehen, was dahinter ist. Doch oftmals entdeckt er nur neue Hindernisse. Schließlich aber erkennt man, dass es, mit freiem Geist betrachtet, gar keine Mauern gibt.





Maik Albrecht, Wuhan 2010






Einleitung



Kampfkünste gehören zur Evolution des Menschen wie der aufrechte Gang oder die Sprache. Sie sind eine Form der menschlichen Kultur, von Menschen geschaffen und ausgeübt, genauso wie Religion oder Philosophie.



Nach einem Jahrzehnt in China, zehn Jahren Training bei einigen der letzten noch lebenden echten Meister des chinesischen

wushu

, möchte ich hier meine Sichtweise und Gedanken zur Kampfkunst wiedergeben. Anhand meiner Erfahrungen möchte ich verständlich werden lassen, was

wushu

 ist und was nicht. Doch es geht nicht allein um die chinesische Kampfkunst. Das Buch befasst sich auch mit der Thematik der Kampfkünste im allgemeinen und ist dadurch für jeden geeignet, der sich mit dieser Materie in irgendeiner Weise beschäftigt.



Ich will versuchen, einige wichtige Fragen zur Kampfkunst zu beantworten. Fragen, die bisher selten gestellt wurden und auch solche, die statt Antworten noch mehr Fragen lieferten. Was ist

wushu

, was ist

gongfu

? Was unterscheidet die Kampfkünste voneinander? Ist es überhaupt sinnvoll, eine Differenzierung vorzunehmen? Worin liegt der Unterschied zwischen einer modernen und einer traditionellen Methode? Was ist Kampfkunst und was Kampfsport? Wofür sind Kampfkünste gut bzw. sind sie eigentlich in unserer Zeit überhaupt noch für etwas gut?



All diese Fragen wurden bisher höchst unterschiedlich beantwortet, ungenau in einigen Fällen, gar falsch in anderen. Nicht zuletzt aus diesem Grund herrscht in der Welt der Kampfkunst heute ein heilloses Durcheinander. Dazu kommt, dass das Nichterkennen der Gemeinsamkeiten zu einem Konkurrenzkampf führt, der letztendlich allen Beteiligten schadet.



Lange bevor ich nach China ging, habe ich mich bereits mehr oder weniger intensiv mit verschiedenen östlichen und westlichen Kampfkünsten (Kampfsportarten) beschäftigt. Ich kann heute im Rückblick keine wirklichen, das Wesen betreffenden Unterschiede zwischen den verschiedenen Stilen erkennen, wo auch immer sie herstammen. Im Grunde geht es überall um das gleiche, die Ziele sind dieselben, nur die Form unterscheidet sich. Dennoch streitet man darum, was das beste sei. Ob es so etwas wie die »beste Kampfkunst« überhaupt gibt, ist zu bezweifeln.



Die Trainingsmethoden des traditionellen

wushu

 sind die wirksamsten, die ich kenne, wenn es darum geht, seinen Körper gesundzuerhalten und eine flexible Kraft zu entwickeln. Die alten

Wushu

-Techniken sind sehr effektiv, und sie sind anders als das, was man heute als das »moderne

wushu

« bezeichnet. Doch halte ich beispielsweise die westlichen Boxtechniken gegenüber den Fausttechniken der meisten chinesischen

Wushu-Stile

 (Südfaust, Langfaust) für überlegen. Letzten Endes hat es aber wenig Sinn, Vergleiche anzustellen, um festzustellen, welche Kampfkunst nun die Ehrung als die beste verdient. Solche Überlegungen führen nur selten zu etwas Gutem, dafür um so häufiger zu Neid, Frustration und Feindschaft.



Ein großes Problem stellt die Einführung von Neuerungen, für die es keine Notwendigkeit gibt, dar. Oft ist es ja so: Irgend jemand beschließt eines Tages, einen »neuen« Stil zu erschaffen oder einen »alten« so zu verändern, dass er »besser in die neue Zeit« passt. So ähnlich, wie es Nakayama Masatoshi mit dem

shotokan

 tat. Ist dieser Jemand geschickt, eröffnet er bald eine Kette von Schulen, produziert eine DVD, schreibt ein Buch und verbreitet seine neue und »bessere« Lehre in der ganzen Welt. Bald wird niemand mehr den Ursprung erkennen und zu würdigen wissen. Jene Meister, die solch eine Entwicklung aufhalten könnten, nehmen die ganze Sache nicht ernst – bis es irgendwann zu spät ist. Schließlich passt sich die alte Garde sogar an oder geht buchstäblich in den Untergrund. Unser Neuling baut um seine Lehre herum eine ganze Welt auf mit Urkunden, Wettkämpfen, Meisterschaften. Und eines Tages geht er zu den alten Lehrern und erklärt ihnen, dass sie alles falsch machen und besser zu ihm in die Lehre gehen sollten. Wer das für ein Horrormärchen hält, der irrt. Das ist die moderne Welt der Kampfkunst.

