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Yanchigong

Es gibt in China spezielle Übungskomplexe, die jeder kampforientierte Wushu-Schüler absolvieren muss. Einer dieser Komplexe ist das yanchigong (砚弛功). Das Schriftzeichen yan bedeutet Tuschestein, und das Schriftzeichen chi steht für entspannen und lockern. Für einen chinesischen Tuschestein wird die Tusche durch sehr langwieriges und langsames Mahlen verarbeitet, um so die beste Qualität zu erreichen. Genauso sind die Übungen des yanchigong – langsame Bewegungen, bei denen sich Spannung und Entspannung abwechseln. Jede Position, die der Körper einnimmt, beeinflusst die inneren Organe, wie ich es bereits am Beispiel der natürlich eingezogenen Brust erklärt habe. Durch das Zusammenspiel der einzelnen Übungen werden nach und nach sämtliche Organe stimuliert, was sich wiederum auf die Energie für das Training auswirkt. Das Training stärkt den Körper, und der starke und gesunde Körper wiederum ermöglicht ein gutes Training. Während des Übens muss sich das Zeitgefühl ändern. Das heißt, der Stundenzeiger der Uhr sollte sich sozusagen in den Minutenzeiger verwandeln. Ohne eine derart veränderte Wahrnehmung der Zeit wäre das traditionelle Gong-Training kaum zu ertragen.

Das yanchigong besteht aus 21 Bewegungen, die in drei Teile zu jeweils sieben Übungen eingeteilt werden. Gerade die letzten sieben Bewegungen haben es in sich. Hierfür muss man in verschiedenen sehr tiefen Stellungen stundenlang ausharren. Der erste Teil fördert den Blutdurchlauf im Körper. Man bewegt sich beispielsweise langsam in die Hocke und geht dann ebenso langsam wieder nach oben, wodurch die Durchblutung erheblich verbessert wird. Der zweite Teil unterstützt das Gewebe und die inneren Organe. Diese Bewegungen sind wesentlich komplizierter. So benutzt man jeweils nur ein Bein, um in die Hocke zu sinken und sich anschließend wieder aufzurichten. Auch zieht man seine Knie oft zum eigenen Körper, was sehr gut ist für die inneren Organe. Der dritte Teil ist sehr schwer. Er dient allen inneren Organen und fördert eine innere Körperkraft. Es wird statisch trainiert, in tiefen Stellungen, ohne sich zu bewegen. Ich selbst, obwohl kein trainingsfauler Mensch, habe mit dieser Art des Übens Schwierigkeiten. Wenn man dieses gong durchhält, ist der Effekt allerdings sehr gut. Bei meinem Lehrer Li Zhenghua und auch bei ein oder zwei anderen Meistern, die in ihren jungen Jahren ähnliche Trainingsmethoden anwendeten, sah ich Muskelpartien am Bein, die ich bis dahin noch gar nicht kannte. Und das, obwohl diese Herren schon um die 60 Jahre alt sind.


Foto 14


Foto 15

Fotos 14 und 15: Bewegungsfolge aus dem ersten Teil des yanchigong. Man beachte die eingezogene Brust; das Herz wird durch diese Stellung »eingewickelt« und dadurch in eine pflegende und beruhigende Position gebracht. Man geht hierbei ganz langsam nach unten und wieder nach oben; je langsamer, desto besser.


Foto 16


Foto 17


Foto 18

Fotos 16 bis 18: Sequenz aus dem zweiten Teil des yanchigong. Die Bewegungen werden ganz langsam ausgeführt. Man dreht sich von der Haltung auf Foto 17 in die von Foto 18, ohne dabei zu wackeln, den erhobenen Fuß abzusetzen oder die Höhe zu verändern.

All das gilt nicht nur für das yanchigong, sondern für sämtliche echten Gong-Übungen. Welches Training das Beste ist, lässt sich nicht sagen. Die Frage stellt sich nicht einmal. Meister Li, der seit frühster Kindheit mit den verschieden Meistern trainierte und dabei auch die verschiedensten Arten von gong übte, bevorzugt das yanchigong, aber andere Meister haben andere Ansichten. Doch solche Widersprüche sollten zu keinem Streit zwischen den einzelnen Vertretern der Kampfkünste führen. Streit über derartige Dinge hat meines Erachtens oft nur den Grund, dass jemand von eigenen Schwächen ablenken will.


