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Wen Jingming – der erste Wushu-Professor

Wenn wir hier über modernes wushu sprechen, müssen wir auf jeden Fall einen Mann erwähnen: Wen Jingming (温敬铭), den ersten Wushu-Professor Chinas. Als bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin erstmals eine chinesische Delegation zu Gast war, übernahm er die Führung. Er war damit einer der ersten Chinesen, wenn nicht der erste, der wushu im Westen demonstrierte. Ich möchte hier anmerken, dass Wen Jingming ein ausgezeichneter Meister war. Doch nicht zuletzt sein Wirken führte in der Folge zur Herausbildung des modernen wushu, auch wenn letzteres nicht von ihm stammt, sondern eher das Produkt der phantasievollen Ideen der heutigen »jungen Hüpfer« ist. Meister Wen Jingming wohnte später in Wuhan, wo sein Sohn (Wen Zhuang) heute der Cheftrainer des Sanda-Provinzteams ist. Er führte wushu an den Universitäten ein. Übrigens lebt auch seine Frau heute noch in Wuhan. Sie ist über 90 Jahre alt und ebenfalls eine Meisterin im wushu.

Ich möchte einen Vergleich zum Karate (空手) ziehen, in welchem Funakoshi Gichin (船越 義珍) eine neue Ära der alten okinawanischen Kampfkunst einleitete. Eigentlich begann diese Veränderung schon früher. Hauptsächlich war es einer der Meister Funakoshis, Itosu Anko12, der kampfstarke Meister des okinawa-te, welcher die Änderungen an der Lehre vornahm. Er formte die fünf pinan-kata (五平安形), teilte andere Formen und ersetzte viele gefährliche Elemente durch weniger aggressive. Seine Einflussnahme und später Funakoshis Wirken in der Öffentlichkeit haben in der Folge dazu geführt, dass aus der effektiven Kampfkunst ein Sport wurde. Ob sich diese Änderungen letztlich im Sinne der Meister auswirkten, kann nicht mehr beantwortet werden.

Wushu und die chinesische Oper

Die Natur des wushu ist baofali (爆发力), explodierende Kraft, Effektivität und Anwendbarkeit. Will man diese Natur verändern, entzieht man dem wushu seine Existenzberechtigung. Das ist nicht übertrieben, denn wushu bleibt nur es selbst, wenn das baofali gewährleistet bleibt. Der Sohn von Meister Zhang Kejian (张克俭) unterrichtete einst einen Kampfsportler, einen Formen-Champion von China, in traditionellen Formen. Das Ergebnis war jämmerlich. Der Sportler verwandelte jede Bewegung in eine Liang-xiang-Bewegung (Showbewegung), da ihm diese bereits in Fleisch und Blut übergegangen waren. Dadurch verfälschte sich der ganze Sinn der Technik, und die Formen wirkten, abgesehen davon, dass die Elemente nicht mehr anwendbar waren, regelrecht hässlich.

Bereits während der Kulturrevolution kam die Idee auf, wushu mit Elementen der chinesischen Oper zu mischen. Was damals begann, hält bis heute an und treibt bisweilen bizarre Blüten. Momentan werden noch andere Elemente in die chinesischen Formen eingebaut, Bewegungen aus dem Turnen zum Beispiel, und das sieht man den Formen dann natürlich auch an. Ein Element, das man heute sehr häufig findet, ist eine schnelle Kopfdrehung bei gleichzeitiger anmutiger Handbewegung. Diese Technik ist ein typisches Merkmal der chinesischen Oper. Keiner der Lehrer meines Meisters vollführte jemals solche Bewegungen.

