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Kindliche Angelegenheiten

»Kinder sagen die verflixtesten Dinge.«

Art Linkletter

Es wird erzählt, dass ich als Kind sehr schnell gelernt habe, aber auch sehr schnell gelangweilt war. Ich war fantasievoll und launenhaft, zuvorkommend und rücksichtslos, liebevoll und selbstsüchtig. Wie die meisten kleinen Kinder war ich davon überzeugt, dass sich das Universum um mich und meine Bedürfnisse dreht. Und warum auch nicht? Es gab meines Erachtens nur wenige Grenzen zwischen dem, was ich mir wünschte, und dem, was ich erwartete zu bekommen. Ich glaubte, dass alles nach meinem Wunsch verlaufen sollte. Alles.

Einschließlich der Familienplanung.

Etwa in der Zeit, als ich zwei Jahre alt wurde, spürte meine Mutter die ersten Regungen neuen Lebens in ihrem Leib. Es machten sich Empfindungen in Gestalt zweier unterschiedlicher Arten von »Tumulten« bemerkbar, und infolgedessen war sie der festen Überzeugung, dass sie Zwillinge erwartete. Ein Team von Geburtshelfern behauptete dagegen steif und fest, sie habe Unrecht, selbst als ihr Bauch allmählich wuchs ... und wuchs ... und wuchs. Sie war eine große, schlanke Frau. Von hinten sah man nur ihre Körpergröße und eine schlanke Silhouette, doch wenn sie sich zur Seite drehte, kam ein Profil zum Vorschein, das so ausgeprägt war, dass sie bequem ein Tablett auf ihren Bauch hätte stellen können.

Ich liebte es, ganz nahe zu kommen und dem Pochen im Bauch meiner Mutter zuzuhören. Wenn ich mein Ohr an ihren Bauch legte, wurde es im Inneren sehr lebendig. Das faszinierte mich.

Wenige Monate später war meine Mutter wieder im Kreißsaal, doch diesmal wurden ihr Schmerzmittel verabreicht. Sie hörte keine Motoren und sie begab sich auf keine Odyssee.

»Pressen«, sagten die Ärzte durch einen nahezu unerträglichen Dunst, und als sie dann gepresst hatte, schlief sie umgehend ein. Nach einer Weile weckten sie meine Mutter auf. »Herzlichen Glückwunsch, Sie haben ein hübsches Mädchen zur Welt gebracht.« Erfreut (und betäubt) nickte sie und schlief wieder ein. Ein paar Minuten später weckten die Ärzte sie erneut auf: »Pressen.«

Gut, dachte sie, ich wusste, dass es so kommen würde. Also tat sie ihnen den Gefallen noch einmal. Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war: »Herzlichen Glückwunsch, Sie haben einen prächtigen Jungen zur Welt gebracht.« Nachdem sie wusste, dass die Geburt nun vorüber war, gestattete sie sich, in einen tiefen Schlaf zu sinken.

Kurz danach weckten die Ärzte sie wieder auf. »Pressen.«

»Nicht noch eins!«

Sie lachten. »Nein, nein, das ist wegen der Nachgeburt.«

Als sie schließlich mit den Zwillingen nach Hause kam, stellte sie erstaunt fest, dass ihr erstgeborenes Kind, ich, nicht gerade erfreut aussah.

»Was ist los?«, fragte sie mich.

»Ich habe sie nicht gewollt«, erwiderte ich.

»Du hast gesagt, dass du sie dir gewünscht hast«, antwortete meine Mutter voller Wärme.

»Nein, das habe ich nicht gesagt.«

»Du hast gesagt, du wünschst dir einen Bruder und eine Schwester.«

Ich spreizte die Beine, stemmte die rechte Faust fest auf meine Hüfte und sah meiner Mutter in die Augen. »Ich habe gesagt, ich wünsche mir einen Bruder oder eine Schwester. Oder eine Schwester. Bring einen von ihnen wieder zurück.«

Ich war mir nur wenig über die Schwierigkeiten im Klaren, die es mit sich bringen würde, mich an Geschwister anzupassen und die Welt mit ihnen zu teilen, die bis jetzt nur mir allein gehört hatte. Dies sollte sich in den kommenden Jahren als eine große Herausforderung (gut, sagen wir als eine Lektion für mein Wachstum) erweisen.

