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Die Tradition in der Gegenwart

Die Kultur des wushu und aller anderen Kampfkunstarten ist sehr umfassend. Alles darin hat seinen Platz und seinen Sinn, auch wenn vieles hinterfragt werden kann. Die heutigen weltweiten Kampfkunstverbände haben nichts mehr mit dieser Kultur gemein. Ein Verband oder eine Schule ist ein Betrieb. Es geht ums Geldverdienen. Der Schüler ist kein Schüler, sondern in erster Linie ein Kunde, an dem man eine Dienstleistung verrichtet. Durch diese Situation geht leider viel von der Kampfkunstkultur verloren. Einer der letzten echten Meister Chinas, Chen Chongxi, sagte einst in meinem Beisein zu meinem Lehrer: »Die Menschen heutzutage verstehen nichts von der Kampfkunst. Schau dir einmal diese ganzen Typen an, die heute irgendwo trainieren, in Schulen, in Verbänden usw. Was wissen die schon über Kampfkunst? Ich fuhr damals eine ganze Nacht mit dem Zug, ohne Sitz oder Bett, nur um meinen Lehrer zu besuchen und ein wenig Unterricht zu bekommen, und danach gleich wieder zurück.« Auch wenn diese Sätze nach dem typischen Gerede der alten Generation klingen, stimmen sie in diesem Fall. Einige Biographien belegen manchmal sehr dramatisch, unter welchen Umständen die Schüler früher oft lernen mussten.

Auch der wahrscheinlich letzte echte Erbe des ninjutsu (忍術), Hatsumi Masaaki38, musste riesige Entfernungen zurücklegen, um etwas von seinem Lehrer lernen zu können. Somit war jede Minute Lehrzeit etwas besonders Kostbares. Kaum jemand würde heutzutage noch solche Mühe auf sich nehmen, um in den Genuss einer exklusiven Lehrstunde zu kommen, so dass das Verständnis für diese Art Opferbereitschaft zusehends verlorengeht. Dabei muss jedem klar sein, dass die alten Meister ihr Wissen nicht einfach so in einer Schule oder einem Verband weitergeben, selbst nicht für viel Geld. Dieses Wissen musste man sich früher verdienen, man musste seiner würdig sein. Es ist eine Illusion zu glauben, ein Meister würde sein Wissen preisgeben, nur weil man vielleicht einmal Tee mit ihm getrunken und ein paar Worte gewechselt hat. Wenn man sich vor Augen führt, wie schwer die Lehrzeit für die alten und echten Meister war, wird man sehr schnell verstehen, dass sie niemals ihr Wissen verschleudern werden.

Insgesamt ist die Kultur der kriegerischen Künste heute im Untergang begriffen. Im Falle des Shaolin verläuft diese Entwicklung meiner Ansicht nach sehr negativ, selbst wenn das Negative, wie noch gezeigt werden soll, auch positive Aspekte in sich birgt. Früher war das Oberhaupt des Shaolin-Tempels derjenige, der die Lehre des Buddhismus, die Kampfkunst und das Leben an sich am tiefsten verstand. Er musste nicht nur die technischen Aspekte gemeistert haben, sondern auch die geistigen. Das galt für die Dinge des Lebens wie für die menschliche Natur.

Auf den heutigen obersten Abt des Shaolinklosters Shi Yongxin39 (释 永信) trifft dies alles nicht zu. Sein Amt ist heute als das eines Geschäftsführers zu verstehen. Das Shaolin ist eine Firma, eine Handelsmarke, die jährlich Millionenumsätze verbucht. Über all den geschäftlichen Angelegenheiten bleibt keine Zeit mehr für die einst so effektive Kampfkunst. Seit einigen Jahren sind Massenabfertigungen von Lernwilligen gang und gäbe. Qualität kann man dabei natürlich nicht erwarten. Das wushu von Shaolin ist an einem Tiefpunkt angelangt und reißt andere Kampfkünste mit sich in den Abgrund. Mit echter Kampfkunst ist kein Geld zu machen, wohl aber mit dem Anschein davon. Shaolin hat dies verstanden und hat damit Maßstäbe für ganz China gesetzt.

