Anja und das Reitinternat - Himmel und Hölle

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Anja und das Reitinternat - Himmel und Hölle
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Anja und das Reitinternat - Himmel und Hölle

1  Titelblatt

2  Über die Autorin

3  Prolog

4  Sommerferien

5  Faustdick

6  Wer-mit-wem

7  Sonderstellung

8  Ach, Prinzessin

9  Kleine Stalkerin

10  Tickende Zeitbombe

11  Böse Überraschung

12  Im siebten Himmel

13  Hexe

14  Aus und vorbei

15  Himmel und Hölle

16  Nachtleben

17  Frag nicht nach Sonnenschein

18  Aus seiner Vergangenheit

19  Herbsteinflug

20  Eins zu null

21  Turniervorbereitungen

22  Extramöhren

23  Eskalation

24  Epilog

25  Impressum

Anja und das Reitinternat - Himmel und Hölle

Feli Fritsch

Für Ina, meinen größten, langjährigen und ehrlichsten Fan!

Über die Autorin

Die Autorin Feli Fritsch wurde im Sommer 1997 in Darmstadt geboren. Sie wuchs in der Nähe von Frankfurt am Main auf, bis sie 2016 nach dem Abitur nach Mainz zog, um dort Buch- und Erziehungswissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität zu studieren.

Schon als Kind begann Feli, Ideen festzuhalten und kleine Geschichten zu schreiben, die mit den Jahren immer länger wurden. Es entstanden Stück für Stück erste Romane.

Thematisch befassen sich die meisten ihrer Bücher mit Pferden, denn sie hat ihre Liebe zum Reiten bereits vor der Grundschule entdeckt. Aber auch das Segeln und eine eigene Segeljolle begleiten und inspirieren Feli seit 2013 zu neuen Büchern.

Seit 2016 veröffentlicht sie als Self-Publisherin bei epubli aus Berlin ihre Jugendbücher unter einem anderen Namen. Seit 2017 macht sie ihre Geschichten rund um Anja auf dem Reitinternat als Feli Fritsch der Öffentlichkeit zugänglich. Zunächst veröffentlichte sie ihre Bücher nur im Taschenbuchformat, bis sie sich schließlich auch an eine Veröffentlichung als eBook traute.

Dieses Buch erschien unter demselben Titel mit der ISBN 978-3-7450-2479-1 als Printversion.

Weitere Infos zur Autorin und ihren Büchern gibt es im Internet unter www.feli-fritsch.de.tl

Prolog

Die Hitze draußen war unerträglich. Die Klamotten klebten an der verschwitzten Haut, die Luft schimmerte in der Julisonne des Jahres 1985. Auf dem Asphalt hatten sich optische Täuschungen gesammelt. Kein Lüftchen wehte, der Himmel war strahlend blau. Nach Regen sah es nicht aus. Schon seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Die Ernte vortrocknete auf den Feldern, in anderen Teilen des Landes ersoff sie in den Wassermassen, die hier sehnlichst erwartet wurden.

Die 14-jährige Anja Klein schaute angestrengt in den Himmel. Sie saß im Sattel ihres frechen Fuchsponys Boreo, dem die Hitze ebenfalls zu schaffen machte. Das Turnierjackett klebte überall fest, sie schwitzte aus jeder Pore ihres Körpers. Sie wünschte sich an den Waldsee. Doch jetzt stand erst noch ihre Reiterabschlussprüfung im Springen bevor – eine ganz normale Prüfung auf dem Reitinternat Schloss Rosenthal, auf dem Anja großgeworden war. Es gehörte ihren Eltern, die ebenfalls beide Reiter, Züchter und Lehrer waren.

„Als nächstes die Startnummer 420: Anja Klein im Sattel von Boreo bitte“, rief ihre Mutter Friederike Klein die Tochter auf. Sie war Reitlehrerin am Reitinternat geworden, nachdem sie Anjas Vater Steffan geheiratet hatte und die beiden auf das Internat seiner Eltern gezogen waren. Kennengelernt hatten sich Friederike und Steffan auf einem Reitturnier.

Anja stöhnte und raffte sich auf. Dass sie bei einer solchen Hitze tatsächlich noch ihre Abschlussprüfung für dieses Schuljahr zu reiten hatten, war unmenschlich und eine wahre Folter. Ihr Ponywallach schwitzte schon beim Stehen, wie würde er gleich aussehen, wenn sie durch den L-Parcours geritten waren?

