Charlotte und das Reitinternat - Der Gedanke spukt noch immer

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Charlotte und das Reitinternat

Der Gedanke spukt noch immer

Für David in der Zukunft

Über die Autorin

Feli Fritsch wurde im Sommer 1997 in Darmstadt geboren. Sie wuchs in der Nähe von Frankfurt/Main auf, bis sie 2016 nach dem Abitur nach Mainz zog, um dort Buch- und Erziehungswissenschaft zu studieren. Schon als Kind begann Feli, Ideen festzuhalten und kleine Geschichten zu schreiben, die mit den Jahren immer länger wurden. Es entstanden Stück für Stück erste Romane.

Thematisch befassen sich die meisten ihrer Bücher mit Pferden, denn sie hat ihre Liebe zum Reiten bereits vor der Grundschule entdeckt. Aber auch das Segeln und eine eigene Segeljolle begleiten und inspirieren Feli seit 2013 zu neuen Büchern.

2017 veröffentlichte sie den ersten Band der Jugendbuchreihe „Anja und das Reitinternat“, deren Bücher von Charlottes Mutter erzählt werden. Dieser erste Band rund um Anjas Tochter Charlotte führt auch ihre Geschichte weiter.

Weitere Infos unter www.feli-fritsch.de.tl

Prolog

Charlotte Brückner rannte in den Stall. Sie wollte auf keinen Fall zu spät zu ihrer ersten Reitstunde in diesem Schuljahr kommen. Das würde sicher keinen guten Eindruck machen. Völlig außer Atem kam die 15-Jährige vor der Box ihrer braunen Trakehnerstute Alaska an. Das Pferd streckte seinen Kopf über die Boxentür und schaute seine Besitzerin neugierig an. Die mittelbreite, unterbrochene Blesse auf dem braunen Fell mit der pechschwarzen Mähne und dem Schweif leuchtete ihr im Licht, das durch die Türen und Fenster in den Stall schien, entgegen.

„Hey, Alaska. Sorry, ich bin schon wieder zu spät!“ Auch wenn ihre Mutter hier Lehrerin war, durfte sie sich das auf keinen Fall erlauben – und schon gar nicht am Anfang des Schuljahres. Es hatte sowieso eine Ewigkeit gedauert, eine Erlaubnis von der Behörde zu kriegen. Der ausschlaggebende Grund für die Genehmigung, dass ihre Mutter Anja ihre eigene Tochter Charlotte unterrichten durfte, war, dass die Abschlussprüfung noch von zwei weiteren Reitlehrern bewertet wurde. So konnte ein guter Ausgleich stattfinden und die Ungerechtigkeit eingeschränkt werden.

„Jetzt aber schnell“, Anja huschte plötzlich in den Stall und scheuchte ihre Tochter schnell weiter. „Du musst echt schneller werden, Charlotte. Du kannst nicht immer trödeln und zu spät kommen. Ich komme etwas später in die Halle, aber beeile dich jetzt bitte trotzdem, okay, mein Schatz?“ Sie küsste sie auf die Stirn und Charlotte verzog peinlich berührt den Mund. Sie liebte ihre Mutter, aber sie musste sich nur mal vorstellen, was passierte, wenn nun plötzlich jemand in den Stall kam. Unvorstellbar!

„Ist okay, Mom“, Charlotte verschwand schnell in der Box ihres Pferdes und verbarg damit die aufsteigende Röte. Schnell fudelte sie über das glänzende Fell ihrer Stute und machte sie fertig für die erste Dressurstunde. Sie war aufgeregt und freute sich, auch wenn ihre Leidenschaft ganz das Springreiten war – das hatte sie von ihrer Mutter geerbt, die ein absolut springbegabtes und springfanatisches Pony gehabt hatte, bis sie in der Oberstufe ein Großpferd bekommen hatte. Charlottes Paps Phil war ein grandioser Dressurreiter und hatte es bereits zu den Deutschen Jugendmeisterschaften geschafft, als er noch auf dem Internat gewesen war.

Zehn Minuten später erreichte Charlotte die Reithalle. Ihre beste Freundin Emilia, mit der sie schon in der Grundschule zusammen in einer Klasse gewesen war, ritt sich mit ihrer Melodie in der Bahn warm. Charlotte winkte ihr und im nächsten Moment trat ihre Mutter durch die kleine Hallentür hinein. Keine Sekunde zu spät schloss Charlotte die große Eingangstür für die Pferde.