Diese kritische Sicht auf die Kommerzialisierung der Kampfkünste beleuchtet nur einen Teil der Wahrheit. Das Gebiet um Shaolin (Dengfeng 登封) war früher eine der ärmsten Gegenden der Provinz Henan. Die Einheimischen hatten ein sehr niedriges Einkommen und führten ein bitteres Leben. Aber durch die richtige Vermarktung und den daraus folgenden Tourismus sind aus diesen armen Bauern wohlhabende und finanziell sorgenfreie Bürger geworden. 38 Prozent aller Menschen um Shaolin bestreiten ihren Lebensunterhalt vom Tourismus. Heißt das nicht, dass Shi Yongxin es richtig macht? – Auf der einen Seite gibt es die Shaolin-Tradition und deren unzeitgemäße Ideale, die vielleicht selbst in der Vergangenheit niemals tatsächlich umgesetzt werden konnten. Auf der anderen Seite gibt es die Chance, die Berühmtheit des Shaolin zu nutzen, um die wirtschaftliche Lage der Menschen der Region zu verbessern.

Tatsächlich geht es nach den Statuten des Klosters darum, Gutes für die Menschen und die Gesellschaft zu tun und das Land zu beschützen. Und das wird heute vielleicht sogar besser umgesetzt als in all den Jahren, in denen das Kloster nur den Mönchen gehörte. Ein verschlossenes und traditionell verstaubtes Shaolin hat gar nicht die Möglichkeit, in dieser Größenordnung Gutes zu tun. Ist es deswegen nicht so, dass Shi Yongxin für die Menschen und die Gesellschaft den richtigen Weg einschlägt? Durch seine Leitung des Shaolinklosters und dem daraus resultierenden Profit hat sich das Leben vieler Menschen verbessert, egal ob bei der Bildung, der medizinischen Versorgung oder dem Einkommen der Bürger. Das sollte man auf jeden Fall berücksichtigen.

Die Meinung vieler Menschen des Abendlandes, die Vermarktung und Verwestlichung sei schlecht für Shaolin und für ganz China, zeugen von einer unausgewogenen Sicht auf die Dinge. Es läßt sich leicht von fernöstlichen Idealen reden, wenn man ein abgesichertes westliches Leben führt.

In Japan hatte man die Kampfkünste als Markt im übrigen viel eher entdeckt. Nakayama Masatoshi40 wird oft als Papst des Karate bezeichnet. Diese Bezeichnung ist nicht abwegig. Wer sich in der Welt des Karate auskennt, weiß, daß Nakayama technisch nicht herausragend war. Er berief sich zwar gern auf Meister Funakoshi als seinen Lehrer, doch war er im wesentlichen nur Schüler von dessen Schülern. Allerdings besaß er unbestreitbar organisatorisches Talent. Er baute die JKA41 auf, die heute einen der größten Verbände für Kampfsport darstellt. Nakayama besaß die entsprechenden gesellschaftlichen und politischen Kontakte, um der JKA schnell einen weltweiten Ruf zu verschaffen, mit Zweigstellen rund um den Globus. Er war einer der ersten »Geschäftsführer« in der Kampfkunstszene. Ihm ist es zuzuschreiben, dass die Kultur des Karate zu einem sehr erfolgreichen Business werden konnte.

Diese Beispiele stehen stellvertretend für nahezu alle Richtungen der Kampfkunst. Einige Kampfstile haben sich jedoch der heutigen Markt- und Profitgesellschaft angepasst und sich trotzdem einen Teil ihrer Kampfstärke und andere Eigenschaften erhalten können. Dies gilt beispielsweise für das Kyokushin-Karate von Oyama Masutatsu42 .

Das Kyokushin-Karate gilt als eine der kampfstärksten heutigen Kampfsportarten. Diese Schule war ein Wegbereiter für das erfolgreiche und profitable K-1-Wettkampfgeschäft.43 Das kyokushin hat sich zwar in eine kommerzielle Sportart gewandelt, aber sich dennoch etwas von seinem alten Wesen bewahren können. Dieses Beispiel zeigt, wie die Kultur des wushu und der Kampfkünste allgemein heute sein könnte und vielleicht sein sollte.


dong quan bu liu qing, liu qing bu dong quan

Zuschlagen ohne Nachsicht (Mitgefühl),

aus Mitgefühl (Nachsicht) nicht zuschlagen.