Foto 19


Foto 20


Foto 21

Fotos 19 bis 21: Bewegungsfolge aus dem dritten Teil des yanchigong. Hier bewegt man sich nicht mehr, sondern steht statisch in tiefen Stellungen (über eine Stunde lang). Der gesamte Körper hält die ganze Zeit über eine starke Innenspannung aufrecht und baut dadurch eine große und effektive Kraft auf. Wie man im Bildausschnitt auf Foto 20 b erkennen kann, werden in Position 20 die Fersen angehoben, so dass man auf den Ballen steht.


Foto 20 b

Clausewitz und das Gongfu

In den vorliegenden Abschnitt über das gongfu sind viele Gedanken aus Clausewitz’ großartigem Werk »Vom Kriege« eingeflossen. Das ist kein Zufall. Gongfu ist, wie oben dargelegt, durch ein Buch grundsätzlich nicht vermittelbar. Es ist durch lange Zeit hingebungsvollen Trainings erworbenes Können, das jederzeit abrufbar und praktisch einsetzbar sein muss. Erst durch die sinnvolle Anwendung des Könnens ist das gongfu vollständig.

Im Kapitel »Über die Theorie des Krieges« schreibt Clausewitz folgendes:

Das Wissen muß ein Können werden

Wir haben jetzt noch einer Bedingung zu gedenken, welche für das Wissen der Kriegführung dringender ist als für irgendein anderes: daß es nämlich ganz in den Geist übergehen und fast ganz aufhören muß, etwas Objektives zu sein. Fast in allen anderen Künsten und Tätigkeiten des Lebens kann der Handelnde von Wahrheiten Gebrauch machen, die er nur einmal kennengelernt hat, in deren Geist und Sinn er nicht mehr lebt, und die er aus bestaubten Büchern wieder hervorzieht. Selbst Wahrheiten, die er täglich unter Händen hat und gebraucht, können etwas ganz außer ihm Befindliches bleiben. Wenn der Baumeister die Feder zur Hand nimmt, um die Stärke eines Widerlagers durch einen verwickelten Kalkül zu bestimmen, so ist die als Resultat gefundene Wahrheit keine Äußerung seines eigenen Geistes. Er hat sich die Data erst mit Mühe heraussuchen müssen und diese dann einer Verstandesoperation überlassen, deren Gesetze er nicht erfunden hat, und deren Notwendigkeit er sich zum Teil in dem Augenblick nicht einmal bewußt ist, sondern die er großenteils wie mechanische Handgriffe anwendet. So ist es aber im Kriege nie. Die geistige Reaktion, die ewig wechselnde Gestalt der Dinge macht, daß der Handelnde den ganzen Geistesapparat seines Wissens in sich tragen, daß er fähig sein muß, überall und mit jedem Pulsschlag die erforderliche Entscheidung aus sich selbst zu geben. Das Wissen muß sich also durch diese vollkommene Assimilation mit dem eigenen Geist und Leben in ein wahres Können verwandeln. Dies ist der Grund, warum es bei den im Kriege ausgezeichneten Männern so leicht vorkommt, und alles dem natürlichen Talent zugeschrieben wird; wir sagen: dem natürlichen Talent, um es dadurch von dem durch Betrachtung und Studium erzogenen und ausgebildeten zu unterscheiden.31

In den letzten Jahren habe ich sehr viele Bücher und Ausarbeitungen über das Thema gelesen oder mir audiovisuelle Darstellungen dazu angesehen. Den Begriff gongfu hörte ich überall, gerade wenn es um chinesische Kampfkunst geht, auch wenn gongfu sich nicht darauf beschränkt. So gut wie alles, was ich darüber las, war unvollständig, oberflächlich oder schlicht falsch. Manchmal waren die Ausführungen auch zu sehr verklärt. Tatsächlich fand ich im Buch »Vom Kriege« die beste und zutreffendste Erklärung über das gongfu. Es war der Deutsche Clausewitz, der, obwohl er den Begriff nicht kannte, die Bedeutung und Anwendung des gongfu am besten beschrieben hat, so dass kaum noch Ergänzungen nötig sind.