„Lasst euch von mir nicht stören“, meinte Anja mit einem kurzen unauffälligen Blick zu ihrer Tochter. „Reitet erst mal eure Pferde warm!“ Damit begann sie, die übrigen Äppel aus der letzten Hallennutzung zu entsorgen. Charlotte schwang sich in den Sattel und ritt hinüber zu Emilia.

„Ich kann es nicht fassen. Du bist schon wieder zu spät. Dabei ist heute erst der zweite Schultag und du wohnst direkt neben dem Stall!“ Emilia grinste Charlotte frech an und ließ Melodie die Zügel länger.

„Ich weiß selbst, dass ich schon wieder zu spät bin, das musst du mir nicht auch noch unter die Nase reiben“, Charlotte hielt Alaska davon ab, Melodie in die Mähne zu zwicken und konzentrierte sich voll auf das Treiben in der großen Reithalle.

Die Klassen auf dem Reitinternat waren klein, sie waren nur neun Schüler, damit die Reithallen nicht zu überfüllt wurden, sondern noch guter Unterricht stattfinden konnte. Ab nächstem Schuljahr würden sie in einzelnen Reitkursen sein, ab dann wurde das Leben in der Schule eh ernster – Oberstufe.

„Also“, Anja trat nun in die Mitte der Bahn und verschaffte sich einen Überblick. Dann deutete sie auf einen neuen Schüler, den Charlotte auch am Tag zuvor noch nicht gesehen hatte. „Wir haben seit heute einen neuen Mitschüler“, verkündete sie. „Das ist David Hübner und er hat sein eigenes Pferd mitgebracht. David, möchtest du dich nicht kurz vorstellen?“

Der Junge nickte. „Hey, ich bin David, sechzehn Jahre alt und mein Pferd ist ein Azteke vom Gestüt Texoco aus Mexiko. Ihr Name ist Lupita. Das ist ein mexikanischer Mädchenname“, erklärte David stolz und klopfte seiner Schönen den Hals.

Charlotte hatte schon mal von der modernen Pferderasse gehört, die 1972 in Mexiko entstanden war. David stand die hübsche, tiefdunkelbraune Stute mit der über den Augen weitausgreifenden Blesse total gut. Charlotte mochte das Pferd und seinen Reiter auf Anhieb.

„Gut“, Anja lächelte David kurz zu. Dann wandte sie sich wieder an alle: „Auf dem Lehrplan für die neunte Klasse steht im Fach Reiten die Leistungsklasse M in allen drei Sparten der Reiterei. Heute steht eine normale Dressurstunde auf dem Plan, aber ich habe mir überlegt, dass ihr bestimmt gerne etwas Gymnastiksprünge reiten wollt.“

Das Gejubel der Klasse bestätigte Anjas Vermutung und sie ließ die Schüler traben, während sie ein paar kleine Gymnastiksprünge aufbaute. Charlotte warf einen neugierigen Blick auf den neuen Reiter, der mit seinem Pferd relativ gut klarkam.

„Charlotte, antraben“, kommentierte Anja ihre geistige Abwesenheit und Charlotte riss sich zusammen. Sie konnte es sich wirklich nicht leisten, schon in der ersten Stunde unangenehm aufzufallen. Das würde sich dann nur durchs Schuljahr schleppen!

„Wir werden jetzt ein bisschen die Pferde gymnastizieren und dann gibt es noch ein paar organisatorische Dinge“, sagte Anja, während sie die letzte Stange in die Halterung legte. Ihr Satz brachte die Schüler zum Aufstöhnen.

Als Erstes wurde Emilia über die Reihe gerufen, dahinter direkt David. Charlotte sah neugierig zu, wie er seine Stute gerade an die kleinen Hindernisse heranritt und sie dann einfach machen ließ. Die Ohren des Pferdes waren nach vorne gestellt und David erhob sein Gesäß jedes Mal, wenn sie sprang, aus dem Sattel, um es direkt danach wieder abzusetzen.

„Sehr schön“, lobte Anja. „Das sieht wirklich gut aus!“ Sie verschaffte sich noch kurz einen Überblick über Davids Können, dann entließ sie ihn.

Charlottes Neugier wurde bestraft, denn sie war direkt die Nächste und spürte die neugierigen Blicke auf sich ruhen. Doch sie gab sich Mühe, Alaska so gut wie möglich durch die Reihe zu bekommen. Und es klappte. Mit klopfendem Herzen und sicher einem hochroten Kopf brachte sie ihr Pferd danach an den Zügel und parierte zurück in den Trab und dann in den Schritt.