Mach die Tür auf

Die Sache mit dem frühreifen Benehmen ist die: Manchmal ist es niedlich und manchmal auch nicht. Schon in sehr jungen Jahren hatte ich ein Problem mit Autorität und ein noch größeres mit Langeweile. Es war eine unbeständige Kombination. Wenn es irgendeinen kleinen Winkel gab, den ich nicht erkunden sollte, hielt ich mich dort auf. Wenn es irgendetwas gab, was ich nicht tun sollte, dann tat ich es aller Wahrscheinlichkeit nach. Mit den Worten meiner Mutter ausgedrückt, war ich sehr erfinderisch darin, mir »Tricks« und Erklärungen einfallen zu lassen, um mich selbst zu beschäftigen. Sich dem Schlaf hinzugeben, war nur eine Art der Verjüngung. Ich hatte Angst, dass ich etwas versäumen würde, während ich schlief.

Ein Beispiel für meine Tricks betraf meine Großmutter mütterlicherseits, »Nana«. Eines Tages, nicht lange nachdem mein Bruder und meine Schwester nach Hause gekommen waren, kam Nana ins Haus, um auf uns aufzupassen. Dadurch konnte sich meine Mutter eine dringend benötigte Pause gönnen. Mein Bruder und meine Schwester waren in ihren Gitterbetten, und ich war vorübergehend mit Fernsehen beschäftigt. Drei große Aluminiumtöpfe, einer gefüllt mit Windeln, die anderen Töpfe mit den Flaschen mit Babynahrung kochten heftig auf dem Herd und ein Trockner mit Wäsche im Keller war gerade fertig geworden. Nana ging hinunter, um die Kleidungsstücke heraufzuholen. Die fleißige, flinke und praktisch veranlagte Nana versuchte sich zu beeilen, weil sie wusste, dass es nicht gerade das Klügste war, mich längere Zeit alleine zu lassen. Ihre Arme voll beladen mit warmer, frisch getrockneter und gefalteter Wäsche, die hoch und ordentlich aufeinander gestapelt war, begann sie die Treppe heraufzusteigen. Sie spähte nach oben und sah plötzlich, wie die Tür zum Keller zufiel. Sie versuchte sich zu beeilen, aber die Tür knallte zu, bevor sie dort angelangt war. Das Schloss schnappte ein.

Während Nana sich gegen die Tür lehnte und dabei den Stapel Wäsche hielt, machte sie eine Hand frei und untersuchte den Türgriff. Er drehte sich nicht. »Mach die Tür auf, Eric«, sagte sie mit einer lieblichen, aber beherrschten Stimme.

Mit einer noch viel lieblicheren Stimme erwiderte ich: »Uh-uh«

»Komm schon, mach jetzt die Tür auf.«

»Uh-uh.«

Nana wusste, dass ein strenger Ton bei mir nichts ausrichten würde. Doch sie hatte auch nicht vor, sich von einem kleinen Kind, egal wie frühreif es war, an der Nase herumführen zu lassen – noch dazu, wo in einem Raum drei Töpfe voll Wasser kochten und im anderen Raum zwei Säuglinge schliefen. Also versuchte sie, die Sache anders anzugehen. »Ich wette, du kannst den Türgriff nicht erreichen«, sagte sie und spielte dabei mit meinem Eigensinn.

»Doch, das kann ich.«

»Ich wette, du kannst es nicht.«

Dann folgte Stille.

Nana geriet ins Schwitzen. Sie konnte schon fast das Geräusch in meinem Gehirn hören, dieses Summen, während ich die Situation erkundete. Doch schließlich musste ich mich, wie sie hoffte, beweisen. Ich drückte ein wenig am Türgriff. Sie hörte das leise schleifende Geräusch des Türgriffes.