Als Gegenstück und Vergleich zum Dargestellten soll uns hier die aktuelle Fechtlandschaft des Westens dienen. Natürlich wird nicht jeder Europäer die einzelnen Schulen unterscheiden und beurteilen können. Aber er hat dazu wahrscheinlich einen stärkeren Bezug als zur Unergründlichkeit des chinesischen wushu. Es gibt im Fechten mindestens fünf verschiedene Gruppen, die sich teilweise überschneiden, ohne sich gegenseitig zu stören. Diese sind: 1. Reenactment, bei dem mehr oder weniger professionell historische Kämpfe oder gar Schlachten nachgestellt werden, 2. Bühnenkampf (stage combat), wie er hauptsächlich im Theater zur Geltung kommt, 3. Sportfechten, 4. historisches Fechten, bei dem man sich ernsthaft um die alten Techniken bemüht und 5. das so gut wie ausgestorbene Duellfechten. All diese Gruppen haben Berührungspunkte, aber kein Bühnenfechter käme beispielsweise auf die Idee, mit seiner Technik ein reales Duell bestreiten zu wollen. Das westliche Fechten hat sich trotz all seiner Aufspaltungen viel homogener erhalten und ist auch in seiner sportlichen Form auf eine praktische Anwendung ausgerichtet. Dieses Merkmal zeichnet übrigens auch die waffenlosen Kampfkünste des Okzidents aus. Wie es aussehen würde, wenn ein Fechtmeister seine Kunst mit Elementen aus der Oper würzen wollte, bleibt unserer Phantasie überlassen.


Szene aus einer chinesischen Oper. Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert.

Doch zurück zum Thema. Während der Kulturrevolution entwickelten Wushu-Professoren, u. a. unter der Leitung von Wen Jingming, die sogenannte guidingquan (规定拳), eine festgelegte Faustform des neuen wushu. Mit dieser Form ist Jet Li13 All China Wushu Champion geworden. Diese guidingquan enthält bereits Elemente der chinesischen Oper. Wen Jingming erforschte diese Form wissenschaftlich und fand heraus, dass es, wenn man sie von Anfang bis Ende läuft, hinsichtlich der körperlichen Leistung so ist, als würde man einen 8 000-Meter-Lauf mit sehr hoher Geschwindigkeit absolvieren.

Ich selbst trainierte diese Form ganz zu Anfang meiner Zeit in China. Meister Li ließ sie mich üben, obwohl ich damit nicht einverstanden war. Nach einer Weile hatte ich genug. Ich erklärte Meister Li, dass ich mir für diese Art des wushu zu schade sei. Ich kam mir veralbert vor. Anfangs war Meister Li nicht sehr froh, dass ich ihm meine Meinung so offen sagte. Er antwortete, dass ich für die »richtigen Sachen« noch nicht das nötige jibengong (基本 功)14 hätte. Natürlich braucht man für die guidingquan auch gewisse Grundlagen, und man muss schon ein guter Athlet sein, um sie zu meistern, aber für die traditionellen Formen braucht man eben noch ein bisschen mehr. Man benötigt explosive Kraft (baofali), während man in den modernen Formen mit seinen Techniken mehr »malen« (画拳) wird. In den alten Formen gibt es Anwendungen, in den neuen Formen wird darauf nicht mehr eingegangen. So trainierte ich in der Folge drei Jahre traditionelles jibengong und ließ das aus meiner Sicht fruchtlose Guidingquan-Training weg.

Später kam ich dann endlich in Berührung mit der Adlerfaust (yingquan) usw., also zu den interessanten Sachen neben dem baguazhang, welches ich von Anfang an trainieren konnte. Es dürfte nur wenige Nichtasiaten geben, die im baguazhang eine ähnlich gute Ausbildung genossen haben wie ich bei Meister Li. Dies bestätigten auch andere Meister, die mitunter beim Training zuschauen kamen. Manche von ihnen sagten, selbst Chinesen würden nur noch selten diese Art des baguazhang beherrschen. Auch das ist ein Tribut an die neue Zeit.

Wushu und Sport

In China habe ich sowohl in der Sportuniversität15 trainiert, wo chinesisches wushu als Fach vertreten ist, als auch im staatlichen Profiverband. Dort traf ich einige der besten heutigen Sportler des »wushu«. In diesem Verband wird das Training von sehr jungen Trainern geleitet, wobei die älteren Schüler dann wiederum die jüngeren Schüler anleiten. Die blühende Phantasie der jungen Trainer führt z. B. dazu, dass Breakdance in die ohnehin schon veränderten Formen integriert wird. Im hinteren Büro sitzen eventuell einige alte Lehrer, die darüber lachen und sagen, dass man sie machen lassen soll. Das ist bedauerlich, denn nur die Alten könnten diesen Verfall stoppen.

