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Die Meister und die Kulturrevolution

Die Entwicklung des wushu ist besonders in der Neuzeit unglücklich gelaufen. Viele der alten Lehrer mussten während der Kulturrevolution endlose Schikanen erdulden. Meister, die nie in ihrem Leben besiegt wurden, mussten nun unter Bewachung den ganzen Tag schwere körperliche Arbeiten verrichten und wurden dabei grundlos geschlagen und gedemütigt.

Es war ein wenig wie in der Französischen Revolution (1789 - 1799), bei der man mit gutem Vorsatz den feudalabsolutistischen Staat abschaffte und grundlegende Werte und Ideen (wie die allgemeinen Menschenrechte) propagierte und trotzdem großes Unrecht beging. So, wie damals nicht jeder Adelige ein Schmarotzer war, galt das auch für viele Kampfkunstmeister, unter denen sich z. B. Ärzte und Apotheker befanden. Man kann die jahrelangen Misshandlungen aber nicht nur mit fehlgeleiteten Erneuerern erklären. Vielmehr spielten Neid, Missgunst und Hass eine große Rolle. Wenn es nur um Umerziehung gegangen wäre, hätte man die Meister im Arbeitslager nicht ununterbrochen demütigen müssen. Ich werde auf das Thema Kulturrevolution im Anhang des Buches zurückkommen (S. 337 ff.).

Oft heißt es, dass sich das alte wushu in Gegenden wo es keine Kulturrevolution gab, z. B. in Taiwan, teilweise erhalten konnte. Das ist richtig. So ist unter anderem der ältere Wushu-Bruder von Xiong Daoming (ein Lehrer von Meister Li, über den noch ausführlich Rede sein wird) als Leibwächter von Jiang Jieshi (蒋介石)20 mit nach Taiwan gegangen. Aber generell ist hier Vorsicht angebracht, denn viele der Lehrer, die sich darauf berufen, ursprüngliches wushu zu unterrichten, sind sogenannte jianghu pianzi (江湖骗子), Scharlatane des wushu.

Ausgespähte Geheimnisse

Die Kampfkünste bargen zu keiner Zeit Geheimnisse im Sinne von »übernatürlichen« Techniken. Gerade aus diesem Grund aber trainierte man die Kampftechniken oftmals im Verborgenen und gab sie nur innerhalb der Familie oder an auserwählte Schüler weiter. Dieses scheinbare Paradoxon lässt sich leicht lösen. Die Anatomie der Menschen ist überall gleich. Nur in unseren Erfahrungen und unseren Einsichten unterscheiden wir uns. Daher war es sinnvoll, eine Technik, die prinzipiell jeder lernen konnte, geheimzuhalten. Bei einer Kampfkunst ist das Moment der Überraschung überlebenswichtig. Um sich nicht überraschen zu lassen, versuchten die Meister, möglichst viel von anderen Kämpfern auszukundschaften. Das wird teilweise bis heute so gemacht. Das ist zugegebenermaßen nicht immer »die feine Art«, doch, wie gesagt, kann viel davon abhängen. Es geht in den Kampfkünsten selten so hochherzig zu, wie man es sich erzählt. Wer nicht alles für eine bessere Ausgangsposition oder auch für den Sieg zu tun bereit ist, hat in dieser Welt schlechte Karten.

Als ich einmal mit meinem Wushu-Bruder, Cheng Jianping, bei dem bekannten Shaolin-Meister Shi Deyang (释德扬) zu Besuch war, versuchten wir, ihn mit Fragen aus der Reserve zu locken. Er kannte uns nicht und wusste auch nicht, wer unser Meister war. Wir hatten es nicht auf irgendwelche Sachen abgesehen, wie Shi Deyang sie gern im Fernsehen demonstrierte. Wir wollten sein wirkliches Wissen, seine Techniken und Kampfprinzipien. – Später gesellte sich Meister Li hinzu. Shi Deyang erhob sich und bot ihm einen Platz an. Während der Unterhaltung erfuhr der Mönch, dass Cheng Jianping und ich Schüler von Meister Li waren. Meister Shi gefiel es überhaupt nicht, dass wir so ahnungslos getan hatten. Er fühlte sich zu Recht hintergangen. Von diesem Augenblick redete er mit Cheng nur noch sehr wenig und mit mir überhaupt nicht mehr. Als Ausländer durfte ich mir noch viel weniger herausnehmen als mein Wushu-Bruder.