Gongfu als beständige Mühe

Gongfu hat allerdings noch ein wichtiges Merkmal, das besonders bedeutsam ist, wenn es um Kampfkünste geht: Gongfu ist etwas, das man nicht vernachlässigen darf. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich einen Ausspruch von Funakoshi Gichin, dem »Vater« des modernen Karate, benutzen: »Karate ist wie warmes Wasser. Es kühlt ab, wenn man es nicht ständig erwärmt.« Den Begriff »Karate« kann man hier ohne weiteres durch »gongfu« ersetzen. Funakoshi drückte mit seinem Spruch die Bedeutung des gongfu in den Kampfkünsten, in seinem Fall im Karate, aus.

In China gibt es ein anderes Sprichwort, das auf das gleiche hinausläuft. Es lautet: »Yitian bu lian, tian he ziji zhidao, liang tian bu lian, neihang ren zhidao, santian bu lian, waihang ren zhidao« (一天不练, 天和自己知道. 两天不练,内行人知道. 三天不练, 外行人知道). –»Trainiert man einen Tag nicht, wissen es nur der Himmel und man selbst. Trainiert man zwei Tage nicht, wissen es auch die Experten (der Kampfkunst). Trainiert man drei Tage nicht, wissen es auch die Laien.«

 

Gongfu und Sport

Etwas zu wissen ist eine Sache, Wissen zu verstehen eine andere, und das Wissen zu verinnerlichen wieder eine andere. Aber das verinnerlichte Wissen muss man auch anwenden können, so dass aus Wissen Können wird. Und das ist die vierte Sache. Hinzu kommt, dass man sich die körperlichen Grundlagen antrainieren muss, um sein Wissen und Können auch effektiv einsetzen zu können, ganz so, wie ein Gewehr nur mit trockenem Pulver gut schießen wird.

Etwas zu können, hat immer mit einem Gefühl zu tun. In den Kampfkünsten setzt Können erst einmal Wissen voraus. Man möge mich nicht missverstehen. Es ist tatsächlich nicht nötig, theoretisches Wissen zu haben, wenn man nur kämpfen möchte. Im Gegenteil, Wissen kann dabei sogar stören. Im Kampf braucht man einen leeren Kopf. Um kämpfen zu können, muss man keine Kampfkunst trainieren. Darauf werde ich ausführlich im Kapitel »Über die Effektivität der Kampfkünste« zu sprechen kommen. Aber wenn man sich den Kampfkünsten voll und ganz hingibt, geht es erst einmal um Wissensvermittlung im Training, um Wissen hinsichtlich der Prinzipien, der Techniken, des Krafteinsatzes etc. Dieses Wissen muss durch Üben vollkommen in Körperbewegungen übergehen, und die erlernten Bewegungen müssen unaufhörlich wiederholt werden. Denn das körperliche Gefühl geht sehr schnell verloren. Es wird »kalt«, genau so wie das Wasser aus Funakoshis Ausspruch.

Im Profisport, zum Beispiel im Boxen, gibt es folgende Situation: Der Athlet wird ca. drei bis vier Monate vor einem Kampf anfangen zu trainieren. Kurz vor dem Wettkampf, ein paar Tage davor, stoppt er sein Training. Das hat den Grund, dass man die Kraft »verdauen« muss. Auch hierauf werde ich später noch genauer eingehen. Wenn man über einen langen Zeitraum täglich trainiert und alles erforderliche Wissen im Körper eingebettet hat, wird dieser Prozess kurz vor dem Wettkampf unterbrochen. Nach ein paar Tagen Erholungspause wird man sich am Wettkampftag völlig frisch fühlen, und ein neues Gefühl der Stärke wird sich einstellen. Man wird förmlich explodieren.