Der Xiake-Geist

Die Verkörperung des höchsten Ideals in der chinesischen Wushu-Kultur ist seit frühester Zeit der xiake (俠客). Im alten China war der xiake ein Kämpfer, dessen Handeln durch Edelmut geprägt war.


Ausschnitt eines chinesischen Drucks aus dem 19. Jahrhundert; zu sehen sind 8 der 108 Räuber vom Liangshan-

Die xiake waren zwar meist Einzelgänger, die keinem Herrn folgten, doch wenn es die Umstände geboten, bildeten sie auch Gruppen oder manchmal Armeen aus Individualisten, die sich – wenn auch nur oberflächlich – vom Konfuzianismus zu lösen vermochten. In dem bekannten Roman »Die Räuber vom Liangshan-Moor«44, werden 108 bekannte xiake der Song-Dynastie dargestellt. Sie wurden, ganz ähnlich den Sherwood-Forest-Gefährten Robin Hoods, mehr oder weniger unfreiwillig zu Gesetzlosen und lebten und handelten nur nach den Regeln ihres Gerechtigkeitsempfindens. Und so, wie sich Robins Gesellen im Bogenschießen übten, trainierten auch die chinesischen xiake ihre Kampfkünste. Die Bezeichnung »chinesischer xiake« stellt hier keine Verdopplung dar, sondern verweist darauf, dass es in der Weltgeschichte und -literatur immer wieder Charaktere gegeben hat, die alle Attribute eines echten xiake aufwiesen.

Es gibt eine ganze Reihe Gestalten in fast jedem Kulturraum, die den chinesischen Helden vom Wesen her gleichen, so z. B. die europäischen Ritter. Dies gilt nicht so sehr für die ordinierten milites der geistlichen Kriegerbünde, sondern eher für die weltlichen Kavaliere, die Cervantes mit seinem Don Quijote so herrlich persifliert hat. Fahrende Ritter erfüllen nahezu alle Voraussetzungen für einen xiake, mit dem Unterschied, dass in China auch Frauen zu den xiake gehören konnten. Ihre Ideale wie Würde, Treue, Demut, Zurückhaltung, Beständigkeit und Tapferkeit lassen sich noch heute noch mit dem Wort »ritterlich« zusammenfassen und wären sicher auch von den chinesischen oder japanischen Kriegern akzeptiert worden. Verschiedene Heldenepen erzählen von diesen westlichen xiake. Die Legendensammlung rund um die Ritter der Tafelrunde und zum Teil die Nibelungensage zeigen uns einen stark idealisierten Typus. Reale Entsprechungen sind beispielsweise William Marshal (Guillaume le Maréchal)45 und Bertrand du Guesclin46, die beide im Ruf vollkommener Ritter im besten Sinne standen.

 

Die japanischen samurai (侍) standen ihrer militärischen Natur nach den Rittern des Westens zwar näher als den Chinesen, doch ihre Lebensführung war von asiatischer Philosophie geprägt. So wundert es nicht, dass der vielleicht bekannteste japanische xiake, Miyamoto Musashi, ein wenig von beiden in sich zu vereinen scheint, Rittergeist und Philosophie.47

Das Wesen der xiake scheint auf den ersten Blick stereotyp. Sie waren starke Helden mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, wobei dieses Empfinden, diese Moral oft nicht mit den Staatsgesetzen vereinbar war. Die Wertvorstellungen folgten archaischen Ansichten von Gut und Böse. Man bezeichnete diese Art von Richtlinie als wude (武德), kriegerische Tugend. Dieser gerade Weg stieß nicht immer auf Verständnis. Während der Historiker Sima Qian (司马迁, ca. 145 - 86 v. Chr.) die Verlässlichkeit und Bescheidenheit der Xiake lobt, sieht der Legalist Han Fei (韓 非, ca. 280 - 233 v. Chr.) in ihnen ein Übel. Als Grund hierfür sah er u. a. ihre Bereitschaft, schnell, manchmal überstürzt, unter allen Umständen für ihre Sache eine Lanze zu brechen. In dem beliebten Sittenroman Jin Ping Mei (金瓶梅) stellt einer der Helden, Wu Song48, diese nahezu blinde Bereitschaft schlagkräftig unter Beweis. Den xiake galt die Gerechtigkeit viel, aber sie liebten auch das Kämpfen, obwohl viele das nur ungern zugaben. Sie gehörten dem wulin (武林) an, der recht losen und freien Gemeinschaft der Kampfkünstler. Alle xiake fühlten sich dieser Gemeinschaft mehr oder weniger verpflichtet. Selbst der größte Einzelgänger beugte sich deren ungeschriebenen Gesetzen.