Andere Meister hingegen, wie mein eigener shifu oder auch der Xingyi-Meister Wu (吴老师) aus Shandong, die technisch sogar ein höheres Niveau haben als Shi Deyang, sind bei weitem nicht so verschlossen wie dieser.

Wie gesagt, was wir bei Meister Shi Deyang taten, war und ist nichts Ungewöhnliches. Selbst hoch verehrte und geachtete Größen wie Meister Ai (艾师父) oder Meister Zhang Kejian (siehe S. 138 ff.) sind sich nicht zu schade für diese Art der Bereicherung ihres Repertoires. Meister Zhang wird von vielen sogar als pantu (叛徒, Verräter) bezeichnet, da er sich wirklich oft am Wissen anderer Meister bediente.

In den alten Tagen des wushu wurden die eigenen Kenntnisse wie ein Schatz gehütet. Das galt aber nicht nur für China. Auf Okinawa, Hawaii, den Kanaren oder den Philippinen trainierte man im Geheimen, da jede Ausübung einer Kampfkunst strengstens verboten war. Überall dort, wo ein Volk ein anderes zu beherrschen sucht, ist es eine Notwendigkeit, sein eigenes Wissen zu schützen und gleichzeitig Kampftechniken vom Gegner zu übernehmen. Wenn es hart auf hart kam, hatte man nur sein Wissen und sein Können, um sich zu verteidigen.

Von Meister Zeng Tianyuan ist überliefert, dass er einmal einen Kämpfer heimlich beim Training beobachtete. Er studierte dessen Technik, und als er dann beim dalei (打擂), einem Kampf ohne Regeln (siehe S. 99 ff.), auf ihn traf, konnte er ihn sehr schnell töten.

Es geht natürlich nicht immer um Leben und Tod. Oft will der »Spion« einfach nur lernen. So wurde der Diener Yang Luchan21 von seinem Arbeitgeber Chen Changxing22 als Schüler akzeptiert, nachdem sich Chen davon überzeugt hatte, dass Yang durch heimliches Beobachten schon tief in die Geheimnisse des Familienstils (chen taiji) eingedrungen war.

Ganz ähnlich klingt eine Geschichte aus dem yongchunquan (詠春拳). Chan Wahshun23, ein Geldwechsler, liebte die Kampfkünste sehr. Neben seiner Wechselstube unterrichtete Meister Leung Jan24 einige Schüler. Chan pflegte den bekannten Lehrer heimlich durch ein Loch in der Wand zu beobachten. Nach einem Vergleichskampf mit einem der Söhne des Meisters nahm Leung Jan den Geldwechsler als Schüler an. Sehr ähnlich ist auch die Geschichte von Motobu Choki25 und seinem Lehrer Matsumora26 .

Heute spielt so etwas sicher nicht mehr eine solch große Rolle, doch die alten Lehrer haben das noch kennengelernt. Meister Li lernte oft viele Monate lang nur eine einzige Technik. Dafür musste er seinen Lehrer versorgen, sich um ihn kümmern, und das rund um die Uhr. Viele der alten Meister haben das gleiche durchmachen müssen. Es ist also kein Wunder, dass sie auch heutzutage nicht dem Erstbesten Informationen über ihren Stil und ihre Technik geben.


zhi you gong fu zhen, tie bang mo cheng zhen

Nur wenn das Gongfu echt ist, schleift sich der Eisenstab zu einer Nadel.