Niemand fühlt sich zu allen Zeiten gleich. Morgens beispielsweise ist man nicht so flexibel, beweglich und dynamisch wie am Nachmittag. Dafür hat man abends nicht die Balance, Stabilität und Festigkeit in den Bewegungsabläufen. Ein Boxkampf hätte, am Morgen ausgetragen, nicht den gleichen Verlauf wie abends. Hier kann man durchaus einen Vergleich zwischen Zweikampf und Krieg ziehen. Clausewitz schreibt beispielsweise: »Für die Anlage einer großen Schlacht ist es ein wesentlicher Unterschied, ob sie am Morgen oder Nachmittag anfängt.«

In den Profisportarten und der Sportwissenschaft arbeitet man heute mit genau durchdachten Trainingsplänen. Es wird festgelegt, wann man welche Übungen machen soll, wie man sich am besten auf einen Wettkampf vorbereitet, um dann genau im Moment des Wettkampfes seine beste körperliche Leistung abrufen zu können. So wird im Sport immer auf ein bestimmtes, zeitlich festgelegtes Ereignis hingearbeitet. Nach diesem Ereignis wird der Sportler beim Training erst einmal wieder »auf die Bremse treten«.

Die Welt des Sports unterscheidet sich erheblich von der des gongfu, wie es einst die Kampfkünste prägte. Das Training der Kampfkünste war niemals dafür gedacht, jemanden auf ein bestimmtes zeitlich festgelegtes Ereignis vorzubereiten. Es war dafür bestimmt, den Menschen körperlich und geistig dafür vorzubereiten, dass er sein Können jederzeit abrufen konnte. Das bedeutet gongfu. Dafür war tägliches Üben notwendig. Es wurde sogar in den Tagesablauf integriert und beschränkte sich nicht auf ein zeitlich begrenztes Intervall-Training, wie es für den Profisport gilt. Diese Art des Übens wurde das ganze Leben lang praktiziert. Gongfu ist ein Synonym für Beharrlichkeit, es ist ein ständiger und lebenslanger Wegbegleiter. Bei uns heutigen Menschen ist solch stetes Bemühen so gut wie nicht mehr existent.

Es gibt kein echtes oder falsches gongfu. Es gibt nur gongfu. Die Meister sagen: »Gongfu hui ziran dao jia« (功夫会自然到家). –»Gongfu wird ganz natürlich kommen.« Dies ist ein weiterer wichtiger Aspekt. Gongfu kann man nicht bewusst herbeiführen und zeitlich planen. Es ist kein Ereignis. Deshalb erreichen es die meisten nie. Es ist abwegig, gongfu messbar machen zu wollen, durch Graduierungen, Stufen oder Prüfungen. Sobald man den Versuch einer Festlegung wagt, hat man es nicht mehr mit dem gongfu zu tun. Je mehr man sich bemüht, desto langsamer kommt man voran. In China sagt man hierzu: »You xin cai hua hua bu fa, wu xin cha liu liu cheng yin« (有心裁花花不发, 无心插柳柳成荫). –»Blumen, die man mit viel Mühe pflanzt, erblühen nicht; ein Weidenzweig dagegen, den man gedankenlos in die Erde steckt, wächst zu einem schattigen Baum heran.« Dieses Sprichwort gibt die Bedeutung und Wirkung des gongfu ebenfalls sehr gut wieder.«


gong hui ziran dao

Die Fähigkeiten kommen bei ausdauerndem Training

von ganz allein.

Die Kultur des Wushu

Lehrer und Schüler

Wer sich mit einer Kampfkunst befasst, tut dies meist, um kämpfen zu lernen. Aus diesem Grund fing auch ich einst damit an; und ähnlich ging es allen, die ich kenne. Einige wenige, die es wirklich ernst meinen, reisen in die Ursprungsländer, wie China, Japan oder, im Falle des krav maga32, nach Israel. Leider finden die meisten auch dort oft nicht das, was sie suchen. Viele Ausländer, die beispielsweise nach China gehen, haben das Ziel, echtes chinesisches wushu und gong zu erlernen. Was sie letztlich finden, erfüllt nicht ihre Erwartungen. Wer sich etwas mit China auskennt, weiß, dass man als Ausländer so gut wie nie Zugang zu einem echten Meister bekommt. Lernwillige enden fast immer in einer der vielen Wushu-Schulen, wo man sich zwar nicht unbedingt über den neuen Gast freut, wohl aber über die Devisen, die dieser verkörpert. Einer der Direktoren der vielleicht größten Kampfkunstschule in der Nähe des Shaolin-Tempels erklärte, dass er Ausländer sehr gern als Schüler annehme, da diese achtmal mehr Einnahmen bringen als Chinesen. Ein Ausländer bezahlt eben mit amerikanischen Dollars und nicht mit chinesischen Yuan. Was soll man von einem Verhältnis halten, das nur auf Geld basiert? Hätte ich nicht das Glück gehabt, auf meinem shifu zu treffen, wäre ich wohl genau in solch einer Schule gelandet. Danach hätte ich ebenfalls den schönen alten Spruch zitieren können: »Außer Spesen nichts gewesen.«