Die heutigen Wushu-Formen, von denen jedes Jahr immer wieder neue entwickelt werden, sind inhaltslos, ohne jede Bedeutung, so dass eigentlich jeder Turner oder Breakdancer interessantere Bewegungsformen entwickeln könnte. Wohin solch eine Entwicklung führen kann, sieht man im amerikanischen System Extreme Martial Arts (XMA)16. Zugegeben, sowohl die XMA-Artisten als auch die Kampfsportler demonstrieren oft eine beeindruckende Körperbeherrschung, wobei sich diese beiden Richtungen immer mehr annähern. Sie bewegen sich anmutig und virtuos, was man von den kampforientierten Wushu-Meistern nicht immer sagen kann.

Ohne jede Beschönigung muss gesagt werden, dass das »moderne« wushu nichts weiter als Gymnastik bzw. Akrobatik ist, was auch zur Folge hat, dass nur junge Leute die »Techniken« ausführen können.

Das alte und kampfbezogene wushu kennt keine Altersgrenze. Es steht in keiner Konkurrenz zu irgendwelchen anderen Systemen. Die Meister testeten die Techniken oft in realen Szenarien, wobei sie meist mehr als nur einige Kratzer davontrugen. Es ist ziemlich respektlos, dieses Erbe einfach beseitigen zu wollen. Die Rede ist hier von einer lebendigen Tradition, die immer noch ihre Gültigkeit besitzt.

Ich kann nicht leugnen, dass ich kein Anhänger der »Versportlichung« bewährter Kampfkünste bin. Ich habe mich davon überzeugen können, dass dieses Verbessern- oder Verändernwollen den Kampfkünsten von jeher mehr geschadet als genützt hat, getreu dem Sprichwort: »Wenn etwas nicht kaputt ist, repariere es nicht.« Diese Erkenntnis beruht auf meinen persönlichen Erfahrungen in ganz unterschiedlichen Schulen wie dem Karate, Boxen, Ringen und nun dem wushu. Jedoch geht es mir keineswegs darum, Turniere und Wettkämpfe schlechtzumachen. Beide haben ihren Sinn und positive Auswirkungen. Sie bringen Menschen zusammen und lassen Bekanntschaften und sogar Freundschaften entstehen. Ich selbst habe mit durchschnittlichem Erfolg schon an dem einen oder anderen Formenwettkampf oder Kampfwettbewerb teilgenommen und dadurch neue Freunde und Bekannte gewonnen. Man vergleicht und misst sich mit anderen, ohne dabei böse Absichten oder Gefühle zu haben. Olympische Spiele oder Weltmeisterschaften spielen in der heutigen Welt eine wichtige Rolle. Durch diese Wettkämpfe können wir unsere Stärke vergleichen, ohne dem Gegenüber feindlich gesonnen zu sein. Das bedeutet letztendlich Konfliktvermeidung durch Sport. Das hat auf jeden Fall etwas für sich.

 

Anzumerken ist auch, dass die Sportrichtungen den Körper ruinieren. Sie sind verheerend für die Gelenke, besonders für Knie und Rücken. So trägt jeder Wushu-Profi irgendwelche Bandagen oder Stützen, um seine kaputten Gelenke zu schützen, und das, obwohl die meisten von ihnen erst um die Zwanzig sind. Ist das Kampfkunst, ist das gongfu? Nein, denn im wushu geht es darum, durch geeignete Trainingsmethoden zu einem starken Körper zu gelangen, den man durch gute Techniken im Notfall schützen kann und der seine Gesundheit bis ins hohe Alter behält.


quan wu quan, yi wu yi, wu quan wu yi shi zhen yi

Faust ohne Faust, Sinn ohne Sinn –

ohne Faust, ohne Sinn ist der wirkliche Sinn.