Die jährlichen Abschlussprüfungen waren ein bisschen wie die praktische Sportprüfung in einer normalen Schule. Die Leistung, die bei dem nach Unterrichtsstoff aufgestellten Test benotet wurde, war ein Teil ihrer Note im Schulfach Reiten, das hier am Internat jeder belegte. Anja besuchte für wenige Wochen noch die achte Klasse, ihr Jahresthema im Reiten war die Prüfungsklasse Leicht . Aufgeteilt wurde die Prüfung auf drei Tage: Am ersten Tag wurde Dressur geritten, dann kam das Springen und zum Schluss mussten alle Reiter einen Geländeparcours überwinden. Für jede Sparte gab es eine Wertnote. Der Durchschnitt ergab durch eine Leistungstabelle die Schulnote, die gemeinsam mit der schriftlichen Klausur eine Gesamtnote ergab.

Boreo war ein echtes Springpony und begeisterte sich sofort, obwohl die Hitze draußen wirklich nicht zum Sport einlud. Der Fuchs ließ sich sicher durch den Parcours reiten, achtete auf die Hilfen seiner jungen Reiterin und warf keine Stange herunter. In der Kombination dachte er mit und am Ende erreichten Anja und Boreo eine 8,8 – eine wirklich sehr gute Leistung.

„Wieso kriegen wir kein Hitzefrei? Oder wenigstens Ausfall für den Reitunterricht?“, beschwerte sich Amelie, Anjas beste Freundin, als auch sie mit ihrem Schimmel Starbux aus dem Parcours kam. „Das kann man ja weder Mensch noch Tier zumuten.“

„Da stimme ich dir voll zu“, prustete Anja. Sie und Amelie waren Freundinnen seit dem Kindergarten. In der Grundschule waren sie schon in derselben Klasse gewesen. „Aber die Abschlussprüfungen müssen laufen. Und das ist vor dem Noteneintrag laut Wettervorhersage halt noch der kühlste Tag.“

„Heißt das, dass die anderen Tage noch heißer werden?“ Amelie war entsetzt und stieß ein jämmerliches Seufzen aus.

„Oh ja“, erwiderte Anja und ließ die Schultern hängen. Sie wollte nur ihr für diese Temperaturen absolut unpassendes Turnierjackett loswerden.

„Ich frag mich sowieso, warum wir nicht gechillt alle ’nen Ausflug zum Waldsee machen. Die Abschlussprüfungen sind doch eh morgen vorbei“, mischte sich auch Celina ein. Sie gehörte ebenfalls zur Clique dazu. Sie hatte Recht: Morgen würde noch der Geländeteil kommen, aber dann war das Schuljahr gelaufen. Danach könnte man echt einen entspannteren Unterricht planen. Doch gerade für die leistungsorientierten Schüler waren die Prüfungen drei besonders wichtige Tage.

„Wir können ja nach dem Mittagsessen zum Waldsee reiten und unser Leben chillen. Ich mach jedenfalls nichts anderes mehr, als mich irgendwo in den schattigsten Schatten zu pflanzen und so lange liegen zu bleiben, bis dieser Höllen-Sommer vorbei ist“, beschloss Amelie.

„Das kennt man ja eher weniger von dir“, entgegnete Anja kühl. Amelie war sehr leistungsorientiert – oder besser gesagt: ihre Eltern. Sie trimmten die 15-Jährige darauf, viel zu lernen und immer nur mit einer Eins zufrieden zu sein. Manchmal nervte das wirklich! Aber man durfte Amelie auf keinen Fall unterschätzen. Sie war ein Teufel; ein Teufel im Kostüm einer Prinzessin. Sie hatte es faustdick hinter den Ohren. Die Jungs aus den höheren beiden Jahrgängen waren vor ihr nicht sicher. Ob ihre Eltern von Amelies – wie soll man sagen? – offenen Seite wussten, wagte Anja zu bezweifeln. Es würde ihnen nicht ins Konzept passen.

„Also ich bin auf jeden Fall dabei“, Celina trabte ihre hellbraune Hannoveranerstute Starlight an und ritt ein paar Zirkel und Volten. „Vielleicht will Olli ja auch mit.“

Ja, Oliver Claassen. Anjas Bauch zog sich zusammen. Olli war zwar genauso wie Celina und Amelie einer ihrer besten Freunde, schleppte er jedoch immer den Nachteil mit sich, dass er unerschöpflich in Anja verliebt war und einfach nicht akzeptieren wollte, dass ihr Herz einem anderen gehörte. Dieser andere war Phil.