In China ist es sehr schwer, von einem traditionellen shifu als Schüler angenommen zu werden. Viele Europäer fragen mich immer wieder, wieviel ich bezahlen muss, wie hoch der Monatsbeitrag ist, um bei einem solch guten Lehrer zu lernen. Sicher spielt Geld eine Rolle. Im alten China konnten sich nur wohlhabende Leute den Unterricht bei einem Meister leisten, denn sie mussten nicht nur ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten, sondern auch noch für den Meister sorgen. Wer nicht einmal für sich genug zu essen hatte, hätte auch das harte Training kaum durchstehen können.

Der Vater meines Lehrers (Li senior), hat dem shifu seines Sohnes, Meister Xiong, mehrmals im Monat Zigaretten, Nahrungsmittel und mindestens einmal im Monat Suppe geschenkt. Besonders in den schweren Zeiten während der Kulturrevolution bedeutete es einen unglaublichen Aufwand für eine Familie, sich auch noch einen Meister »aufzuhalsen«. Wenn ein Schüler bzw. dessen Familie diese Geschenke nicht mindestens einmal im Monat überreichte, dann beachtete Meister Xiong diesen Schüler nicht mehr. Er warf ihn nicht hinaus, verlangte auch nichts von ihm und verlor nicht ein einziges Wort darüber. Der Schüler konnte weiter zum Training kommen, aber der Meister behandelte ihn wie Luft und unterrichtete ihn nicht mehr. So war es früher in China üblich.

Viele Meister hatten keinen festen Monatsbeitrag, und sie sagten nicht, daß sie etwas von ihren Schülern erwarteten. Aber in der chinesischen Wushu-Kultur weiß jeder, dass der Unterricht niemals umsonst ist, wenn man nicht ein Familienmitglied ist oder irgendwelche anderen guten Beziehungen zu dem Lehrer hat, und selbst in diesem Fall wird man dem Meister versorgen und ihm regelmäßig Geld, Nahrung und Geschenke überreichen. Der Meister muss versorgt werden, und seine Meisterschüler haben dies auch getan. Ohne zu übertreiben kann man sagen, dass sie sich 24 Stunden am Tag um ihn kümmerten.

Heute ist dies natürlich nicht mehr der Fall, und dies ist ein Grund dafür, warum viele alte Meister ihr Wissen mit ins Grab genommen haben. Es fehlt einfach die wahre Loyalität der Schüler. Keiner wird heute mehr bereit sein, sich um einen alten starrköpfigen Meister mit all seinen Marotten zu kümmern. Hinzu kommt, dass man von so einem alten Meister nicht ein Wort des Lobes oder Dankes hören wird. Das mag wie ein verstaubtes Kungfu-Klischee klingen, aber so wurde es mir glaubhaft berichtet. Und wenn ich mir einige der heute noch lebenden Lehrer anschaue, kann ich mir das auch gut vorstellen. Geld ist also nicht alles. Es geht auch um eine Lehrer-Schüler-Beziehung, um menschliche Gefühle. Shi ist das Zeichen für Lehrer, fu das Zeichen für Vater. In China heißt es, jemand der einen Tag dein Lehrer ist, ist das ganze Leben dein Vater. Es geht darum, sich um seinen shifu zu kümmern, selbst über die Lehrzeit hinaus. Tatsächlich habe ich nach mehreren Jahren des Trainings in China eine wirklich familiäre Bindung zu meinem Meister und meinen Kampfkunst-Brüdern aufgebaut.


Foto 22: Meister Li Zhenghua pflegte beim Training immer entspannt dazusitzen und verlor mitunter während der ganzen Zeit nicht ein Wort.