„Was ist denn mit dir los? Du hyperventilierst ja gleich“, bemerkte Emilia belustigt und klopfte ihrer Freundin auf die Schulter, als sie Charlottes rasenden Puls und den Schweiß auf ihrer Stirn bemerkte. Sie wusste, dass das nicht von der Anstrengung kam.

„Hier drinnen ist es nur ein bisschen warm“, entgegnete Charlotte gespielt lässig.

„Charly, du kannst mich nicht veräppeln. Dir ist warm von David!“

Ertappt! Mist!

„So ein Quatsch. Interpretier da ja nichts rein“, lenkte Charlotte vom Thema ab und trabte Alaska an.

„Hey, David“, rief da Zoey durch die Bahn und machte eine riesige Szene daraus, ihren dicken Veto in Gang zu kriegen. David drehte sich um und begann auch noch zu strahlen, als er die aufgeblasene Kuh sah.

Zoey war die Oberzicke Nummer 1. An der ganzen Schule gab es niemand Schlimmeren als sie. Ihre Eltern hatten ihr zum neuen Schuljahr ein eigenes Pferd gekauft, mit dem sie sich jetzt für die Tollste hielt. Sie warf ihre lange Mähne zurück, als sie ihr Pferd gerade so neben Lupita lenken konnte. Die Pferde legten die Ohren an, was Charlotte grinsen ließ.

„Kommst du auch aus Mexiko?“, fragte sie David und Charlotte hätte fast losgeprustet. Als ob!

„Nein, nur mein Pferd“, entgegnete David. Noch schien er sie auf Abstand zu halten. Kein Wunder, bei den Tonnen Make-Up, die sie im Gesicht herumtrug. Da ihre Methode nicht ganz nach Plan verlief, rückte sie den V-Ausschnitt ihres T-Shirts zurecht – natürlich in Richtung Bauchnabel – und drückte den Rücken durch.

„Und du? Wo kommst du her?“, fragte sie dann weiter und Charlotte verdrehte genervt die Augen. Warum konnte Zoey kein neues männliches Wesen einfach in Ruhe lassen?

„Aus Lübeck“, erwiderte er dann und Zoey runzelte die Stirn.

„Das ist in Schleswig-Holstein“, rief Emilia herüber und Zoey streckte ihr kindisch die Zunge heraus.

„Wär ich auch so drauf gekommen“, erwiderte Zoey angepisst. Es schien ihr nicht zu passen, vor David derart bloßgestellt zu werden.

 

„Glaub ich kaum“, lachte Charlotte leise und versuchte, die beiden im Blick zu behalten. Gerade, als sie nahe genug an ihnen vorbeiritt, um an interessante Informationen zu kommen, rief Anja Zoey auf. Die setzte ihr Pferd widerwillig in Gang und hatte erst mal ihre Schwierigkeiten, Veto anzutraben und danach in den Galopp zu kriegen.

„Hallo? Wie blöd muss man sein? Wie hat die das letzte Schuljahr gepackt?“, fragte Emilia aufgebracht. „Die kann doch gar nichts!“

„Frag mich nicht. Ich habe die Bewertung nicht gemacht!“, flüsterte Charlotte nur und sah stattdessen Zoey zu. Inzwischen war Veto vorm Hindernis einfach wieder in den Trab durchpariert und Zoey war nicht reaktionsschnell genug gewesen, um ihn wieder anzugaloppieren. Also musste sie es erneut versuchen. Schnippisch warf sie das Haar zurück und fasste die Zügel kürzer. Dann galoppierte sie Veto erneut an und bei jedem Galoppsprung schienen ihre Atom-Titten ein Stück weiter heraus zu plumpsen. Charlotte hoffte innerlich nur, dass sie einen guten Sport-BH unter ihrem engen T-Shirt trug. Sonst würde es ein großes Unglück geben. Über den Sprüngen wackelten sie nämlich ebenfalls gefährlich.

Charlotte musste ein Kichern unterdrücken, als Zoey völlig erschöpft und fertig wieder neben David Platz fand und erst mal alles wieder an Ort und Stelle verstauen musste.

„So, nun zu den organisatorischen Dingen. Stellt euch mal bitte hier in eine Reihe auf“, bat Anja und lief zur Bande, um ihre Unterlagen zu holen.