Gongfu

Geschichten vom Gongfu

Die Essenz des wushu ist das gongfu (功夫). Das mag für westliche Ohren befremdlich klingen, hat man sich doch sehr an den Begriff gongfu bzw. kungfu als Bezeichnung für die chinesische Kampfkunst gewöhnt. Gongfu ist jedoch kein Stil und keine Kampfmethode. Es ist auch nicht der Oberbegriff für alle Kampfarten Chinas. Bis heute zeugt die Verwendung dieses Wortes von einem großen Unverständnis der chinesischen Kultur gegenüber. Ein wenig haben wir das dem »Kleinen Drachen«, Bruce Lee27, zu verdanken, der den Begriff gongfu allgemein bekannt machte. Allerdings gebrauchte er ihn in seinem tatsächlichen Sinne. Letztendlich passte er sich den pragmatischen Menschen der westlichen Welt an, für die es damals zu umständlich war, zwischen den Feinheiten der fremden Begriffe zu unterscheiden. Daher ist eine Richtigstellung heute sehr schwierig.

Allgemein wird gongfu mit harter Arbeit übersetzt. Diese Deutung ist jedoch nicht ganz vollständig. Es ist auch ein zeitlicher Begriff und bringt zum Ausdruck, dass man sich erst nach langer Zeit und durch harte Arbeit bestimmte Fähigkeiten aneignen kann und sich nur allmählich körperlich und geistig weiterentwickelt. Daher ist gongfu nicht nur die Essenz des wushu, sondern die des Lebens im allgemeinen. Ob nun Kampfkunst, Malerei oder Musik, alle Aktivitäten des Menschen erfordern gongfu, Zeit und harte Arbeit. Schon Platon verwies darauf, dass die Jugend unter anderem bei ihren Leibesübungen beharrlich bleiben und nicht ständig Neuem hinterherjagen sollte, nur weil es neu sei. Im Chinesischen sagt man beispielsweise: »Ta de gongfu hen hao« (他的功夫很好). –»Sein gongfu ist sehr gut.« Dieser Ausspruch, den es ähnlich auch in Japan gibt, bezeichnet die langjährige und mühevolle Hingabe an eine Sache. Aus diesem Grund ist es nicht möglich, gongfu in der Jugend zu erlangen. Sicher, es gibt Talent, doch Talent ist nur ein Teil des Ganzen. Zu seiner Entwicklung bedarf es Zeit.

Hier liegt auch der Unterschied zum Wettkampfsport. Eine sportliche Karriere ist sehr schnelllebig und wird oft durch die Jagd nach Erfolgen und Geld bestimmt. Viele Sportler werden dadurch zum Doping getrieben, was letztlich zur Zerstörung des eigenen Ichs führt. All dies hat nichts mit wushu und mit gongfu zu tun.

 

Eine kleine Anekdote verdeutlicht das Wesen des gongfu sehr gut. Sie hat zwar mit den Kampfkünsten nichts zu tun, doch man erkennt an ihr die Universalität des hier Gesagten.

Adolph Menzel und die Vignette

Für ein von ihm illustriertes Werk fertigte Adolph Menzel vor den Augen des Verlegers eine Vignette an. Zweiundfünfzig Taler forderte er für seine Arbeit.

»Was, zweiundfünfzig Taler, für zwanzig Minuten Arbeit? Das scheint mir denn doch etwas zuviel«, rief der Verleger aus. Doch Menzel blieb dabei.

»Mein Lieber, um diese Vignette in zwanzig Minuten zeichnen zu können, habe ich siebzig Jahre meines Lebens als Lehrzeit nötig gehabt.«

In China gibt es schier unzählige Geschichten, die sich direkt oder indirekt mit der Thematik befassen, und das schon seit Tausenden Jahren. Zwei davon habe ich für dieses Kapitel ausgewählt. Die erste Erzählung ist eine der bekanntesten und aussagekräftigsten über das gongfu. Sie stammt aus den Wudang-Bergen und verdeutlicht wie kaum eine andere mit einfachen Worten das, worum es hier geht. Es ist die Legende von Taizi (chin. Prinz, 太子), dem späteren Kaiser Zhen Wu (真武), und der Nadelschleiferin.