Phil, dachte Anja mit einem Lächeln. Vor einem Jahr hatten sie sich im Sommer auf einem Reitlehrgang kennengelernt. Das waren die drei wundervollsten Wochen ihres Lebens gewesen. Anjas Leben war Phils Traumvorstellung. Sein Pferd Baltic Sea war ein erstklassiges Dressurwunder, mit dem Phil schon die Landesmeisterschaften gewonnen hatte. Und trotzdem wollten seine Eltern nicht, dass er zu ihnen auf das Internat umzog. Sie hatten Sorgen um seine guten Schulleistungen, die unter Anjas Einfluss leiden könnten. Beinahe waren seine Eltern noch schlimmer als die von Amelie, dachte Anja manchmal. Aber das wagte sie tatsächlich nur zu denken.

 

Philipp Brückner war fünfzehn Jahre alt und wohnte in Fulda, etwa eine Autostunde vom Internat entfernt. Anja sah ihren Freund nur selten und das war traurig. Ihre Eltern hätten nichts dagegen gehabt, wenn Phil aufs Internat gewollt hätte – aber eben seine Eltern. Und so wie es aussah, würde das auch erst mal so bleiben.

„Hab ich da grad meinen Namen gehört?“ Olli kam auf seiner Araberstute Schoki dazu und blieb neben Anja stehen. Er konnte es nicht lassen und zwinkerte ihr zu.

„Wir wollen heute nach der Schule zum Waldsee schwimmen gehen. Bock, mitzukommen?“, fragte Amelie stattdessen und Oliver nickte sofort.

„Auf jeden Fall. Ich brauch ’ne ordentliche Abkühlung“, er atmete tief durch. „Sollten die Ferien genauso werden, dann streike ich.“

„Und ich starte bei keinem einzigen Turnier, bei dem mich Mama und Papa mit Sky gemeldet haben“, Anja rollte mit den Augen. Sky war der Nachwuchshengst ihres Vaters, sein ganzer Stolz. Und Anja hatte die Ehre bekommen, ihn mittrainieren zu dürfen und ihn auf Turnieren vorzustellen. In den Sommerferien sollte sie mit ihm in der A-Klasse starten.

„Okay, Leute“, rief Friederike in diesem Moment. „Wir sind jetzt durch mit der Springprüfung. Man sieht euch an, dass ihr keine Lust mehr auf eine große Nachbesprechung habt. Seid nur morgen bitte pünktlich auf der Geländestrecke, damit wir genauso gut durchkommen wie heute. Ich wünsch euch einen entspannten Nachmittag“, mit diesen Worten entließ sie die Schüler in ihre Freizeit.

„Na endlich. Das wurde aber auch Zeit“, fand Anja und ließ sich aus dem klebrigen Sattel gleiten. Sie spürte nur noch den Schweiß auf ihrer Haut und wollte eigentlich nur noch unter die Dusche oder in den kühlen Waldsee springen; aber zuvor musste sie ihr Pony fertigmachen.

Boreo war ein sehr talentierter Ponywallach. Ein Endmaß-Pony, das etwas zu groß geraten war. Mit 1,50 Metern Stockmaß war Boreo offiziell kein Pony mehr, wurde aber durch seine Rasse dennoch als Pony geführt. Für die Zucht war er damals uninteressant geworden, da er nicht den Anforderungen entsprach. So hatte sich der freche Fuchs allerdings durch sein übernatürliches Geschick am Sprung durchgesetzt und war erfolgreich bis zur Klasse M auf Turnieren unterwegs gewesen und hatte nebenbei viele Meisterschaftstitel abgeräumt, bis er schließlich zu Anja gekommen war, als sie in die fünfte Klasse eingeschult wurde. Das war jetzt fast vier Jahre her und sie freute sich jeden Tag erneut, wenn sie aus ihrem Zimmer heraus auf die Koppeln blickte und ihren kleinen Rabauken entdeckte. Sie hatte Boreo sehr lieb und er war ihr ein und alles. Neben Phil natürlich.

„Los, Leute. Lasst uns unsere Sachen packen, bei Iris in der Küche was zum Mittagessen stibitzen und mit den Pferden zum Waldsee. Ich brauch ’ne Auszeit“, forderte Olli sie alle mit neuer Energie erfüllt auf.