Modernes und altes Wushu

Eine Geschichte des Niedergangs

Das wushu erfreut sich heute einer so großen Popularität wie nie zuvor. Das gilt auch für China. Paradoxerweise schrumpfen gleichzeitig die Zuschauerzahlen bei den Wushu-Wettkämpfen. Mittlerweile sind dabei mehr Sportler als Zuschauer anwesend. Selbst das chinesische Volk lehnt das moderne wushu großenteils ab. Das war früher undenkbar. Einst drängten sich die Leute in den Hallen auf den Zuschauerplätzen, nur um einen Meister des wushu bei der Ausübung seiner Techniken zu sehen. In den 50er und 60er Jahren waren die Veranstaltungen ausverkauft, wenn dort alte chinesische Meister ihre Fähigkeiten demonstrierten. Die Frage ist, wie lange es noch Menschen geben wird, die den Unterschied erkennen und die Qualität einer echten Kunst zu würdigen wissen.

Ich möchte hier noch ein wenig auf den Verfall des wushu eingehen. Schleichende Veränderungen sind in der Regel schwer wahrnehmbar. Aber wenn man mitten im Geschehen steht, das Neue und das Alte kennengelernt hat und dann die letzten Jahre in einem gedanklichen Zeitraffer vorüberfliegen lässt, dann wird dieser Verfall sehr greifbar.

Während meiner Zeit in China konnte ich mit einigen der besten Sportler trainieren, alles Profis im wushu und im sanda. Das nanquan (Südfaust), das ich dort übte, ist im heutigen wushu das Beste. Üblicherweise ging das so vor sich: Ich zog durch die Straßen von Wuhan und trainierte früh bei Meister Tian Chuanqing (田传青) traditionelles zuibaxian (Boxen der acht betrunkenen Unsterblichen). Danach erhielt ich bei Meister Li die nächste Lektion. Im staatlichen Wushu-Verband folgte eine weitere Runde und abends, hinterm Restaurant, noch eine Einheit. So lernte ich gleichzeitig das Alte und das Neue kennen.

Ich will den Unterschied zwischen der heutigen Ausführung der Techniken und dem ursprünglichen Sinn des wushu anhand des Beispiels der Bewegungsfolge xuan feng jiao (旋风脚) darstellen. Das ist ein Drehsprung in der Luft. Die ursprüngliche Technik ist, wenn man sie beherrscht, ohne Frage kampftauglich. Meister Chen Chongxi (陈重昔) erklärte die eigentliche Bedeutung und Anwendung sehr gut: »Als Vorbereitung schlägt man zwei schnelle Handkanten, während man in den Gegner hineingeht. Dann sinkt man in eine leichte Hocke und springt mit einer Drehung den Gegner an. Dabei versucht man, ihn am Hinterkopf zu treffen, was tödlich sein kann. Bei größerem Abstand trifft man mit dem Fuß, bei enger Distanz trifft man mit dem Knie. Ein kleinerer Kämpfer kann diese Technik an einem größeren Gegner einsetzen.«

Im heutigen wushu sieht diese Technik dagegen etwa so aus: Man läuft ohne irgendwelche Vorbereitung mit vier Schritten an, springt ab, dreht sich möglichst zweimal in der Luft und landet in einem theatralischen Stand. Ohne zu wackeln, versteht sich, sonst gibt es Punktabzug. Jeder Gegner würde sich über einen derartig leichtsinnigen Angriff freuen. Während man bei der klassischen Variante das eine Knie eng an den Körper zieht, um eine dynamische Kraft aufzubauen – worauf es nun einmal ankommt –, springt man bei der modernen Version ohne Eigenschutz wie ein Eiskunstläufer in die Höhe. Dieser Vergleich ist durchaus angebracht, da man in beiden Fällen ein ähnliches Ziel hat: Ästhetik. Der Kraftaufbau und die Kraftübertragung, der Sinn der Technik und deren Nutzen werden beim »neuen« wushu vollkommen ignoriert. Speziell bei dieser Technik geht es nur noch um den Sprung. Die Techniken zwischendurch sind erfundene Verzierungen.