Viele xiake waren naiv, andere intelligent, doch immer waren sie bestrebt, sich in den gewählten Tugenden zu vervollkommnen. Während der fahrende Ritter als soziales Phänomen in Europa gemeinsam mit dem Mittelalter verschwand bzw. sich in den Typus des Dumas’schen Kavaliers verwandelte, überlebte der xiake als Kämpfertypus in China und Japan aufgrund der Beständigkeit der auf den Konfuzianismus gestützten Kaiserdynastien bis ins 20. Jahrhundert.

Xiake, gleichgültig aus welchem Kulturkreis sie stammten, hatten immer ihre Bewunderer. In China schrieb der berühmte chinesische Dichter der Tang-Dynastie Li Bai (李白, 701 - 762 n. Chr.) ein klangvolles Gedicht über den Charakter und das Wesen eines xiake. Es beginnt mit den folgenden Versen:

Das Lied des Xiake

Drei Becher Wein sind getrunken, und das Versprechen ist gegeben.

Das Versprechen ist stärker als die fünf hohen Berge.

Die große Stärke des Schwertes und des Mutes.

Nachdem die Sache vollendet, bleiben Name und Ruf tief verborgen.

Der Fähige möge ihre Geschichten überliefern.

Xiake Xing

san bei tu ran nuo, wu yue dao wei qing.

shi bu sha yi ren, qian li bu liu xing.

shi le fu yi qu, shen cangshen yu ming.

shui neng shu gexia, bai shou tai xuan jing.

侠客行

三杯吐然诺,五岳倒为轻。

十步杀一人,千里不留行。

事了拂衣去,深藏身与名。

谁能书阁下,白首太玄经.

Li Bai, einer der größten, wenn nicht der größte Dichter Chinas, war geprägt durch den Daoismus und wollte die Befreiung von Wissen, Begierde und von dem bewussten Handeln-Wollen des Menschen. Er strebte nach Natürlichkeit. Genau für diese Dinge standen auch die xiake, und aus diesem Grund bewunderte der Dichter sie und ihre Fähigkeiten in den Kampfkünsten. Der Sinn für Kameradschaft, das Versprechen, Gutes zu tun und dem zu helfen, der dessen bedarf, sind die wichtigsten Dinge im Leben der xiake. Ihr Können und ihr Mut sind außerordentlich. Und nachdem sie ihre Taten vollbracht haben, werden sie, ohne sich zu offenbaren und Dank anzunehmen, weiterziehen.

Diese Art des Denkens und Handelns ist tief verwurzelt in der Kultur des wushu. Auch wenn heute niemand mehr das Leben eines xiake führt und dessen Kampfstärke besitzt, so ist es sinnvoll, solche Grundsätze des alten wushu zu kennen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.


ji dei yi, bi shi di

Die Kunst muss am Gegner erprobt werden.

Dalei – Wettkampf auf Leben und Tod

Zu allen Zeiten und in allen Ländern hatten die Kämpfer das Bedürfnis herauszufinden, wer von ihnen der Beste sei. Bei einigen von diesen Zweikämpfen nahm man den Tod in Kauf, während es bei anderen Duellen eher um die Zurschaustellung des Könnens ging. Bekannt geworden sind unter anderem die epischen Helden Achilles und Hektor49, die Gladiatoren Priscus und Verus50 oder die samurai Musashi und Gonnosuke51. Die meisten von ihnen liebten den Kampf, das Kräftemessen, aber es gibt auch Beispiele für große Brutalität. Einige Duellanten ließen es beim Fließen von Blut nicht bewenden, sondern sie suchten den Tod, den ihres Gegners oder auch ihren eigenen. Ich habe unzählige Biographien von Kämpfern gelesen und war manchmal erstaunt, wie wenig heldenhaft es bei ihren Kämpfen oft zuging. Beim Studium der Kampfkünste und des Lebens der Kämpfer sollte man sich besser von jeder romantischen Vorstellung trennen.