„Ich hol‘ meine Sachen schnell aus meinem Zimmer“, rief Anja und joggte durch die brütende Hitze los Richtung Privathaus, in dem sie mit ihrer Familie wohnte. Die Bernersennenhündin Marla kam ihr schwanzwedelnd entgegen, als sie die Haustür aufschloss, ihre Schuhe in die Ecke kickte und in die Kühle hineintrat. Entspannung.

„Was machst du denn schon hier?“, kam es ihr aus dem Wohnzimmer entgegen. Cedric. Ihr großer Bruder war siebzehn Jahre alt und hielt sich für den Größten. Mit seinem Pferd Spirit, das eigentlich Spirit’s Best hieß, war er nicht nur der Jahrgangsbeste, sondern auch noch Deutscher Jugendmeister der Vielseitigkeitsreiter in diesem Sommer geworden.

„Mama hat uns schon gehen lassen. Auf dem Platz verkokelt man und in der Halle verdampft man“, entgegnete Anja nur kühl und verschwand die Treppe hinauf in ihrem Zimmer. Sie hatte das Glück, ein sehr großes Zimmer mit einem eigenen Bad, einem Ankleidezimmer und einer Schlafkammer zu besitzen. Cedric hingegen musste sich das Bad mit den Eltern teilen, was ihm gar nicht gefiel. Aber so war das eben. Wenn er in zwei Jahren sein Abi haben würde, dann würde er sowieso ausziehen und fürs Studium weg sein. Das Reitinternat – so hatte er es schon vor zwei Jahren laut verkündet – wollte er nicht übernehmen. Umso schöner für mich , dachte Anja, denn es ist nicht nur mein zuhause, sondern auch mein absoluter Traum!

Die Sonne schien gnadenlos auf die Jugendlichen herab und spiegelte sich hell im Wasser, als sie sich am Waldsee einen freien Platz suchten, an dem sie ihre Picknickdecke ausbreiten und die Pferde nach dem Baden an einem Baum festbinden konnten.

„Ich fühl mich ja jetzt schon wie ’ne Sardine in der Büxe.“ Anja ließ ihren Blick über die Menschenmassen gleiten. Überall waren Menschen. Die grüne Wiese, der Sand – alles war von nackten Menschen und ihren Rucksäcken bedeckt.

„Wir hätten bis heute Abend warten müssen“, stellte Olli fest, als er sich das T-Shirt über den Kopf zog und Schoki den Sattel abnahm.

„Ja, und dann sind hier nur noch die angesoffenen Studenten, die schon Semesterferien haben, und der Rest liegt in den Büschen“, Celina sah ihn wenig begeistert an.

„Wer sagt denn, dass ich was dagegen hätte?“, zwinkerte Olli und die drei Mädchen stöhnten.

„Mensch, Oliver! Hör auf damit“, fauchte Amelie. Olli verkniff sich einen weiteren Kommentar und zuckte nur die Schultern.

Sie zogen sich schnell um und gingen dann mit den Pferden Richtung Waldsee. Vor ein paar Jahren hatte es eine Regelreform gegeben. In einem bestimmten Teil des Waldsees und zu bestimmten Uhrzeiten durften auch die Pferde ins Wasser. Auf dem Internat hatte man diesen Beschluss hoch gefeiert.

„Wollen wir die Pferde nach dem Ausflug dann duschen und für morgen gleich einflechten?“, schlug Anja Amelie vor.

„Logo“, sie zwinkerte ihr zu, dann machte Starbux, den sie seit der fünften Klasse als Reitbeteiligung ritt, einen Satz und seine Reiterin landete im angenehm kühlen Nass.

Olli lachte los, doch Celina schupste ihn von Schokis Rücken, sodass auch er ins Wasser flog. Anja rutschte freiwillig von Boreos Rücken und begann zu schwimmen. Das Wasser umspülte ihren überhitzten Körper und brachte die nötige Entspannung. Das hatte sie vermisst. Sofort dachte sie wieder an Phil …

Anja schlich ins Büro ihrer Mutter. Es war stockfinster. Sie hatte sich nicht getraut, das Licht anzumachen, immerhin durfte Friederike auf gar keinen Fall mitbekommen, dass Anja hier war. Olli und Amelie hatten sie dazu überredet, herauszufinden, welche Noten Frau Klein ihnen mit den Wertnoten geben würde, die sie am nächsten Abend nach der Geländeprüfung errechnet hatten. Eigentlich waren die Ansprüche hoch, aber Friederike hatte eine neue Bewertungstabelle erstellt. Jetzt waren sie natürlich alle gespannt.