Das abendliche Training fand täglich in einer Werkhalle hinter einem Restaurant statt. Nicht weil es eine Atmosphäre wie im Film sein sollte, sondern weil Meister Li diesen Platz für den geeignetsten hielt. Obwohl es wirklich eine dreckige Ecke war, wo Ratten ihren Tummelplatz hatten und nur eine Neonlampe brannte, war seine Wahl richtig. Es gab keine Zuschauer, und es war ruhig. Meister Li saß in einem Stuhl und sagte manchmal tagelang nicht ein Wort zum Training. Die Übungen waren eintönig, aber niemals langweilig.


Foto 23: Eine halbe Stunde im Handstand ist ein normaler Trainingsinhalt im traditionellen wushu.


Foto 24: Liegestütz im Handstand. – Wenn man sich beim Training nicht genug anstrengt oder die Übungen nicht schafft, kann es sein, dass ein chinesischer Meister entweder böse dreinblickt oder verächtlich lächelnd auf einen herabschaut. Anfeuerungsrufe, Motivationsreden oder Lob wie beim westlichen Sporttraining von Seiten des Trainers wird es kaum jemals geben.

Der shifu ist kein Trainer im westlichen Sinne, kein Motivator und nicht dafür zuständig, den Schüler in kürzester Zeit bestmöglich auf einen Wettkampf vorzubereiten. Er ist ein Wegweiser, der durch das Beispiel seines Lebens den Weg zeigt, welchen man schließlich selbst gehen muss. Nach chinesischem Brauch lobt ein shifu seine Schüler niemals, wie gut sie auch sein mögen. Ebenso wenig duldet er Widerspruch. Dem Schüler ist es auch nicht gestattet, Emotionen zu zeigen. Ich weiß, das klingt alles sehr nach verlebter Tradition. Mein shifu und ich haben dabei auch viele Abstriche gemacht, damit es für uns funktioniert. Mir als Europäer liegt es in der Natur, Dinge kritisch zu betrachten. Gefühle wie Unzufriedenheit und Ärger werden ausgedrückt und auch ausgelebt. Ich widerspreche und hinterfrage, wenn es mir erforderlich scheint. Anfangs prallten da buchstäblich zwei Welten aufeinander. Meister Li tat sich in der ersten Zeit sehr schwer damit, was dreimal in Gestalt denkwürdiger Wutausbrüche zum Ausdruck kam, bei denen ich mich am liebsten zu den Ratten ins Loch verkrochen hätte. Später wandelte sich die Situation erstaunlicherweise. Meister Li gewöhnte sich an mein westliches Wesen und stellte fest, dass das offene und freie Denken und das Einbringen von Kritik sehr produktiv genutzt werden kann.

 

Allerdings nahm ich durch das Leben im Reich der Mitte und den täglichen Umgang mit Chinesen immer mehr die chinesische Denkweise an und entwickelte zunehmendes Verständnis für die Vielschichtigkeit der chinesischen Kultur. So akzeptierte ich nach und nach wortlos auch Sachen, die ich als falsch empfand. Ein Beispiel: Meister Li ist ein leidenschaftlicher Majiang33-Spieler. Spielt er mit seinen Freunden, vergisst er darüber alle Abmachungen und Versprechungen. In Europa wäre ein solches Verhalten gänzlich inakzeptabel, aber in China wird sich ein Meister nicht einmal dafür rechtfertigen.