Auch in anderen Kampfkünsten wurden Technik verändert, weil man meinte, man müsse sie der modernen Zeit anpassen. Im Karate gibt es beispielsweise die Technik age uke (jpn. 上げ受け), einen Block, der das Gesicht abdecken soll. Heute wird diese Technik weit weg vom Kopf ausgeführt (Foto 4). Warum? Das weiß keiner so genau. Tatsache ist, dass die analoge Technik in ziemlich vielen chinesischen Kampfkünsten enthalten ist, so z. B. im baji (八極拳), im tanglang und im tongbei (通背拳). Hier wird die Technik jedoch eng und knapp am Kopf ausgeführt und die Bewegung wird nicht so langgezogen. Gegnerische Attacken zum Kopf können so kurz und knapp abgewehrt werden (Fotos 5 bis 8).


Foto 4: So wird der age uke heute auf stereotype Weise in vielen Stilen des Karate oder des wushu trainiert.


Foto 5


Foto 6

Fotos 5 und 6: Tatsächlich lässt man den gegnerischen Angriff abgleiten. Die Technik funktioniert wie ein Keil, den man in den Angriff hineinsetzt und an dem man die Kraft ableitet.

Dehnung und Stand im alten und neuen Wushu

Ein weiterer Aspekt, an dem man die Abflachung des heutigen wushu deutlich erkennen kann, ist die ursprünglich entwickelte Dehnung. Die Übung, bei der man mit seinem Fuß die Kinnspitze berührt (Foto 9), ist typisch chinesisch. Zwar muss man dabei die Körperproportionen betrachten, aber innerhalb dieser Grenzen gibt es ein Richtig und ein Falsch. Die Chinesen sind durch ihren Körperbau für diese Dehnung in der Regel etwas besser geeignet als Europäer und können diese deshalb leichter durchführen.


Foto 7


Foto 8

Fotos 7 und 8: Die Bewegung des age uke als aktiver Angriff oder als Abwehr und Angriff zugleich.

Ursprünglich dehnten die Meister sich eng. Cheng Jianping (程剑 平), mein älterer Wushu-Bruder, ist Jahrgang 1962, und bis vor kurzem klemmte er sich seine Füße noch spielend unter das Kinn. Meister Tian Chuanqing, mein erster Zuibaxian-Lehrer, ist über 50 und berührt mit seinen Füßen problemlos die Nase, obwohl er sehr kurze Beine hat und recht breit gebaut ist. Diese Männer haben ihr Leben lang bei Meistern erster Klasse trainiert, von Kindesbeinen an.


Foto 9: Traditionelle chinesische Dehnung.

Im allgemeinen sind die Chinesen heute schlechter gedehnt als früher. Die Wushu-Profisportler haben nicht mal eine halb so gute Dehnung wie Cheng Jianping und das, obwohl sie meist etwa zwanzig Jahre alt und durchtrainierte Athleten sind. Das Bein wird nicht mehr eng, sondern lang gedehnt, so wie in der Gymnastik.17 Der Grund dafür ist, dass enge Dehnung die Muskeln stärkt und zuviel Kraft entstehen lässt, so dass man sich während einer Vorführung nicht mehr ästhetisch genug bewegen kann. Ursprünglich ging es jedoch nicht um Ästhetik, sondern um Kraft. Doch auch, wenn nach meiner Erfahrung die chinesische Art der Dehnung die beste der Welt ist, ist sie natürlich nicht alles. Sie ist eine wichtige Grundlage, aber sie sagt noch nichts über die Kampfqualität aus.