Die Reiter lenkten ihre Pferde in eine Linie und warteten darauf, was als nächstes passieren würde. Charlottes Herz raste auf einmal.

„Wie ihr sicherlich schon von anderen Schülern gehört habt, steht in der neunten Klasse eine große schriftliche und praktische Prüfung an, die ihr gemeinsam mit eurem Partner ablegen werdet. Ihr verfasst gemeinsam einen schriftlichen Teil zu einem Thema und haltet dazu eine kurze Präsentation vor der Klasse – das ist euer erster Arbeitsersatz. Im zweiten Halbjahr werdet ihr den Informationstag für die Grundschüler mit uns vorbereiten. Gemeinsam mit der großen Jahresabschlussprüfung bildet sich daraus dann die Endnote“, sie blätterte um. „Bevor hier jetzt das totale Chaos ausbricht: Ihr teilt euch nicht selbst ein. Das haben wir Reitlehrer bereits gemacht.“

Ein Stöhnen ging durch die Reihe und das Gemurmel begann. Charlotte seufzte und stieß die Luft aus ihren Lungen heraus. Sie hatte keinen Plan, mit wem sie zusammenarbeiten würde. Zumal die Einteilung zum Großteil auf gemischte Pärchen ausgelegt war. Sie würde also mit einer hohen Wahrscheinlichkeit nicht Emilias Partnerin sein.

„Unser erstes Team besteht aus Annika und Samuel“, begann Anja und suchte die beiden in der Gruppe. Annika war eine von Charlottes besten Freundinnen. Charlotte schätzte Samuel als anständigen Jungen ein, mit dem Annika bestimmt gut zusammen arbeiten konnte. „Team zwei: Emilia und Elias“, ging es weiter. Emilia sog still die Luft ein und Charlotte warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Schon seit einem halben Jahr war Emilia unsterblich in Elias verliebt, den Anführer der Jungenclique in ihrer Klasse.

Elias zwinkerte Emilia zu und diese wurde sofort knallrot, während die anderen Jungs Elias für seine Partnerin gratulierten. Charlotte sah ihnen kurz zu, dann verschaffte sie sich wieder einen Überblick über die sich bildenden Teams.

Inzwischen waren nur noch Charlotte, Zoey, David und Jonathan übrig. Jonathan wurde aus irgendwelchen nicht erfindlichen Gründen von allen für einen totalen Nerd gehalten, weil er immer fleißig war, gute Noten schrieb und sich liebevoll um sein eigenes Pferd kümmerte. Charlotte mochte ihn eigentlich, aber dennoch konnte sie sich nun überlegen, ob sie lieber mit David oder Jonathan arbeiten würde – und ob sie Zoey so einfach das Feld in Sachen David überließ. Ihre Entscheidung war längst gefallen.

„Und dann haben wir noch Zoey, du arbeitest mit Jonathan zusammen, und Charlotte, du mit David“, Anja schlug die Unterlagen zu und schaute sich in der Gruppe um.

„Was?“, entschlüpfte es da Zoey. „Ich soll mit dem da arbeiten?“, beschwerte sie sich und zeigte auf Jonathan, der sie mit gerunzelter Stirn ansah.

„Jetzt stell dich nicht so an“, wandte sich Charlotte alarmiert an Zoey, weil sie ihre Ungerechtigkeit überhaupt nicht ausstehen konnte. „Ich weiß gar nicht, was du hast. Ich habe damals mit Jojo eine total gute Arbeit einreichen können, als wir Partnerarbeiten hatten. Aber deine Sozialkompetenzen sind da, glaub ich, nicht so ausgeweitet!“

Anja setzte zu einer Ermahnung an, doch Zoey kam ihr zuvor: „Wenn du so gerne mit Jojo arbeiten willst, wir können ja gerne tauschen!“, schlug sie ihr vor. Sie warf dabei einen grinsenden Blick zu David und zwinkerte ihm zu. Charlotte begann, zu kochen.

„So geht das hier nicht“, mischte sich Anja ein. „Hier wird nicht einfach getauscht. Jeder bleibt in seiner Gruppe. David, Charlotte soll dir nach dem Unterricht das Internat zeigen!“ Mit diesen Worten entließ Anja die Gruppe in die Pause.

Du bist mutig – Ich nicht!