Der Prinz und Nadelschleiferin

Bereits in jungen Jahren war Taizi des Wohllebens überdrüssig, und er sehnte sich nach geistiger Reife. Im Alter von 14 Jahren, als er seine Unruhe nicht mehr beherrschen konnte, verließ er den Palast, um sich in die Abgeschiedenheit der Wudang-Berge zurückzuziehen. Seine Familie wollte ihn nicht gehen lassen und ließ ihn verfolgen, er aber entkam, indem er mit einem Schwerthieb hinter sich den Fels spaltete und so eine tiefe Schlucht in den Fels grub. Tief in den Bergen ließ er sich in einer Höhle nieder und meditierte einige Zeit. Doch der junge Mann kam zu keinem Ergebnis. Unzufrieden mit sich selbst beschloss er, ins weltliche Leben zurückzukehren. Auf seinem Abstieg vom Berg begegnete er einer alten Frau, die beharrlich eine grobe Eisenstange schliff. Verwundert hielt der Prinz inne und fragte: »Was tust du da?«

Sie antworte: »Ich schleife eine Nadel aus dieser Stange.«

Ungläubig wollte der junge Mann wissen: »Wie kannst du aus diesem Eisen eine Nadel schleifen?«

Darauf meinte sie: »Indem ich geduldig schleife und schleife.«

Das leuchtete dem Prinzen ein und er kehrte um. Die alte Frau aber verwandelte sich in eine purpurne Wolke und verschwand.

Die zweite Erzählung entstammt der Sammlung des Zhuangzi28. Sie ist, wie die Anekdote um Menzel, eher eine Parabel. Eine Parabel mit mehreren Bedeutungen. Sie erläutert gongfu über einen Umweg und lässt einen begreifen, weshalb es oft falsch verstanden wird.

Der alte Wagenradhersteller

Der Beamte Han Gong war in der Lesehalle und studierte, während Lun Bian außerhalb der Halle Wagenräder anfertigte. Nach einer Weile betrat Lun Bian den Raum und fragte Han Gong: »Ist der weise Mann, der die Bücher macht, noch hier?«

Han Gong antwortete ihm, dass dieser schon vor langer Zeit gestorben sei.

Daraufhin sagte Lun Bian: »Nun, dann sind doch all die Bücher, die du hier liest, nur der Abfall toter Menschen und haben keinen Wert.«

Als der Beamte das hörte, sprang er wie von einer Wespe gestochen auf und rief erregt: »Was sagst du da? Sag mir, wie du deine frechen Worte begründen willst! Wenn du weiter solchen Unsinn redest, werde ich dich hinrichten lassen.«

Lun Bian fiel sofort vor ihm auf die Knie und sagte: »Ich bin nur ein einfacher Wagenradhersteller und verstehe nicht viel. Deswegen lass mich die Wagenradherstellung als Vergleich heranziehen, um zu zeigen, dass meine Worte richtig sind. – Wenn ich ein Wagenrad herstelle und sehr schnell mit Hammer und Meißel arbeite, dann spare ich Zeit und Energie, aber das Rad wird nicht rund sein. Wenn ich jedoch sehr langsam mit meinem Werkzeug bin, dann wird das Rad zwar eine vollkommen runde Form haben, aber ich vergeude viel Zeit und Kraft. Die beste Methode, ein Wagenrad herzustellen, ist, nicht zu schnell und nicht zu langsam zu sein und das Gefühl für den richtigen Krafteinsatz zu haben. Ich bin schon 70 Jahre alt, und ich mache immer noch Wagenräder. Aber das Gefühl des richtigen Krafteinsatzes bei der Wagenradherstellung kann ich nicht an meinen Sohn weitergeben. So kann auch nicht die Weisheit und Klugheit, die ein Weiser erreicht hat, durch Bücher an uns weitergegeben werden. Ist das nicht offensichtlich? Und sind die Bücher, die du liest, denn wirklich etwas anderes als der Abfall von Toten?«