In China hat der Zweikampf eine lange Tradition. Schon aus dem Altertum sind zahlreiche Berichte überliefert. Doch auch hier spielte sich gewiss nicht alles so ab, wie es niedergeschrieben wurde.

Durch die große Vielfalt an Kampfschulen gab es natürlich regelmäßig Reibereien. Jeder Meister wollte beweisen, dass seine Schule die beste war. Herausforderungen waren an der Tagesordnung. Die Kämpfer mussten daher ständig bereit sein. Wer unterlag, verlor im harmlosesten Fall seine Schüler, im schlimmsten Fall sein Leben. All das wurde in Kauf genommen, damit der eigene Name im Land bekannt würde. Das liegt in der Natur der Sache, und daher machten eigentlich fast alle Meister die gleiche Entwicklung durch. Erst im Alter wurden viele der Meister zu besonnenen Menschen, die ihre Tage im meditativen Sitzen verbrachten. Sie zogen sich aus der menschlichen Gesellschaft zurück, weil ihnen die Sinnlosigkeit der meisten Dinge im Leben bewusst wurde.

Vor 1949 fanden in China regelmäßig Wettkämpfe statt, die man als dalei bezeichnete. Hierbei traten auf einer Plattform (leitai, 擂臺) zwei Kämpfer gegeneinander an. Die heutigen Veranstaltungen gleichen Namens haben damit nichts mehr gemein. Damals kämpfte man ohne Regeln, ohne Runden oder Zeitlimit bis zur Entscheidung. Das dalei war auf jeden Fall anders, als Bücher und Filme es vermitteln. Hinsichtlich des Kampfes ähnelte das dalei eher der Gladiatur und weniger den modernen Kampfsportturnieren. Von der Geisteshaltung her glich es jedoch eher der westlichen Duellkultur. Man sieht daran, dass diese chinesische Tradition wirklich sehr eigen ist. Die Niederlage auf dem leitai konnte stets den Tod nach sich ziehen, und jeder war sich dessen bewusst. Was aber genau das dalei ausmachte, wird heute schwer zu beantworten sein. Es gibt heute wohl keinen lebenden Meister mehr, der noch an diesen Wettkämpfen teilgenommen hat. So kann ich auch hier nur auf überlieferte Geschichten zurückgreifen, die ich von meinem shifu oder anderen Meistern hörte. Diese Legenden und Erzählungen vermitteln aber ein überzeugendes Bild über das Wesen der effektiven Kampfkunst.

Bei den Kämpfen auf dem leitai stellten sich zwei Kämpfer einander gegenüber. Einer griff plötzlich an, traf oder wurde gekontert und selbst getroffen. In den meisten Fällen war das bereits das Ende. Derjenige, der besser angriff oder besser konterte, gewann den Kampf. Es gab während des Kampfes keine Regeln. Nur das Podest durfte nicht verlassen werden. In diesem Fall war das Treffen vorbei. Wer es verließ, hatte verloren. Die Kämpfe auf dem leitai gingen sehr schnell vorüber, da jeder von Anfang an versuchte, den Gegner an gefährlichen Stellen des Körpers zu treffen. Minutenlange Kämpfe wie im Film gab es nicht. Sie wären bei dem damaligen gongfu und der explosiven Kraft der Meister gar nicht zustande gekommen. Viele Kämpfe dauerten wohl nicht viel länger als das Niederschreiben dieses Satzes.

Der aus Chongqing stammende Meister Zeng Tianyuan war der vermutlich letzte Dalei-Champion von China. Über ihn werde ich noch ausführlicher berichten.52 Meister Zeng Tianyuan erzählte meinem shifu: »Wenn man seinen Gegner nicht mit drei Techniken kampfunfähig gemacht hat, hatte man verloren.« Meister Zeng ist die wohl beste Quelle, wenn es um das dalei geht. In einigen Punkten ähnelt er dem Okinawaner Motobu Choki. Wie dieser verband er nämlich sein vielfältiges Wissen um die Kampfkunst mit seinen praktischen Kampferfahrungen. Meister Zeng hinterließ einige sehr interessante Formen, die sich durch hervorragende Anwendbarkeit auszeichnen.