Einher mit dem Gesagten geht ein weiterer Punkt, die Stellungen. Zu den wichtigsten Stellungen und Schritten (bufa, 步法) zählen der gongbu (弓步, Bogenstand, jpn. zenkutsu dachi 前屈立) und der mabu (马步, Pferdestand, jpn. shiko dachi 四股立). Studiert man den heutigen mabu, so ist daran keine Unregelmäßigkeit festzustellen. Das ist nicht als Lob gemeint. Die Haltung ist eindeutig auf Schönheit und Ästhetik hin ausgelegt. Die Füße sollen parallel stehen, der Stand muss sich mit dem Körper und den Händen harmonisch ausbalancieren. Auf Chinesisch sagt man dazu liang xiang (亮象, Showform).

Betrachtet man alte Gemälde und Kunstwerke mit Darstellungen von Kämpfern, sieht man einen ganz anderen mabu, eine Haltung, die auf Stabilität und Anwendbarkeit ausgerichtet ist. Als ich einmal mit Meister Li unterwegs war, sahen wir eine Abbildung in Stein, auf der alte Kämpfer (xiake, 侠客) dargestellt waren. Mein Lehrer wies mich auf den Stand der Figuren hin. Ihre mabu und gongbu waren bei weitem nicht so elegant, wie man das heute erwartet, doch sie drückten ganz deutlich Kraft und Stabilität aus.


Foto 10: Moderner gongbu. Er ist viel zu lang und wird dadurch kraftlos und instabil.


Foto 11: Meister Li Yuanchao im »echten« gongbu. Er war ein Schüler eines der letzten Xingyi-Meister in China – Großmeister Qi Dianchen. Auch sein Stand ist sehr tief, aber dennoch sind seine Beine nicht so langgezogen und haben somit Stabilität. Dadurch ist er auch flexibel, und seine Handtechniken sind kräftig und können jederzeit entsprechend den Umständen verändert werden. Man beachte die durch hartes Training gekräftigten Arme und den Ausdruck der Kraft, die in dem alten Meister steckt, der noch dazu schwerste Zeiten in China durchleben musste, wie Kulturrevolution und Hungersnöte.


Foto 12: Meister An in traditionellem tiefen Mabu-Stand.

Wie ich im Kapitel über die yanyu (S. 357) zu erklären versuchen werde, entspricht der heutige Kunstgeschmack hinsichtlich des wushu nicht mehr dem, der in den alten Steinreliefs zum Ausdruck gebracht wurde. Letzterer orientierte sich am Wissen um die Anwendbarkeit der Kraft und der Technik, an der realen Kampffähigkeit, ganz so, wie dies einst auch die Zuschauer eines Gladiatorenkampfes in Rom gesehen haben werden.

Traditionelles und heutiges Training

In den alten Stile der chinesischen Kampfkunst wurde immer Wert darauf gelegt, durch beharrliches Training (gongfu) ein Verständnis für den eigenen Körper und den eigenen Geist zu schaffen. Die Meister strebten danach, sich selbst zu verstehen, das eigene Wesen zu entdecken. Das ist etwas grundsätzlich anderes als das Streben nach banalen Glücksmomenten, wie sie sich nach einem Sieg in einem sportlichen Wettkampf einstellen.

 

Es ist ein Irrglaube, dass man wushu schnell erlernen kann. Als Sportler trainiert man drei bis vier Jahre, um eine Medaille zu gewinnen. Dann wird man Trainer und beginnt das Erlernte zu unterrichten. Wer möchte schon bei jemandem mit solch einer Karriere Unterricht nehmen? Was kann man dort lernen? Mein Meister, Li Zhenghua, trainierte 20 Jahre jeden Tag bei den besten Meistern seiner Zeit, bevor er von Meister Xiong Daoming (雄道明) das chushi (出师) bekam. Chushi bedeutet, dass man von seinem Lehrer die Erlaubnis bekommt, von nun an selbst Schüler anzunehmen, weil man die nötige Reife hat. Es entspricht in etwa dem japanischen menkyo kaiden18. Obwohl es durchaus noch diese Lizenzierung gibt, greift man immer seltener darauf zurück. Die Schüler halten meist nicht mehr solange durch. Es ist einfach unseriös, wenn heute jemand nach fünf oder vielleicht auch zehn Jahren unbeständigen Trainings Visitenkarten drucken lässt, auf denen er sich als Meister oder shifu ausweist. Ganz davon abgesehen, dass shifu eine Art Titel ist, den man von seinen langjährigen Schülern erhält. Kein seriöser Lehrer würde in China auf die Idee kommen, sich vor anderen als shifu zu bezeichnen. Ähnlich verhält es sich mit den sensei (先生) in Japan. Und so etwas ist nicht bloß auf Asien beschränkt. Wenn sich früher ein fremder Fechter, der sich prahlerisch als Meister ausgab, in Deutschland, Frankreich oder Italien im Gebiet eines echten Meisters niederließ, konnte ihn dieser kühne Entschluss schnell das Leben kosten.