Ein Handwerker kann nur die grundlegenden Regeln vermitteln, kaum aber sein Gefühl für den richtigen Einsatz der Werkzeuge und der Kraft. Der Meister der Kampfkunst kann nur die Grundlagen und Formen lehren, aber nicht seine Fähigkeiten und Erfahrungen. Die Studierenden und Gelehrten glauben, dass das Verstehen des geschriebenen Wortes in den Büchern von größtem Wert ist. Viel wichtiger und wertvoller ist es aber, das Ungeschriebene zu verstehen. Wir nennen dies das »Lesen zwischen den Zeilen«. Leute, die Bücher lesen und sich Bücherwissen aneignen können, sind nicht zwangsläufig auch fähig, wirklich etwas zu verstehen.

Clausewitz29 schrieb, dass bei der Kunst das Können der Zweck sei. Können jedoch ist ausschließlich durch praktisches Lernen und Üben erwerbbar, ein Buch kann es nicht vermitteln. Können aber ist das, was die Kampfkunst – und gongfu – letztendlich ausmacht. Wissen hingegen kann durch ein Buch vermittelt werden. Aus diesem Grund erwähne ich in dieser Arbeit immer wieder die wissenschaftlichen Aspekte der Kampfkunst, sozusagen die Darstellung der Kampfkunst als Kampfwissenschaft. Bei der Wissenschaft geht es nur um das Wissen. Wissen und Können sind zwei Komponenten, die zusammenhängen können und sollten, aber nicht müssen.

Die zweite Bedeutung von Gongfu

Bei der Mehrschichtigkeit der chinesischen Sprache wundert es sicher niemanden, dass es noch andere, tiefgreifende Bedeutungen des Wortes gong (fu) gibt. Eine dieser Bedeutungen wird durch folgendes Sprichwort gut erläutert: »Lian wu bu lian gong, dao lao yi chang kong« (练武不练功, 到 老一场空). –»Trainiert man Kampfkunst, aber kein gong, bekommt man im Alter gesundheitliche Probleme und hat trotz des Trainings nichts erreicht.« In diesem Fall bezeichnet gong (fu) eine Trainingsmethodik, das heißt Gong-Trainingsmethoden und -Übungen.

In der zweitausendjährigen Geschichte der chinesischen Kampfkünste wurden diese Übungen nach und nach entwickelt, indem man den Körper und die Natur genau beobachtete. Diese Übungen sind keineswegs mysteriös. Alles kann wissenschaftlich begründet werden und hat nur mit einem ausdauernden Training voller Hingabe zu tun. Es sind Methoden für die Gesundheit und für den Kraftaufbau. Inzwischen sind allerdings die meisten Gong-Übungen ausgestorben. Es gibt aber immer noch sehr viele davon. Auch das im Westen sehr bekannte taiji ist als eine Art Gong-Übung zu betrachten.

Die im Westen verbreitete Devise »Brust raus, Bauch rein« gilt in Asien seit jeher genau umgekehrt. Das geht soweit, dass selbst die Mode als Spiegel verschiedenster Philosophien über die Jahrhunderte hinweg hierdurch beeinflusst war und es noch immer ist. Das typische Merkmal von eigentlich fast allen Gong-Grundübungen ist die natürlich zurückgezogene Brust, wobei der Oberkörper eine leicht gekrümmte Form einnimmt. In dieser Stellung wird das Herz in eine Lage gebracht, die sehr beruhigend auf es wirkt. Auf Chinesisch sagt man dazu baoxin (包心). Das Herz wird »eingewickelt« und dadurch in eine Position gebracht, die sich auf den ganzen Körper positiv auswirkt (yangxin, 养心). Das Herz wird genährt und gepflegt. In dieser Haltung ist der Körper locker und entspannt, jedoch nicht schlaff. Alles soll vollkommen natürlich (shenxin ziran, 身心自然) geschehen. Gerade diese Natürlichkeit ist für einen Erwachsenen schwer umzusetzen. Irgendwann zwischen Kindheit und Reife verlieren wir diesen Zustand, ohne dass wir es bemerken. Daher stellen wir uns oft sehr verkrampft an, wenn wir versuchen, eine natürliche Haltung einzunehmen.