Ich stand abwartend vor der Box von Alaska. Nach dem Reiten hatten wir noch eine Stunde Englisch gehabt und jetzt war ich mit David verabredet, um ihm das Internat zu zeigen. Den Innenbereich würden wir ohne Pferd zurücklegen, aber danach ging es draußen zu Pferd weiter, weil das Gelände des Internats einfach zu groß war, um alles mit den eigenen Füßen abzugehen.

Ich freute mich total, Zeit mit ihm alleine zu haben. Zoey nervte einfach ständig und ich würde ihn sehr gerne in Ruhe kennenlernen, bevor wir doch recht schnell mit der Partnerarbeit anfangen müssten.

„Warum kommt er denn nicht?“, fragte ich Alaska in einem Anflug von Nervosität und strich ihr über die Nüstern, bevor sie sich wieder ihrem Heu widmete.

„Sorry, hat ‘n bisschen länger gedauert“, nur eine Sekunde später stand David in der Stalltür und trat langsam näher. „Ist das hier der Privatstall?“, wollte er wissen und sah sich neugierig um. Die Stallgassen waren groß und luftig. Eigentlich sahen die anderen Ställe genauso aus, aber der Privatstall war einfach ein bisschen großzügiger geschnitten und der Zutritt war den normalen Internatsschülern verboten.

„Jip. Hier stehen alle Privatpferde von uns“, ich machte eine ausholende Bewegung und David begann zu grinsen.

„Krass groß“, flutschte es ihm über die Lippen. Ich beobachtete ihn dabei, wie er sich noch ein letztes Mal die Bilder einprägte.

„Lass uns erst die Gebäude angucken und dann draußen mit den Pferden den Rest besichtigen“, schlug ich vor und wir gingen los Richtung Haus.

Draußen war es stechend heiß. Der Sommer war noch richtig im Gange und die Vorstellung, bei dieser Hitze im Klassenzimmer zu sitzen und zu lernen, ließ mich innerlich aufstöhnen. Die Sonne wurde in den Fenstern reflektiert und blendete mich, der Asphalt auf der Straße vor dem Internat sah aus, als sei er nass, die Hitze hing schimmernd in der Luft. Am Himmel bildeten sich zudem auch noch Gewitterwolken. Da würde heute Abend sicher etwas runterkommen.

„Das hier ist das Privathaus meiner Eltern. Da haben die Internatsschüler logischerweise nichts zu suchen“, erklärte ich ihm und er sah mich schelmisch an.

„Und deine Freunde? Dürfen die auch nicht rein?“, er konnte sein fettes Grinsen einfach nicht unterdrücken.

„Wenn ich sie mitnehme, dann schon“, ich zuckte die Schultern und ging mit ihm los zum Haupteingang des Internats. „Hier sind – wie unschwer zu erkennen ist – die Schlafräume aller Internatsschüler. Mit wem bist du in einem Zimmer?“, fragte ich nach und blieb vor dem großen Gebäude direkt neben dem Privathaus stehen.

„Mit Elias und Samuel“, meinte er und sah sich um. „Ziemlich groß doch. Aber von innen ist es schön“, fand David. „Nicht so monoton und einfarbig.“

„Ja, das stimmt“, gab ich zu. Unten im Erdgeschoss waren der Speisesaal, die Küche und ein paar Aufenthaltsräume. Im Keller hatten wir Räume, die noch für Unterricht verwendet werden konnten, aber Mama und Papa lagerten dort zum Großteil Pferdesachen. Und oben im ersten und zweiten Stock befanden sich die Schlafzimmer und Baderäume.

„Und hier sind die Klassenräume?“, David zeigte ein Gebäude weiter, das sich ans Schlafhaus anschloss und weiter Richtung Straße ausweitete.

„Genau. Hier sind eigentlich fast alle Räume. Unterstufe, Mittelstufe, das Lehrerzimmer, Sekretariat und alle anderen organisatorischen Dinge. Die naturwissenschaftlichen Räume und ein kleines Kiosk sowie die Mensa sind in dem großen Gebäude hinter dem Haupthaus. Und hier…“, ich wandte mich Richtung Straße, „… ist das Oberstufengebäude. Da drinnen haben wir erst ab nächstem Jahr etwas verloren. Aber ein Gerücht hält sich hartnäckig: Am saubersten sind die Toiletten gerade in diesem Gebäude“, ich unterdrückte ein Lachen und David grinste.

„Klingt ja interessant“, er zwinkerte mir zu, dann liefen wir wieder in den Stall.