Es gibt heute viele Veröffentlichungen, die sich mit der Frage beschäftigen, was wohl besser sei, modernes oder klassisches wushu. Neulich las ich einen Bericht, in dem es hieß, modernes wushu sei auf alle Fälle schwieriger, da es ja eine Weiterentwicklung sei. Eine überflüssige Abhandlung mehr, die leicht zu widerlegen ist. Es gibt in vielen Bereichen den Punkt, an dem man sagen kann und muss: Bis hierher und nicht weiter. Eine »perfekte« Sache kann man nur noch verderben, wenn man sie verändert. Ich selbst habe es an der praktischen Erfahrung gemerkt. Baguazhang übte ich ziemlich lange. Ebenso das yinyangchui (阴阳锤 – siehe S. 254 f.) von Meister Zeng Tianyuan (曾天元 – siehe S. 185 ff.), einem Lehrer Meister Lis. Bei beiden verstehe ich die Kraftprinzipien noch nicht ganz. Selbst Meister Li, der das yinyangchui von Zeng Tianyuan nun schon an die 40 Jahre trainiert, sagt, dass es immer noch einen Unterschied gibt im Vergleich zu Meister Zeng. Echtes wushu ist sehr schwer zu meistern.

Die neuen Wettkampfformen habe ich bei den besten Trainern Chinas trainiert. Innerhalb von nur einer Woche lernte ich die höchste Qualität des heutigen chinesischen nanquan (Südfaust), in einer weiteren Woche lernte ich den Umgang mit Säbel (dao, 刀), Schwert (jian, 剑) und Lanze (qiang, 枪). Das fiel mir nicht schwer. Nachdem ich einige Jahre bei Meister Li durch eine traditionelle Schule gegangen bin, empfand ich das Training der Profisportler im staatlichen Wushu-Verband als leichte Aufwärmgymnastik. Mir ist bewusst, dass sich das arrogant anhört. Es ist aber dennoch wahr. Während der Ausbildung im traditionellen wushu musste ich mich durch Übungen kämpfen, die alles andere leicht erscheinen lassen. Hätte ich das für mich fruchtlose Training im Verband weiter betrieben, wäre ich heute vielleicht ein echter Wushu-Champion.19

Es besteht ein deutlicher Unterschied zwischen normalem Training und der Ausbildung in der echten chinesischen Kampfkunst. Ein Freund von mir beschrieb das Phänomen mit den Worten: »In den alten Kampfkünsten studierte man Kraft und Technik auf sehr harte Weise, immer mit dem Ziel, die größtmögliche Wirkung im Kampf zu erzielen. Auf diesem Weg erreichte man eine Geschicklichkeit, die Ungeübte für wunderbar hielten. Die Meister demonstrierten Beispiele ihrer Stärke und ihrer Geschicklichkeit. Sie zerschlugen Bäume oder Steine mit ihren Händen. Solche und ähnliche Tricks vollführten sie mit spielerischer Leichtigkeit. Sie konnten dies, da ihre Kampfübungen ungleich härter ausfielen. Heute lässt man diese essentiellen Elemente weg, um nur noch das ›Nebensächliche‹ zu trainieren. Aber ohne die nötige Kampfkraft bleibt das Studium der Kampfkunst wirkungslos.«