Foto 13: Die Embryohaltung. Diese Position ist ähnlich der Haltung eines Embryos im Mutterleib. Diese Haltung wird in den chinesischen Kampfkünsten sowohl in Gong-Übungen als auch in Pausen während des harten Trainings eingenommen, damit der Körper sich ausruhen und regulieren kann.

Das zweite Merkmal bei solchen Übungen ist die Bauchatmung. Auf Chinesisch sagt man: »Qi chen dan tian« (气沉丹田). –»Die Atmung wird in den dantian niedergedrückt.« Was ist unter dem Begriff dantian (jpn. hara) zu verstehen? Der dantian liegt etwas unterhalb des Bauchnabels, wobei die genaue Lokalisierung nicht einheitlich festgelegt ist. Er ist kein tatsächlich existierendes Organ. Dantian heißt wörtlich Zinnoberfeld und bezeichnet den Unterbauch, sprich den Körpermittelpunkt des Menschen. Wie man auch aus der westlichen Sportwissenschaft weiß, geht wirklich große und wirkungsvolle Kraft vom Zentrum des Körpers aus. Egal ob man boxt, läuft, Weitwurf oder Weitsprung etc. betreibt, bei all diesen Disziplinen ist eine Kraft vom Zentrum des Körpers notwendig, um wirklich effektiv zu sein. Und bei den Spitzenathleten in diesen Disziplinen ist diese auch vorhanden, wobei einige die damit verbundene Energie eher unbewusst durch ihr Training erwarben.

Im asiatischen Raum, speziell im chinesischen wushu, spielt der dantian eine sehr große Rolle. Obwohl dieser, so wie er von den Chinesen verstanden wird, eine imaginäre Stelle im Körper ist, gibt es eine durchaus wissenschaftliche Begründung für seine tatsächliche Existenz. Wenn der Mensch noch als Embryo im Mutterleib ist, erfolgt die gesamte Versorgung (Ernährung und Atmung) über die Nabelschnur. Da der dantian unterhalb des Nabels liegt, ist das Energiezentrum des Menschen somit schon in seiner Embryonalzeit festgelegt.

Die alten chinesischen Meister der Kampfkunst und Medizin (beides gehörte ursprünglich zusammen) erforschten alles, was mit dem dantian zusammenhängt, über Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende hinweg sehr genau und entwickelten daraus eben jene Trainingsmethoden, die als Gong-Übungen bezeichnet werden. Sie dienen dem Training, der Gesunderhaltung und der Pflege des Zinnoberfeldes.

Auch im Westen ist dies eigentlich inzwischen nichts Neues mehr, und selbst Künstler nutzen die Kraft des dantian: Der italienische Opernsänger Luciano Pavarotti, eine der hervorragendsten Stimmen des 20. Jahrhunderts, entdeckte die Dantian-Atmung für sich und trainierte sie mit großem Erfolg. Als er eines Abends mit Lampenfieber vor einem großen Konzert in seinem Hotelzimmer saß, hörte er im Zimmer nebenan ein Baby pausenlos schreien. Er wunderte sich darüber, dass ein Säugling ununterbrochen mit starker Lautstärke schreien kann, was selbst für einen Mann wie ihn ein Problem wäre. Er erforschte dieses Phänomen und stieß dabei auf die Bauchatmung und damit auf den dantian. Ein Neugeborenes besitzt eben noch genau diese Fähigkeit und atmet mit dem Zinnoberfeld, welches schon im Mutterleib sein Energie- und Vitalzentrum war. Natürlich könnte man nun fragen, was das Beispiel Pavarottis mit Kampfkunst zu tun hat. – Tatsächlich alles, denn für die Kampfkunst gilt das gleiche Prinzip: Mit zunehmendem Alter verlieren wir meist die tiefe Bauchatmung sowie viele andere ursprüngliche Eigenschaften. Mit dem Training der Gong-Übungen will man genau diese Eigenschaften fördern und entwickeln.