Anja stieß irgendwo gegen. „Autsch!“ Sie humpelte im Dunklen hinüber zu dem Schreibtisch. Die Hand konnte man kaum vor Augen sehen. Warum hatten die Streber ausgerechnet sie losschicken müssen? Wenn Friederike etwas mitbekam, dann gäbe es Ärger – hundertprozentig.

Anja kramte in den Unterlagen ihrer Klasse. Irgendwann fand sie die Bewertung zwischen den ganzen Zetteln. Mama sollte sich unbedingt mal eine neue Ordnung anschaffen , fand sie und kniff die Augen zu, um die Ziffern lesen zu können. Da alle im 8er-Notenbereich waren, bekamen auch alle eine Eins. Anja freute sich und wurde unvorsichtig. Irgendetwas fiel vom Tisch herunter, als sie den Blätterstapel wieder in die Schublade zurücklegen wollte. Es knallte dumpf und im nächsten Moment hörte man, wie im Schlafzimmer der Eltern jemand aufstand. Anja konnte sich kaum schnell genug hinter dem Sessel verstecken, der im Arbeitszimmer stand, schon ging das Licht an.

„Hallo?“, hörte sie die Stimme ihrer verschlafenen Mutter. „Ist da jemand?“

Anja traute sich nicht, einen Blick zur Tür zu werfen, atmete fast gar nicht.

„Oh, Mann, ich glaube, ich werde alt“, sagte Friederike Klein und Anja musste ein Kichern unterdrücken. Das Licht erlosch und die Tür ging zu. Erleichtert atmete sie aus und bekam einen Schrecken. Was, wenn Mom jetzt in meinem Zimmer schauen wird, ob ich auch schlafe? Dann würde alles auffliegen!

Sie bekam Panik, schob schnell die Schublade zu und schlich in ihr Zimmer. Anscheinend war Friederike zu müde gewesen und direkt wieder ins Bett gegangen. Anja zog sich die Decke bis zum Kinn und schlief sofort ein.

Sommerferien

Die Zeit verging quälend langsam. Es schien so, als bräuchte der Zeiger auf der Uhr über der Tafel doppelt so lang wie sonst. Mir entwich ein Seufzen, als ich mich auf mein Matheheft sinken ließ. Eigentlich hatte meine Klasse vorgehabt, zu frühstücken, doch unser Lehrer war richtig übermotiviert. Herr Gregorie hatte erst vor wenigen Wochen sein Staatsexamen in dieser Klasse bestanden und die Freude am Unterrichten sprühte förmlich aus ihm heraus. Es war schrecklich.

„Wann klingelt es denn endlich? Ich hab keinen Bock mehr auf Mathe-Mist“, flüsterte Celina zu mir herüber und so öffnete ich die Augen.

„Noch fünfzehn lange Minuten. Ich brauch dringend Ferien!“, bestätigte ich und blätterte resigniert eine Seite in meinem Mathebuch um, um die nächste Aufgabe zu rechnen, die Herr Gregorie, ein leider sehr attraktiver Lehrer, zum Üben gestellt hatte. Es kam nicht selten vor, dass ihm die Mädchen einen schmachtenden Blick zuwarfen.

„Da bist du nicht die einzige“, Oliver stupste mich auf der anderen Seite an und sah überhaupt nicht ein, Abstand zu halten. Ich verdrehte die Augen und konzentrierte mich ein letztes Mal auf die Matheaufgabe, bevor der langersehnte Gong erklang und alle innerhalb von Lichtgeschwindigkeit ihre Sachen eingepackt und den Raum verlassen hatten.

„Schöne Ferien“, rief Herr Gregorie uns noch hinterher.

„Schöne Ferien“, kam von einigen zurück, dann verließen wir das Schulgebäude.

Nach der Pause bekamen wir endlich unsere Zeugnisse. Amelie war zufrieden, was eher selten vorkam. Auch ich freute mich über meine außerordentlich schönen Noten auf dem Papier. Als ich mit Amelie, Celina und Olli im Schlepptau aus dem Gebäude kam, stand jemand an der Haustür lehnend und wartete in der hell scheinenden Sonne auf mich.

„Wer ist denn das da?“, fragte Celina und deutete Richtung Privathaus.

Ich kniff die Augen zusammen. Und als ich die Person erkannte, blieb ich fassungslos stehen. „Das ist Phil!“ Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ich ließ meinen Rucksack fallen und rannte los. So schnell ich konnte, sprang ich die Treppen hoch und landete in seinen Armen. „Was machst du denn hier?“ Ich sah ihn an.