Die Kampfpraxis dieses Meisters ist nicht hoch genug einzuschätzen und heute kaum noch nachvollziehbar. Zeng Tianyuan kämpfte in allen Gebieten des Landes, von Chongqing in Sichuan bis nach Shanghai. Einige seiner grandiosesten Dalei-Kämpfe lieferte er sich bei einem Turnier in der Provinz Hunan, bei dem die besten Kämpfer des Landes gegeneinander antraten. Wer eine solche Veranstaltung nicht nur einigermaßen unbeschadet überstand, sondern auch noch gewann, konnte sich ohne weiteres zu den besten Kämpfern auf der ganzen Welt zählen.

Diese gefährlichen Turniere gab es in ganz China. Es gab kleinere, regional beschränkte Veranstaltungen zwischen verschiedenen Schulen oder große öffentliche Kämpfe, zu denen Meister aus dem ganzen Land anreisten. Auch Ausländer maßen sich auf dem leitai, und zwar oft mit Erfolg. So gab es sehr starke und erfahrene russische Boxer und Ringer sowie japanische Budo-Kämpfer, die an solchen Kämpfen teilnahmen und dadurch ihr Land vertraten. Auf diese Weise entstanden besonders im 19. und 20. Jahrhundert einige Heldengeschichten, in denen chinesische Meister jene Ausländer besiegten, die zuvor ungeschlagen waren.

Der bekannteste von ihnen ist Huo Yuanjia53. Auch er ist ein sehr interessanter Charakter. Über ihn sind sehr viele Geschichten im Umlauf, die teilweise auch verfilmt wurden. Allerdings haben diese Darstellungen nichts mit der Realität des dalei zu tun. Durch Vermarktung seines Namens und durch Filme wie »Todesgrüße aus Shanghai« (Bruce Lee) und »Fearless« (Jet Li) wurde er eine bekannte Persönlichkeit. Allerdings stimmt die Geschichte, wie man sie beispielsweise im Film »Fearless« sieht, nicht. Die von den meisten Meistern in China für wahr gehaltene Geschichte ist, dass Huo ein aus Tianjin stammender Händler war, der Essen verkaufte und durch unermüdliches Training der Kampfkunst einen starken Körper bekam. Besonders seine Schulterkraft soll enorm gewesen sein. Und natürlich dauerten auch seine Kämpfe nicht den halben Vormittag …

Es war übrigens nicht zwingend so, dass die Teilnehmer am dalei unbedingt einen bestimmten Stil vertraten. Es ist natürlich eine reizvolle Vorstellung, eine Schule als die allen anderen überlegene annehmen zu können, aber auch bei diesen Vergleichskämpfen maßen sich in erster Linie Menschen. Oft vertraten einzelne Kämpfer keinen Stil. Sie benutzten nur diverse Techniken und hatten sich durch alte Gong-Übungen enorme Kräfte antrainiert. Diese Kämpfer hatten oftmals ihr Leben lang noch nie eine Form geübt. Sie hatten nur richtig kämpfen gelernt.

 

Heute beruft man sich gern auf zahllose angeblich traditionelle Stile. Einige haben Hunderte von Techniken, andere tausend Möglichkeiten, um einen Kampf zu gewinnen. Tatsache ist jedoch, dass wirklich traditionelle Stile nur wenige Techniken besitzen, und dazu gibt es ein ausgesprochen hartes Training und Gong-Übungen, um Kraft aufzubauen. Diese Techniken waren selten raumgreifend, sondern knapp, und sie wurden mit einer flexiblen Kraft ausgeführt. Mehr war im Grunde nicht nötig.

Die modernen Formen, die man auf vielen Turnieren sieht, haben sich größtenteils von ihrem Ursprung entfernt. Man hat die taolu verändert, damit sie tauglich für Formenturniere wurden. Auf einem leitai würde man damit keinen Schritt weit kommen. Man wäre vermutlich tot, sobald man das Podest betreten hätte.


rou zhong you gang gong bu po, gang zhong you rou li wu bian

In der Weichheit gibt es eine harte, unzerstörbare Kraft.

In der Härte gibt es die grenzenlose Kraft der Weichheit.

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