Die sogenannten inneren Stile, das qigong (气功), das luohogong (罗汉 功) und das yanchigong (砚弛功), sind verschiedene Arten von Trainingsmethoden. All diese Übungen haben nichts Mystisches an sich. Es handelt sich einfach um hartes, ausdauerndes und wohldurchdachtes Training. Gong-Übungen haben auch das Merkmal des isometrischen Kraftaufbautrainings, wie es heute überall auf der Welt viele Profisportler mit sehr guten Ergebnissen nutzen.30

 

Im chinesischen wushu wird diese Art des Trainings bereits sehr lange erforscht und angewandt. Doch auch hier geht man inzwischen oft den leichteren Weg und wählt die größere Bequemlichkeit. So ist zwar die weiter hinten im Buch vorgestellte Trainingsmethode des zhanzhuang (站壮) in China noch gut bekannt, wird aber heute kaum noch von jemandem praktiziert, da diese Art Übung als »zu anstrengend« gilt. Was man heute in chinesischen Parks und teilweise auch in Europa sieht, ist eine sehr abgeschwächte Form dieser Übungen und nicht mit dem Original zu vergleichen. Ursprünglich musste man hierfür stundenlang in tiefen Stellungen verharren, eine Tortur, die allerdings für den korrekten Kraftaufbau im kampforientierten wushu nötig ist. Aufgrund dieser Gong-Praxis konnte ein Meister die Fähigkeiten seines Gegenübers bereits an dessen Stand und dessen Gang ablesen. Auf diese Weise war es für einen Scharlatan schwer, sich als Meister auszugeben.

Ähnlich verhält es sich bei einer anderen Übung, welche besonders wichtig ist im wushu, dem Dauer-Handstand. Auch hier bestätigt die westliche Sportwissenschaft, dass der Trainingseffekt um so besser ist, je länger die Muskelspannung währt. Im Chinesischen wird dies changjin (长劲) genannt – das Anwachsen und Entwickeln der Kraft. Allerdings muss man anmerken, dass man im wushu (und dies gilt wohl auch für alle anderen Kampfkünste) unter Entwicklung der Kraft nicht den Zuwachs an Muskelmasse versteht, sondern die Zunahme an Flexibilität und Funktionalität des Körpers. Das heißt, 70 Kilogramm Körpermasse, die schnell und flexibel eingesetzt werden können, sind besser als 100 Kilogramm Steifheit. An den westlichen Boxern sieht man das sehr gut. Mike Tyson hat sicherlich eine enorme Muskelmasse, die er aber durch entsprechendes Training flexibel im richtigen Moment zum Einsatz bringen kann, und das ist das Entscheidende. So ist es in erster Linie nicht wichtig, wie groß die Kraft ist, sondern wie man sie anwendet und auf den Punkt bringt.

Hier in Deutschland staunte ich nicht schlecht, als ich Zeuge von Kursen und Workshops über chinesisches gong wurde und die dort vorgestellten Übungen tatsächlich nichts anderes waren als die morgendlichen Parkübungen von alten chinesischen Damen. Ich will das jedoch nur bedingt kritisieren, denn oft steckt einfach Unwissenheit dahinter. Echtes gong sieht man auch in China eher selten. Ob es jedoch von betrügerischer Absicht oder einfach von ausgeprägtem Geschäftssinn zeugt, wenn solch fragwürdiges gong zu völlig überzogenen Preisen angeboten wird, sei dem Urteil des Lesers überlassen. Natürlich hat das gemütliche Training, das so viele Menschen täglich in den chinesischen Parks betreiben, nichts mit Gong-Training und wushu zu tun. Es ist wenig mehr als ein Zeitvertreib in China und wird sehr selten von echten Könnern angeleitet. Echtes wushu und gongfu, das möchte ich abschließend nochmals betonen, ist sehr anstrengend und mühsam, und leider sterben die alten Techniken auch in China aus und werden so gut wie nicht mehr praktiziert.