 



Die Kampfkunstgemeinde ist heute in hohem Maße ein Marktplatz, auf dem es darum geht, seine Ware so teuer wie möglich an den Mann zu bringen, wo nur zählt, wer der Erste und natürlich der Beste ist. Der Verkauf von Titeln, Urkunden und Zertifikaten ist heute gängige Praxis. Wer sich nicht anpassen möchte, wem es nur um die Kunst geht, der wird unglaubwürdig gemacht, indem man einfach auf seine nicht vorhandenen »Ehrungen« verweist. Auch in China ist das nicht anders.



Meister Li, mein

shifu

, ist einer der wenigen Meister in China, die niemals auch nur einen Fen dafür ausgegeben oder Beamten geschmeichelt haben, um an eine Urkunde zu gelangen. Offen gestanden bezweifle ich bei vielen Meistern, dass sie ihre Grade durch Leistungen errungen haben, und bei einigen weiß ich sicher, daß dies nicht der Fall war.



Meister Li bekam eines Tages das Angebot, den seltenen Stil

lusiquan

 in einem Video darzustellen. Dieser Stil ist auch in ganz China unbekannt, selbst bei den dortigen

Wushu

-Experten. Für dieses Video hätte mein Meister vom Staat einen noch höheren Grad bekommen. Er wäre dann der jüngste Träger des 8.

Duan

 gewesen, den es China gibt. Diese Ehrung hätte nicht einmal auf Betrug, Macht und Geld beruht, sondern auf einer wirklichen Leistung. Doch selbst hier lehnte Meister Li ab.








Foto 1: Training in China (Zeitungsbericht über Maik Albrecht in einer der größten Tageszeitungen Chinas (Chutian Dushi Bao)).










wan bian bu li qi zong





Etwas wird hundertmal abgewandelt,



ohne wesentliche Veränderungen.





Eine kurze Darstellung des Wushu





Begriffe und Bedeutungen



Es ist immer schwierig, komplexe Begriffe von einer Sprache in die andere zu übertragen, vor allem dann, wenn die dahinterstehenden Kulturen sich bedeutend unterscheiden. Dies gilt auch für den Begriff

wushu

 (武 术)

3

, der in der chinesischen Sprache alles Kämpferische umfasst.

Wushu

 bezieht sich allgemein auf die kämpferischen Fertigkeiten, seien sie nun militärisch oder zivil. Der Begriff schließt das Training einer bestimmten Technik ebenso ein wie einen komplexen Stil. Er unterscheidet nicht zwischen waffenlosem und bewaffnetem Kampf. Auch die Pflege von Körper und Geist gehört dazu. Dies allerdings auf andere Art, als man im Westen oft glaubt; es geht dabei nicht im geringsten um irgendwelche esoterische Konzepte. Was im Okzident als

wushu

 bezeichnet wird, ist den echten Meistern Chinas fremd.



Der Begriff

wushu

 ist zwar alt, doch wurde er erst nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahre 1949 als Oberbegriff für alle chinesischen Kampfkünste gewählt. Davor gab es mehrere Bezeichnungen für die Kampfkunst, und

wushu

 wurde hierfür sehr selten benutzt. Statt dessen verwendete man Begriffe wie

wugong

 (武功),

wuji

 (武击) oder auch einfach nur

guocui

 (国粹).



Bevor ich etwas näher auf die alten Bezeichnungen eingehe, möchte ich das Wesen der Kampfkunst anhand der entsprechenden chinesischen Zeichen für

wushu

 erklären. Das Wort setzt sich aus zwei Schriftzeichen zusammen,

wu

 (武) und

shu

 (术 oder 術).