„Wir nehmen die Pferde mit, dann geht’s schneller. Ich zeig dir auch das Gelände um das Internat herum, wenn du willst“, schlug ich ihm vor und er nickte.

Im Stall machten wir die Pferde fertig. David war im Einstellerstall, da er ein eigenes Pferd hatte. Meine Alaska hingegen stand im Privatstall. Also hatte ich ein paar Minuten für mich alleine, um all die Eindrücke zu verarbeiten. David war nett, sympathisch und echt voll süß. Seine Augen leuchteten immer so, wenn sich die Sonne darin spiegelte, und er sah stark und beschützend aus. In seiner Nähe fühlte ich mich wohl und hatte mal abgesehen von einer leichten Nervosität keine Angst. Und sein Geruch – der war echt der Hammer. Ein paar Mal war mit einem Lufthauch ein bisschen was zu mir rüber gezogen und ich hatte es aufgenommen, als sei ich heimlich drogenabhängig davon. Vielleicht war das ja sogar so?

„Bist du soweit?“ David tauchte mit Lupita am Zügel im Privatstall auf und ich erschrak total.

Schnell sammelte ich mich wieder. „Klar“, ich schnappte mir meinen Helm vom Boden und zog ihn auf. Dann führte ich Alaska aus der Box zu ihm nach draußen. Dort stiegen wir auf.

„Ist sie eigentlich dein eigenes Pferd?“, fragte David neugierig, als wir den Weg Richtung Koppeln einschlugen.

Ich nickte. „Meine Mom wollte nicht, dass ich ein Pony bekomme. Sie hatte damals bis zur Oberstufe ein Pony – Boreo hieß er. Der war total talentiert, doch ihr war klar, dass sie ihn nicht mehr lange reiten dürfte. Boreo war nur bis M ausgebildet und mit sechzehn war meine Mom dann eh zu alt für ein Pony. Sie hat dann zur Oberstufe hin Domino bekommen und ist mit ihm ihre Abiturprüfung geritten. Und als es dann daran ging, dass ich ein Pferd brauchte, haben sie Alaska für mich ausgebildet. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem sie geboren wurde. Ich war gerade vier Jahre alt“, mein Herz ging auf, als ich ihm die Geschichte erzählte. „Meine Eltern hatten auf einem Trakehnergestüt eine Stute von ihrem Hengst decken lassen und Alaska bereits als ungeborenes Fohlen gekauft, sodass ich bei der Geburt dabei sein durfte.“

„Sie ist ein sehr schönes Pferd. Deine Stute gefällt mir“, David lächelte mich an und mein Herz raste bei seinen Worten sofort los.

„Danke“, antwortete ich schüchtern. „Und deine? Woher hast du sie?“

„Meine Mutter ist totaler Fan der Pferderasse und eine ehemalige Schulfreundin von ihr hat einen Mexikaner geheiratet. Die beiden führen ein Gestüt für die Rasse und als dann klar wurde, dass ich weiter reiten werde, außer so ’n bisschen Rumgehoppel, haben meine Eltern mir Lupita gekauft. Das ist jetzt schon fünf Jahre her. Und ich bereue es keinen einzigen Tag“, er klopfte lächelnd Lupitas Hals.

„Ich auch nicht. Hat sie eigentlich einen Spitznamen? Ich meine, weil Lupita ja ein recht lang zu sprechender Name ist.“ Wir erreichten die Pferdekoppeln und ich ließ Alaska grasen, als wir stehenblieben.

„Wenn ich sie nicht Lupita nenne, ruf ich Lupi. Sie hört eigentlich auf fast alles.“

„Ich habe keinen Spitznamen für Alaska“, gab ich zu und ließ die Zügel ein bisschen nach. „Hier sind alle Pferdekoppeln. Und dahinten kann man auch das Naturwissenschaftsgebäude sehen. Wenn man hier den Weg nimmt, kommt man in den Wald. Wollen wir dahin?“, fragte ich ihn und er nickte.

Wir ließen die Pferde noch eine ganze Weile grasen, dann machten wir uns auf den Weg Richtung Wald. Auf dem Feldweg davor ließen wir sie traben und ich genoss den kühlen Windhauch, der eine gute Abwechslung zur heißen Sommerluft war. Als wir den Waldrand erreichten, schlug uns die Kälte beinahe entgegen.

 

„Ziemlich kühl auf einmal“, bemerkte David und ich nickte. Ich ließ Alaska die Zügel länger und genoss jede Sekunde mit meinem Pferd und David, in der Zoey nicht dabei war.