»Ich wette, du kannst ihn nicht entriegeln«, sagte sie.

»Doch, kann ich.«

Noch einmal folgte die süßlich getarnte Herausforderung, »Ich wette, du schaffst es nicht.«

Es folgte eine neue, längere Pause. Die Kleider in ihren Armen fühlten sich allmählich schwer an. Der Mechanismus des Schlosses bestand aus einem kleinen Griff, der eingedrückt und dann gedreht werden musste. Wenn das Schloss entriegelt wurde, gab es gewöhnlich einen kleinen Klick und Nana wartete auf dieses Geräusch. Sie würde sich schnell bewegen müssen. Sie wollte mir nicht durch ein zu rasches Öffnen der Tür wehtun, doch dies war wahrscheinlich ihre einzige Chance.

Ich konnte nicht widerstehen.

Klick.

Nana drückte rasch gegen die Tür und sie flog schneller auf, als sie es erwartet hatte. Die immer noch warme, frisch gefaltete Wäsche wurde überall auf dem Boden verteilt. Ich wurde umgestoßen, bevor ich davonlaufen konnte. Entsetzt saß ich auf dem Fußboden und weinte.

Nana beeilte sich, das kochende Wasser abzustellen und kam dann zu mir, um mich zu trösten. Ich war erst zweieinhalb Jahre alt, doch Nana wusste bereits damals, dass damit ihre Karriere als Babysitterin beendet war.

In den Wolken

Nana war die Mutter meiner Mutter und »Bubba« war die Mutter meines Vaters. Bubba war eine herzliche, starke und altmodische Großmutter, die diese saugenden, europäischen Küsse auf die Wange drückte – die Art von Küssen, bei denen sogar ein Staubsauger erröten würde. Sie war voller Leben mit einer grenzenlosen Energie und einem gewagten Sinn für Humor, mit dem sie oft einige der eher »konservativen« Verwandten in Verlegenheit brachte. Bei den Festtagsessen setzte sie mich an ihre Seite und wenn ich bei ihr übernachtete, führte sie mich am Morgen in ihren Garten, um Erdbeeren und andere Früchte zu pflücken, um damit ein großes Frühstück zuzubereiten. Anschließend trug sie mich wie eine Feder auf nur einem Arm herum, während sie putzte, abstaubte, staubsaugte oder telefonierte. Ich liebte diese Bewegungen, dieses Gefühl, durch das All zu reisen, ohne dabei meine Füße zu gebrauchen. Mehr davon und schneller, ja, das wollte ich. Menschenskind, wie sehr habe ich sie geliebt.

Eines Tages im Januar ging Bubba ins Krankenhaus und kam nie wieder heraus.

Offensichtlich hatte sie, während sie in ihrem Krankenbett lag, einen Schmerz in ihrer Brust verspürt, nach dem Klingelknopf für die Schwester gegriffen – und es nicht mehr geschafft.

Nun mussten meine Eltern mit Bubbas plötzlichem Verschwinden aus unserem Leben fertig werden.

»Sie ist schlafen gegangen«, sagten sie mir, »und sie wird nie mehr aufwachen.«

Ich dachte ein wenig darüber nach, gab es dann aber wieder auf. »Ich kann sie aufwecken«, sagte ich. »Ich wette, wenn wir ihr drei Aspirin in den Mund legen und ich auf ihrem Bauch auf und ab springe, wird sie aufwachen.« Das Auf-und-ab-Springen auf ihrem Bauch war eine zusätzliche Strategie von mir, etwas, das eine Unterstützung für den Fall wäre, falls der Geschmack von dem sich auf ihrer Zunge auflösenden Aspirin nicht genügend Anreiz für sie sein sollte, ihre Augen zu öffnen und das Leben neu zu beginnen.

 

Dies war einer jener seltenen Augenblicke, in denen ich meinen Vater weinen sah.