Wu

 bedeutet militärisch, kämpferisch. Es verweist auf etwas Grundlegendes, den Kampf. »Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König«, meinte Heraklit schon vor 2 500 Jahren, und der Römer Seneca erkannte: »Vivere militare est.«–»Leben heißt kämpfen.« In China lassen sich all diese Feststellungen durch das Zeichen

wu

 ausdrücken. Aber

wu

 besitzt noch eine viel tiefgründigere Bedeutung. Zunächst einmal setzt sich das Schriftzeichen

wu

 ebenfalls aus zwei Zeichen zusammen. Das erste von ihnen heißt

zhi

 (止) und bedeutet aufhören, eine Sache stoppen oder beenden. Das andere,

ge

 (戈), bezeichnet eine alte Kriegswaffe, ähnlich unserer Hellebarde. Sie steht hier stellvertretend für Krieg. Und dieser Krieg soll durch einen entschlossenen und schnellen Kampf beendet werden. Dies bringt, vordergründig betrachtet,

wu

 zum Ausdruck. Tatsächlich ist die Botschaft viel subtiler. Sie besagt, man solle aufhören die Hellebarde zu benutzen, ihren Einsatz beenden (

zhidong ge,

 止动戈). Jeglicher Kampf ist zu vermeiden. Das ist die tiefere Bedeutung des Zeichens

wu

. Interessanterweise wird diese Haltung durch die Figur des Kriegsgottes, Guandi (Guan Yu), ausgedrückt, den man oft in Asia-Restaurants sehen kann. Dieser Guandi hält seine Hellebarde (

ji

, 戟 oder

ge

, 戈) in den meisten Fällen halb auf dem Rücken und drückt damit aus, dass er einen Kampf vermeiden möchte.



Solch eine Philosophie wird jeder verstehen, der sich ernsthaft mit den Kampfkünsten befasst, egal ob sie aus dem Osten oder aus dem Westen stammen. Die Kampfkünste lassen den Menschen durch eine Lehre gehen, in welcher er sich mit seinen Urinstinkten, mit dem Kampf ums Überleben, beschäftigt. Durch den Reifeprozess, der während des jahrelangen Trainings eintritt, wird der Übende früher oder später auf das Paradoxon stoßen, dass er um so mehr üben muss, je weniger er kämpfen will. Aber er kann auch zu der Erkenntnis gelangen, dass es generell unnötig und sinnlos ist zu kämpfen. Im Werk des großen Militärstrategen Chinas, Sunzi

4

 (孙子), steht der Satz:

»Bai zhan bai sheng, fei shan zhi san zhe ye; bu zhan er qu ren zhi bing, shan zhi shan zhe ye.«

 (百战百胜,非善之善者也,不 战而屈人之兵,善之善者也) –»In allen Schlachten zu siegen ist nicht die größte Leistung; die größte Leistung ist, den Widerstand des Feindes ohne Kampf zu brechen, zu siegen, ohne zu kämpfen.«



Das Land des Gegners wird also, wenn möglich, intakt eingenommen. Ist ein Konflikt unvermeidbar, so ist diese Lösung für alle Beteiligten die beste. Die Taktik der verbrannten Erde ist auch für den Sieger von Nachteil. Und wie schnell die Anwendung brutaler Gewalt zur eigenen Niederlage führen kann, beweist die Geschichte in unablässiger Folge. In China waren Kriegs- und Kampfkunst stets vom Daoismus geprägt. Diese pragmatische und vor allem wissenschaftliche Lehre durchzog alle Bereiche und ist ebenfalls in Sunzis Werk erkennbar. Das erklärt am besten die Ausgewogenheit seiner Strategien und Taktiken.



Der zweite Teil des Wortes

wushu

 wird durch das Zeichen

shu

 (术 oder 術) dargestellt.

Shu

 bedeutet Kunst, Kunstfertigkeit. Der Begriff beinhaltet aber auch Taktik und die technischen Aspekte der Kampfkunst. Dieses Zeichen enthält keine tiefgründigeren Inhalte. Es ist ein vollkommen rationaler und fassbarer Begriff. Es geht nur um das reine Können. Deshalb hat der Begriff

shu

 auch etwas mit

gongfu

 (功夫) zu tun, denn

gongfu

 bedeutet ebenfalls Können. So erklärt sich die alte Bezeichnung

wugong

 für die chinesischen Kampfkünste. Auf den darin enthaltenen Begriff

gong

 soll weiter hinten im Buch ausführlicher eingegangen werden.



Vor 1949 benutzte man für Kampfkunst auch den Begriff

wuji

. Das Schriftzeichen

wu

 wurde ausführlich erklärt. Das Zeichen

ji

 (击) hat eine sehr kriegerische Bedeutung. Es bedeutet attackieren oder zusammenprallen. Hieran erkennt man, worum es ursprünglich in der chinesischen Kampfkunst geht.

Shu

 verweist hingegen auf eine künstlerische, teilweise auf Schönheit und Eleganz bedachte Anwendung. Dies ist vergleichbar mit den japanischen Kampfkunstbegriffen

jutsu

 (術) und

do

 (道). Während

jutsu

 die anwendbare Technik bezeichnet, beinhaltet

do

, der Weg, das dahinterstehende philosophisch