„Schau mal hier“, riss mich David plötzlich aus meinen Gedanken. „Der Weg da. Bist du da schon mal langgeritten?“, fragte er mich. Der Weg, den er meinte, war eingewachsen und machte nach ungefähr hundert Metern eine Rechtskurve. Auf dem Boden waren Reifenspuren. Von Autos, vielleicht waren es auch welche von Traktoren.

Ich erinnerte mich daran, dass mich David etwas gefragt hatte, und schüttelte den Kopf. „Die Richtung des Waldes kenne ich fast gar nicht. Ich bin eher auf der anderen Straßenseite unterwegs“, erklärte ich ihm.

„Komm, lass uns gucken, was da ist. Das ist doch voll spannend“, er grinste vor Aufregung. David war eindeutig ein Typ des Nervenkitzels.

„Ein anderes Mal, okay?“, meinte ich. Ich hatte herzlich wenig Lust auf ein neues Abenteuer. Auch wenn es mit David war und das meinen Adrenalinspiegel gleich in die Höhe schießen ließ.

„Na gut. Aber sag mir Bescheid, bevor du den Weg alleine erkundest, ja? Ich will unbedingt dabei sein!“

„Ist gut! Versprochen!“

Wir ritten weiter und kamen schließlich am Stadtrand an. Nun waren wir der Sonne wieder schutzlos ausgeliefert und ich freute mich schon, auf der anderen Seite wieder in den Wald zu kommen.

„Hier ist unser kleines Dörfchen. Alleine dürfen wir hier nur hin, wenn wir uns abgemeldet haben, mit den Pferden immer nur zu zweit oder mehr. Wollen wir uns vielleicht ein Eis holen?“

David nickte und wir ritten los zu unserer Eisdiele, die im Dorf jeder kannte und bei den Reitschülern unseres Internats sehr beliebt war. Sie machte wirklich das beste Eis ever.

Nachdem wir uns ein kaltes Eis gegönnt hatten, ritten wir weiter über die Straße, die die beiden Seiten um das Internat herum voneinander trennte. Dort ritten wir in den Wald hinein. Nur fünfzehn Minuten später kamen wir am Waldsee an, zu dem schon meine Mutter mit ihren Freunden oder auch alleine mit Boreo gerne geritten war. Heute war es vergleichsweise voll. Normalerweise tummelten sich die Leute am Wochenende oder erst spät abends hier herum. Dann, wenn halt die Zeit zum ungestörten Knutschen und weiteren Ausführungen am besten war. Vom Internat mischten nur die Oberstufenschüler ordentlich mit.

„Das ist unser berühmter Waldsee. Sehr beliebt an schulfreien Tagen oder Wochenenden. Ich bin oft hier, wenn ich ausreite“, erzählte ich David und er sah sich neugierig um.

„Ihr habt ein sehr schönes Gelände um euer Internat“, sagte er und wir bogen ab in den Weg, der zur Galoppstrecke führte. Alaska kannte ihn und zog schon mächtig an den Zügeln. „Galoppweg?“, fragte David zwinkernd und ich wusste genau, was er vorhatte.

Ich nickte, dann ließen wir beide gleichzeitig den Pferden die Zügel locker und sie preschten los. Ich jubelte laut, als mir der warme Wind ins Gesicht klatschte und ließ die Zügel einfach auf Alaskas braunen Hals fallen. Ihre schwarze Mähne wippte ihm Fahrtwind des Galopps und ich streckte die Arme zur Seite. Alaska gab mächtig Gas und ihre Beine schienen dabei fast durchzudrehen.

„Charlotte!“, schrie David, er war nur ein paar Zentimeter hinter mir. „Da hinten ist ein umgestürzter Baumstamm, wir müssen durchparieren!“

Pah! Dem zeig ich’s! „So ’n Quatsch. Den nehm‘ ich so!“, rief ich zurück und fasste Alaskas Zügel kürzer. Mein Pferd war sofort da und als es den Baumstamm sah, zog sie von sich aus hin. Ich machte sie aufmerksam, begrenzte nach außen und gab Druck übers Kreuz. Im nächsten Moment fand Alaska den Absprungpunkt und stemmte sich in die Luft. Ich ging mit dem Oberkörper nach vorne und gab ihr die nötige Freiheit im Maul, indem ich mit den Händen ebenfalls nach vorne ging und sie rechts und links vom Mähnenkamm abstützte. Im selben Augenblick waren wir auf der anderen Seite des Baumstammes angekommen und ich ließ Alaska ausgaloppieren, bevor wir durchparierten und ich zusah, wie David im Schritt um den Baum herumritt.