Das Begräbnis fand kurz danach statt. Ich durfte nicht dabei sein. Meine Eltern hatten das Gefühl, dass es für mich im Alter von fünf Jahren zu furchtbar sein würde, den leblosen Körper meiner Großmutter zu sehen. Bubba war gegangen und jeder konnte sich von ihr verabschieden, nur ich nicht.

Nachts lag ich im Bett und dachte über sie nach. Manchmal weinte ich still vor mich hin. Ich vermisste sie, und obwohl ich diesen Begriff damals noch nicht verstand, hatte ich kein Gefühl für das Ende.

Unterdessen wusste ich allerdings, dass Bubba mich nicht vergessen hatte, auch wenn ich keine Gelegenheit gehabt hatte, ihr Lebewohl zu sagen. Ich wusste genau, wo sie war, und ich wusste, dass sie auf mich aufpasste, so wie sie es schon immer getan hatte. Ich wusste es, weil sie mir half, wenn ich dies brauchte – zum Beispiel, wenn ich draußen mit meinen Freunden spielte und es zu regnen begann. Jeder würde jetzt nach Hause gehen wollen und das Spiel wäre zu Ende gewesen, also sagte ich zu ihnen: »Wartet hier. Ich bin sofort zurück.« Während sich alle unter unserem Eingangsvordach zusammendrängten, lief ich um das Haus herum zu einer Seite, wo mich niemand sehen konnte. Dann blickte ich zum Himmel empor und sagte: »Bubba, könntest du bitte machen, dass es aufhört zu regnen?«

Und meistens hörte es dann tatsächlich auf zu regnen. Es sah so aus, als hätte meine Bubba mich keineswegs verlassen.

In Konflikt mit der Vorschule

Bald war es an der Zeit für mich, in den Kindergarten zu gehen. Von Anfang an, langweilte ich mich dort halb zu Tode. Den Großteil der Zeit verbrachte ich mit Tagträumen, allerdings nicht die typischen Fantasien eines kleinen Jungen – Ball spielen, ein Held sein, Monster bekämpfen. (Gut, manchmal bekämpfte ich einen riesigen Tornado oder zwei ..., aber macht das nicht jeder?) Oft stellte ich mir vor, dass ich das Orakel von Delphi sei. Ich wusste nicht wirklich, wer oder was das Orakel von Delphi war, doch ich sah mich selbst in einer weit entfernten Höhle sitzen und mich zu Ansammlungen von Menschen neigen, die weite Wege zurückgelegt hatten, um meinen Rat einzuholen.

Ich sann auch über Handlungen nach, von denen ich wusste, dass sie vollbracht werden könnten, wie zum Beispiel mit meinen Händen durch Wände hindurchzugehen. Ich war mir sicher, dass ich herausfinden könnte, wie man das macht, wenn ich mich bloß drei Tage lang in meinem Schlafzimmer einschließen könnte. Seltsamerweise war niemand gewillt, dies zuzulassen. Wahrscheinlich hatten sie es ausprobiert, als sie noch Kinder gewesen waren, und entschieden, dass es Zeitverschwendung sei.

Wenn die Erzieher schon meine Tagträume missbilligten, so missfiel ihnen meine fehlende Aufmerksamkeit sogar noch mehr. Häufig störte ich den Betrieb: Ich benahm mich schlecht und zog dadurch die Aufmerksamkeit auf mich, oder ich ignorierte sie und verlor mich in meiner eigenen Welt. Ehe mein erstes Jahr in der Vorschule vo-rüber war, hatte ich so oft in Schwierigkeiten gesteckt, dass meine Mutter schließlich weinend vor dem Direktor zusammenbrach.

»Wann wird dies jemals ein Ende haben?«, schluchzte sie und wiederholte unabsichtlich die Worte, die sie bei meiner Geburt verwendet hatte.

»Wenn er sich für irgendetwas interessiert«, erwiderte der Direktor.