Bevor er mir antwortete, küsste er mich liebevoll auf den Mund. „Ich komme dich besuchen“, sagte er leise.

„Wonach sieht’s denn aus?“ Olli verzog das Gesicht.

„Olli, sei nicht so fies“, forderte Celina ihn auf, aber ich ignorierte Ollis dummen Spruch und gab Phil demonstrativ einen Kuss.

„Und was … wie …?“ Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte.

„Ich hab das mit deinen Eltern abgesprochen. Ich bleib für drei Tage und mit nach Dänemark darf ich auch“, er zwinkerte mir zu und ich stand auf einmal mit offenem Mund da.

„Das … du veräppelst mich doch, oder?“

„Nein. Würde ich nie tun“, Phil gab mir einen Kuss auf die Wange und nahm seine Reisetasche. „Bis Montag bleib ich. Und deine Eltern warten schon auf uns“, er zwinkerte mir zu.

„Was ist mit unserem Waldsee-Ausritt?“, wollte Amelie wissen, als sie mir meinen Schulrucksack in die Hand drückte.

„Wir packen unsere Sachen und dann reiten wir los, ja?“, schlug ich vor. „Phil kann Allegra nehmen.“

„Find‘ ich gut“, Oliver zeigte seine Daumen hoch.

Wir verabschiedeten die anderen, die in der Küche bei Iris ein kleines Mittagessen erhaschen wollten, dann schloss ich die Tür auf und Phil und ich traten ein.

„Ich bin so froh, dass du da bist“, ich kickte die Haustür mit dem Fuß zu und schlang meine Arme um Phils Hals. Endlich hatten wir Zeit für uns; wenn auch nur kurz.

„Ach, nee. Anja und ihr Freund“, Cedric tauchte im Hausflur auf und begrüßte Phil mit kumpelhaftem Handschlag.

 

Am Anfang war mein Bruder nicht besonders begeistert gewesen, als ich Phil mit nach Hause gebracht hatte. Aber dann hatte er ihn reiten sehen und seine Meinung hatte sich schlagartig verändert. Ein guter zukünftiger Internatsleiter , hatte er irgendwann gesagt und aus den beiden waren … nun ja, Freunde geworden zu sagen, wäre übertrieben, aber immerhin hatten die beiden ein freundschaftliches Verhältnis.

„Was habt ihr jetzt noch vor?“, wollte Cedric wissen. Im nächsten Moment ertönte eine Mädchenstimme aus seinem Zimmer.

„Ach, nee“, ich grinste meinen Bruder an. „Ist das Luna, Sophia oder eine ganz andere?“ Ich zog die Augenbrauen hoch.

„Frag nicht so doof, Anja!“, zischte mein Bruder und ich konnte meinen innerlichen Triumpf nicht unterdrücken.

„Wir wollten mit Amelie, Oliver und Celina zum Waldsee reiten und die Ferien einläuten“, erklärte Phil, um die angespannte Stimmung etwas aufzulockern.

„Dann wünsch ich euch viel Spaß“, mein Bruder zuckte die Schultern.

„Wir dir auch“, kicherte ich und machte mich davon, bevor er mich schnappen konnte.

„Blöde Kuh“, hörte ich meinen Bruder noch zischen, dann war er in seinem Zimmer verschwunden.

Phil und ich packten in meinem Zimmer zwei Satteltaschenpaare zusammen und schnappten uns dann den Rest unserer Sachen. Während Phil sich in Reitklamotten schmiss, suchte ich in der Küche Wasserflaschen zusammen. Danach liefen wir nach unten in den Stall. Ich holte Boreo von der Koppel und Phil Allegra.

„Weißt du, wie oft ich mir vorstelle, dass das hier gerade Alltag wird?“, fragte ich meinen Freund, als ich Boreo den Sattel festschnallte und die Satteltaschen sicherte. Ich schnappte mir seine Gamaschen.

„Wahrscheinlich mindestens so oft wie ich“, entgegnete Phil leise und zog Allgeras Trense von der Halterung.

„Mindestens“, murmelte ich, doch Phil hatte es gehört.

„Ich liebe dich, Anja. Und ich verspreche dir, dass ich eines Tages nicht mehr gehen werde“, er schlang seine Arme um mich, als mich meine Emotionen einzuholen drohten.

„Ich liebe dich auch, Phil“, flüsterte ich, dann küssten wir uns.