„Du Feigling“, rief ich ihm entgegen.

„Du bist mutig“, sagte er. „Ich nicht!“

Mit diesen Worten hatte ich nicht gerechnet und noch weniger damit, dass sie mir nicht mehr aus dem Kopf gehen würden.

„Mag sein“, versuchte ich, mich von meinen Gedanken abzulenken. „Komm, da vorne geht’s nach Hause“, ich nickte mit dem Kopf in Richtung Heimat und wir ließen unsere Pferde im Schritt ausdampfen. Alaskas Fell war schweißgebadet, nachdem sie so gerannt war und auch Lupi atmete schwer.

„Oh, Mann. Das war echt cool“, Davids Puls raste, das sah ich an seinem T-Shirt. Er seufzte leise, als wir in die Sonne ritten. Vor uns lag das freie Feld und in der Ferne konnte man bereits die hohen Gebäude des Reitinternats ausmachen.

„Ja, das fand ich auch“, ich ließ mich auf Alaskas Hals fallen und atmete tief durch. Jetzt ging es mir gut und ich hätte nicht glücklicher sein können.

Wir ließen die Pferde noch etwas am freien Zügel traben und kamen wenig später am Reitinternat an. David und ich entschlossen uns, dass es besser war, die Pferde abzuspritzen. Ich zeigte ihm, wo die Waschbox war und danach besuchten wir noch die Geländestrecke, die Reitplätze und die Reithallen, um die Pferde in der Sonne trocknen zu lassen.

„Wie ist es, hier groß zu werden?“, fragte mich David und lehnte sich gegen den Zaun der Springplätze.

„Für mich ganz normal. Ich kenne es nicht anders“, erwiderte ich schulterzuckend. Es war anders als das Leben meiner Freundinnen aus der Grundschule, die teilweise ganz normale Gymnasien besuchten. Oder meiner Cousine, die in Bayern eher anderen Hobbys nachging wie Segeln und Fechten. In den Urlaub fuhren wir nicht. Es gab nur ein Mal im Jahr eine große Fahrt nach Dänemark mit den Pferden und allen Reitern und ihren Familien, die interessiert waren. Das hatte es schon zu Jugendzeiten meiner Mutter gegeben.

„Deine Eltern? Haben die sich hier kennengelernt?“, fragte David neugierig und ich musste schmunzeln.

„Mein Dad war mal auf demselben Reitlehrgang wie meine Mom. Die beiden waren am Ende der drei Wochen ein Paar. Doch einfach war es für beide nicht. Denn Daddys Eltern wollten nicht, dass er ein Reitinternat besucht. Sie hatten Schiss, dass sich seine Noten verschlechtern würden. Nicht nur wegen der Pferde, sondern auch wegen Mom. Die beiden hätten sich fast getrennt, als sie versucht haben, Papas Eltern zu überreden, weil sie sich nur noch gestritten haben. Doch am Ende haben sie es dann doch geschafft und dann ging der Stress erst so richtig los“, ich lachte.

„Wie meinst du das?“, wollte David wissen und stolperte hinter Lupita her, die eine besonders saftige Stelle Gras entdeckt hatte.

„Ein paar Monate nach Mom‘s sechzehnten Geburtstag blieb ihre Periode aus und der Schwangerschaftstest zeigte schwanger an. Sowas wie die Pille war damals noch nicht ganz so verbreitet wie bei uns und hatte auch noch viel mehr Skeptiker“, meinte ich und dachte nach.

„Und dann?“ Davids Aufmerksamkeit war nun voll bei mir.

„Sie hat es ewig für sich behalten und niemandem etwas gesagt. Ihren Eltern nicht, meinem Dad nicht und auch ihren besten Freunden nicht. Doch dann musste sie irgendwann mit der Wahrheit herausrücken und meine Oma ist mit ihr zum Arzt gegangen. Der Test hat ein falsches Ergebnis angezeigt. Mom wurde erst nach der Hochzeit schwanger!“ Die Geschichte meiner Mutter rührte mich immer noch. Schon damals hätte sie eine Tochter Charlotte nennen wollen und das machte mich wahnsinnig stolz. Zumal meine Eltern immer noch so glücklich zusammen waren.