»Wann wird das geschehen?«

»Das kann jederzeit geschehen.« Der Direktor hielt inne und lachte hilflos. »Bei meinem Sohn war das erst im College der Fall.«

Es war nicht so, dass ich keine Interessen gehabt hätte, sie lagen nur offensichtlich nicht in der Schule. Als mir mein Großvater eine Schachtel mit alten, kaputten Uhren zeigte, war ich fasziniert. Zu dieser Zeit (vor der digitalen Revolution) waren die Uhren knifflige Geheimnisse, die aus winzigen, aufeinander abgestimmten Teilen bestanden. Jedes Mal, wenn eine seiner Uhren kaputtging und die Werkstatt sie nicht mehr reparieren konnte, legte er sie in eine alte Zigarrenschachtel, wo bereits andere Uhren waren, die ein ähnliches Schicksal erlitten hatten. Eines Tages brachte er mir diese »Schatztruhe« mit kaputten Uhren. Keine der Uhren in der Schachtel funktionierte und selbstverständlich waren sie alle zu groß, um von mir getragen zu werden, doch das machte mir nichts aus. Ich wollte trotzdem mit ihnen spielen. Und das tat ich auch. Ich zog eine Uhr auf und sie begann zu ticken. Ich zog noch eine Uhr auf, sie begann zu ticken und hörte dann wieder auf. Eine dritte Uhr ließ sich nicht aufziehen, daher schüttelte ich sie ein wenig. Ich hielt sanft eine Uhr, die zu ticken begonnen und dann wieder aufgehört hatte. Sie begann wieder zu ticken und ging weiter. Ich hielt die Uhr, die ich geschüttelt hatte, und sie begann zu funktionieren. Bald »reparierte« ich die alten Uhren meiner Freunde. Ich schätze, das war in etwa das Gegenteil von dem Prinzip, wonach Uhren kaputtgehen, wenn sie von bestimmten Individuen getragen werden.

Aber für gewisse Leute war die Fähigkeit, Uhren zu reparieren, ohne sie aufzumachen, nicht so wichtig wie die Fähigkeit, innerhalb der vorgegebenen Linien zu malen und Gelerntes richtig aufzusagen. Meine akademischen Unzulänglichkeiten wurden als so ernst erachtet, dass, als ich in der zweiten oder dritten Klasse war, eine Sozialarbeiterin nach Hause kam, um das Umfeld zu überprüfen und festzustellen, warum ich in der Schule keinen Erfolg hatte. Kurz nach ihrer Ankunft fragte ich sie, ob sie mir das Wort »Unendlichkeit« erklären könne. Nervös stand sie plötzlich auf und lief aus dem Haus.

»Darüber werde ich mit dem Direktor sprechen müssen«, rief sie über ihre Schulter.

Falls sie das wirklich getan hat, so hat sie mir nie gesagt, was sie darüber erfahren hatte.

Diesmal gab es ein Ende

Es gab einen guten Grund, über Dinge mit einer unbegrenzten Natur nachzudenken, denn zu jener Zeit sollte ich noch einen weiteren Verlust erleiden: meine Hündin Silk – ein Dobermann-Pinscher –, die bereits bei meiner Geburt zwei Jahre alt war, die gnädig mein kindliches Verhalten ertrug, auch die Angewohnheit, ihre Unterlippe als Haltegriff zu benutzen, mit dem ich mich auf meine Füße ziehen konnte, um mich an ihr festzuhalten, als ich das Gehen lernte. Sie zuckte zwar vor Schmerz zusammen, doch sie hat nie nach mir geschnappt oder auch nur geknurrt. Irgendwie wusste sie, dass ich ein Kind war und dass ich ihre Liebe und ihren Schutz brauchte.