Tatsächlich war Phil bis Montag geblieben und es waren drei wundervolle Tage geworden. Der Abschied war tränenreich gewesen und am liebsten hätte ich ihn nie gehen lassen. Beinahe hätte Phil seinen Zug verpasst. Das hatte ich natürlich auch nicht beabsichtigt.

Bereits eine Woche später sahen wir uns jedoch wieder. Phil hatte seine Eltern wirklich überzeugen können, mich mit Baltic Sea zur Dänemark-Freizeit begleiten zu dürfen. Ein Mal im Jahr fand eine große Reise statt, denn für mich und meine Familie gab es eigentlich keinen Urlaub. Da das Interesse aber sehr zugenommen hatte, fuhren mittlerweile viele Schüler, Pferde und Familien mit, sodass es sich richtig lohnte, ein Programm aufzustellen und jedes Jahr einen Bericht zu verfassen. Mit Sack und Pack fuhren wir aus der Mitte Deutschlands los zur Nordspitze Europas. Von dort aus setzten wir mit einer Fähre über auf die dänische Trauminsel Læsø und blieben für zwei Wochen; Reiten am Strand, Sonnenuntergänge und Urlaub mit den Pferden und den Freunden inklusive. Meine Mutter hatte vor ein paar Jahren die Idee bekommen und gemeinsam mit meinem Papa und ein paar weiteren Lehrern ins Leben gerufen. Mittlerweile war es mein Highlight. Umso schöner, dass Phil diesmal auch mitfahren durfte.

Mitten in der Nacht ging es los. Draußen war es noch dunkel. Der Bewegungsmelder an den Ställen löste ständig das Licht aus. Bereits am Abend hatten wir alles in die Hänger, Autos und LKWs gepackt. Jetzt fehlten nur noch die Pferde.

Ich war todmüde und hätte am liebsten einfach weitergeschlafen, doch Phil hatte mich irgendwann aus dem Bett geschmissen und sich meine Sachen geschnappt. Jetzt stand ich mit Boreo und Sky am Zügel vor dem LKW und wartete darauf, dass wir verladen konnten.

Als wir allesamt vom Hof rollten und sowohl Schule als auch zuhause für zwei Wochen hinter uns ließen, war ich erleichtert. Ich kuschelte mich zu Phil, der neben mir saß und mir liebevoll einen Arm um die Schulter gelegt hatte. Cedric saß auf der anderen Seite. Er schlief bereits wieder.

Mama und Papa wechselten sich stundenweise mit dem Fahren ab. Irgendwann machten wir eine Pause. Ich bekam von alle dem nicht viel mit. Ich war innerhalb der ersten Autobahnkilometer wieder eingeschlafen und wachte erst auf, als mich Phil liebevoll weckte, um mich darauf aufmerksam zu machen, dass man schon das Meer sehen konnte. Mein Herz raste los und ich freute mich tierisch. Endlich waren wir wieder hier. Im Paradies der Pferde. Mein zweites Paradies. Denn das andere war auf dem Internat.

„Anja, also ich finde das wahnsinnig riskant“, wollte mich Phil aufhalten, als wir durch die Dunkelheit Richtung Stall schlichen. Die Schlüssel für das Tor klirrten leise in meiner Jackentasche.

„Ach, quatsch. Sei nicht so ein Schisser!“ Ich zwickte ihm grinsend in die Seite. „Weißt du, wie oft ich das schon gemacht habe?“

„Zu oft“, entgegnete mein Freund und drängte darauf, das Tor schnell hinter uns zu schließen.

Die Rede war von meinen heimlichen Mitternachtsausritten, die ich regelmäßig mit Boreo veranstaltete. Manchmal waren Amelie und Starbux dabei, aber oft waren wir beide auch einfach ganz alleine in der Dunkelheit unterwegs. Es reizte mich, mit Boreo ohne Sattel über die Felder zu fliegen und dem Nichts entgegen zu galoppieren.

„Komm, wir nehmen den Hinterausgang“, flüsterte ich Phil zu und schnappte mir Boreos Zügel. Mein Freund folgte mir. Baltic Sea fand die ganze Aktion nicht besonders lustig. Die braune Trakehnerstute weigerte sich, in die Dunkelheit hinauszuschreiten. Phil brauchte ein paar Minuten, um sie zu überzeugen, in denen er ebenfalls versuchte, mich davon zu überzeugen, diese leichtsinnige Aktion abzubrechen. Doch das kam für mich gar nicht in Frage. Ich wollte an den Strand, ans Meer. Zu dieser Uhrzeit, wenn der Mond voll und hoch und rund am Himmel über dem schwarzen Wasser stand, war es dort besonders schön. Ich mochte es, wenn die dunklen Wellen an den glitzernden Strand rollten und es leise plätscherte. Der Mond versetzte alles in ein unrealistisches Licht. Es war traumhaft romantisch.