Diese Sicht der Dinge hängt mit der Lehre des Kongzi (Konfuzius)34 zusammen. Alle Lebensbereiche sind hierarchisch gegliedert und folgen bis heute den Gesetzen dieser etwa 2 500jährigen Philosophie. Schüler gehorchen ihren Lehrern aufs Wort, die Jungen respektieren die Alten, und die Alten kümmern sich um die Jungen. Im Chinesischen gibt es das Schriftzeichen xiao (孝), das soviel wie Kindespflicht bedeutet. In der chinesischen Gesellschaft sagt man: »Mit einem Menschen, der kein xiao hat, sollte man keine Freundschaft schließen, weil das Wesen dieses Menschen schlecht ist.« Es ist in vielen Teilen des Landes immer noch undenkbar, dass eine Familie die Eltern bzw. Großeltern in einem Altenheim unterbringt, wie gut dieses Heim auch sein möge. Der gesellschaftliche Druck wäre groß und würde sich vielleicht sogar in öffentlichen Beschimpfungen ausdrücken. Die Familie würde verachtet und gemieden werden, selbst wenn sie einfach zu arm wäre, um die Eltern betreuen zu können. Einen solchen Vorfall erlebte ich in meiner Wuhaner Nachbarschaft. Ein Mann schaffte es aus zeitlichen Gründen nicht mehr, sich um seine Mutter zu kümmern. Er brachte sie in einem guten Pflegeheim unter. Von Stund an hatte er unter den uralten konfuzianischen Vorstellungen von Pietät und Sohnespflicht zu leiden. Im wushu verstärkt sich das ganze noch. Ein Schüler wird von der Gesellschaft nicht danach beurteilt, wie gut er ist, sondern wie gut er seinen Lehrer behandelt und sich um ihn kümmert. Während der aus der westlichen Kultur stammende Aristoteles sagte: »Ich liebe meine Lehrer, aber noch mehr liebe ich die Wahrheit«, gilt in China eher: »Der Lehrer hat immer recht, auch wenn er nicht recht hat.«

Ich selbst habe zu der Lehre des Kongzi niemals einen Zugang gefunden. Ich halte den Daoismus für wesentlich praktischer. Zwar hat der Konfuzianismus dem Reich der Mitte eine einzigartige Position in der Weltgeschichte verliehen, doch war er letztendlich für den Sturz der Monarchie verantwortlich.35 In den Epochen, in denen sich die Kaiser dem Daoismus zuwandten (z. B. Tang-Dynastie) glänzte China durch seine Offenheit und Liberalität. Das Land erblühte dann in unglaublicher Stärke.

Mein Lehrer unterhielt sich oft mit mir über solche Dinge. Ich fand es sehr erstaunlich, dass Meister Li auch im Alter von 55 Jahren noch bereit ist dazuzulernen und Vorurteile fallenzulassen. So kamen wir beide zu der Erkenntnis, dass es ein natürliches Geben und Nehmen zwischen Lehrer und Schüler geben sollte. Der Lehrer, der den Schüler unterdrückt und ständig nur fordert, ist nicht besser als der Schüler, der nach seiner Lehrzeit seinen Lehrer nicht mehr kennen will. Gleichwohl muss der Schüler bestrebt sein, die Grenzen des Meisters zu überwinden.

Diese Problematik war früher auch im Westen bekannt. Leonardo da Vinci36 meinte einst: »Der ist ein schlechter Schüler, der seinen Meister nicht überflügelt.« Zum Thema Respekt hat Zhuangzi sich vor 2 500 Jahren auf kluge Weise geäußert:

Wenn man über Respekt nicht spricht und er nicht erwähnt wird, dann ist Respekt vorhanden. Wird jedoch von Respekt gesprochen, wird er verlangt oder sich darauf berufen, oder wird erwähnt, wie sehr man jemanden respektiert, dann heißt das, dass es auch Respektlosigkeit gibt. Wenn man nämlich den Respekt betont, dann bedeutet das, dass es etwas Besonderes ist, und besondere Dinge sind immer selten. In der Natur, im Leben und in der Wissenschaft entsteht alles aus einem relativen Zusammenhang, so dass sich der Respekt erst aus der Respektlosigkeit bildet und umgekehrt. Somit ist wahrer Respekt erst vorhanden, wenn nicht darüber gesprochen wird.

Im alten China gab es bei einigen Kampfkunststilen den Brauch des baishi (拜师), der Bitte, von einem Meister als Schüler angenommen zu werden. Dabei muss man auf die Knie sinken und den shifu um Aufnahme in die Schule bitten. Diese Tradition ist eine rituelle Demutsbezeugung, ähnlich dem kotau37. Sie ist konfuzianischen und teilweise buddhistischen Ursprungs. In anderen Kampfkunststilen, vor allem in den daoistisch beeinflussten, wird diese Geste abgelehnt. Meister Lis Lehrer glaubten nicht an das baishi. Sie verlangten es auch nicht, genauso wie es Meister Li auch nicht von mir oder von anderen seiner Schüler verlangte.