„Eines Tages werde ich dir hier in genau so einer Situation einen Heiratsantrag machen“, schwor Phil, als ihn das Majestätische dieses Augenblicks überwältigte.

„Was habe ich dir gesagt? Zu viel versprochen?“ Ich musste in mich hinein grinsen.

„Nein, auf keinen Fall. Es ist wunderschön“, erwiderte Phil und beugte sich zu mir herüber, um mich zu küssen.

Boreo und Baltic Sea wollten rennen. Deshalb fassten wir die Zügel kürzer und veranstalteten ein Wettrennen bis zum Weg zurück, der vom Strand in die Heidelandschaften führte. Mein Pony flitzte und eigentlich hatte er gegen Baltic, die locker zehn Zentimeter größer war als mein Wallach, keine Chance, doch er hielt sich lange auf gleicher Höhe. Am Ende schnaubte er zufrieden ab und ich lockerte meinen Griff in seiner Mähne. Auf seinem bloßen Rücken war es rutschig und seine Bewegungen eindeutig zu spüren gewesen. So oft ich das schon erlebt hatte, es war dennoch jedes Mal etwas anderes.

„Danke, dass du mich überredet hast“, Phil gab mir einen dankbaren Kuss, als wir die Pferde zurück in die Boxen gebracht hatten.

„Gerne“, ich erwiderte den Kuss. „Aber jetzt beginnt der zweite gefährliche Teil der Meisterleistung: unentdeckt zurück in die Betten zu kommen“, ich zwinkerte ihm im Schein der schwachen Lichtröhre zu. Dann machten wir uns leise zurück auf den Weg in unser Zimmer …

Am Wochenende nach meinem fünfzehnten Geburtstag starteten Sky und ich bei einem A-Springen in Hanau. In Dänemark hatte Papa uns intensiv trainiert und jetzt stand die Prüfung an. Ich war aufgeregt, obwohl ein A-Springen für mich mittlerweile kein Problem mehr war. Allerdings war es etwas anderes, mit einem dänischen Warmblut zu springen als mit einem Welsh-Pony. Dennoch freute ich mich.

„Reite ihn mal über das Kreuz hier?“, rief mich Papa zu einem der Probesprünge auf dem Abreiteplatz. Sky war fünfjährig und in ihm steckte Papas ganze Hoffnung. Mittlerweile war Skys erstes Fohlen auf die Welt gekommen – ein Hengstfohlen mit dem Namen Skyfall – und in wenigen Wochen sollte die nächste von ihm tragende Stute abfohlen. Ich hoffte auf ein Stutfohlen. Außerdem hatte Papa dieses Jahr seine beste Dressurstute von ihm decken lassen. Nächsten Sommer sollte das Fohlen auf die Welt kommen.

„Als nächstes am Start: Die Nummer 780, Sky, im Sattel Anja Klein vom Reitinternat Schloss Rosenthal“, wurden wir aufgerufen und ich fasste Skys Zügel kürzer. Jetzt wurde es ernst!

Ich ritt in die Bahn und grüßte die Richter. Im Publikum saßen zum Großteil Eltern oder Jugendliche vom gastgebenden Verein. Einige von ihnen starteten selbst. Sky schaute sich neugierig um und ich verschaffte mir einen letzten Überblick über den Parcours. Als die Glocke ertönte, startete die Springpferdeprüfung. Mein Pferd war spritzig und motiviert. Sky fokussierte die Hindernisse und zog stark an. Ich musste ihm ordentliche Paraden geben, damit er nicht zu schnell wurde. In der Kombination hingegen nahm er sich von alleine etwas zurück und ließ sich flüssig hindurchreiten. Es fühlte sich traumhaft an und ich sprach ihm ein paar lobende Worte zu. Auf der Zielgeraden versammelte ich den Hengst nur noch halbherzig. Über den letzten Sprung flog er in einem weiten Bogen. Die Zuschauer klatschten und ich klopfte Sky freudestrahlend den Hals. Der Schimmel schnaubte und schüttelte seinen muskulösen Hals. Vor der Einreitschneise ließ er sich wieder zurücknehmen und parierte zufrieden durch in den Schritt. Mein Herz raste.