Ich liebte es, Dinge zu berühren, die sich kühl anfühlten, einschließlich Silks Ohren. Wenn sie neben meinem Bett schlief, legte ich meinen Arm auf die Seite und ergriff mit zwei meiner Finger sanft ihr kühles Ohr. Die Berührung erwärmte schließlich ihr Ohr (ein warmes Ohr wollte ich nicht), also wechselte ich zu ihrem anderen Ohr, und wenn dieses Ohr zu warm geworden war, ging ich wieder zum ersten Ohr. Wenn beide Ohren so warm waren, dass sie für mich nicht mehr interessant waren, ließ ich Silk hinaus, um sich wieder abzukühlen. Nach circa 10 Minuten erschien sie an der Vordertür mit einem Bellen – ihr Zeichen – und ich wusste, dass sie bereit war, wieder hereinzukommen und es noch einmal zu tun. Nach zwei vollständigen Durchgängen dieses Rituals sank ich in den Schlaf.

Als ich 10 Jahre alt war, war Silk 12 Jahre alt (was 84 Hundejahren entspricht) und ihre Gesundheit war angeschlagen. Meine Mutter und mein Vater hatten die Vereinbarung getroffen, dass sie Silk, wenn nichts mehr für sie getan werden konnte, nicht leiden lassen, sondern sie dann einschläfern lassen würden.

Dieses war Silks schwierigstes Jahr gewesen. Zeitweise konnte diese Hündin, die mir geholfen hatte, gehen zu lernen – obwohl sie es versuchte –, einfach nicht mehr aufstehen. Für einen Erwachsenen war dieser Anblick kaum zu ertragen, noch schwerer war dies für ein Kind. Es rüttelte meine ganze Welt durcheinander. Es war an der Zeit, sie zum Tierarzt zu bringen, und wir waren uns ziemlich sicher, dass dies der Besuch sein würde.

Es war kurz vor dem Erntedankfest. Wir beschlossen, einen oder zwei Tage zu warten bis nach den Ferien. Zum Erntedankfest gab meine Mutter Silk eine große Platte Truthahn mit Bratensoße und Kartoffelbrei. Silk, deren Kost aus sehr wenig »menschlicher« Nahrung bestand, zögerte. Mit einem etwas verwirrten Blick sah sie sich nach uns um, um ein zustimmendes Nicken zu erhalten, und beschloss dann, es nicht in Frage zu stellen, und nahm ihr letztes Mahl zu sich.

Am nächsten Tag brachten wir sie zum Tierarzt. Diesmal blieb meine Mutter zu Hause. Ich erinnerte mich daran, dass es für mich bei dem Verlust von Bubba kein wirkliches Ende gegeben hatte, und so bestand ich diesmal darauf, meinen Vater zu begleiten. Als wir im Wartezimmer mit den medizinischen Gerüchen und den Norman-Rockwell-Bildern von Hunden, die Karten spielen, saßen, kam mir alles so kalt vor. Mein Vater kam aus dem Sprechzimmer heraus und sagte mir, dass es so weit sei: Silk würde eingeschläfert werden. Ob ich dabei sein wolle? Ich folgte meinem Vater und dem Tierarzt, als sie mit Silk durch die alten Korridore und dann durch die Hintertür in einen Hof gingen. Ich sagte ihr Auf Wiedersehen und beobachtete, wie der Tierarzt ihr die Spritze gab. Nach nur wenigen Sekunden brach sie sanft am Boden in sich zusammen. Silk wurde anschließend hochgehoben und in eine Einäscherungsschale gelegt.

In dieser und in vielen darauffolgenden Nächten weinte ich wieder einmal um ein geliebtes Wesen. Diesmal hatte es jedoch ein Ende gegeben. Die Unendlichkeit schien nicht so weit weg zu sein und die Ewigkeit nicht so lang.

Schulzeit

Als ich vom Kindergarten, der Vorschule hinüber zur Grundschule gewechselt hatte, steigerte sich mein Selbstgefühl ständig ein wenig mehr. Ich langweilte mich immer noch schnell und verbrachte viel Zeit mit Tagträumen, aber bei einer seltenen Gelegenheit, als mir ein wahrlich inspirierender und zum Nachdenken anregender Lehrer zugeteilt wurde, übertraf ich alle Erwartungen. Unglücklicherweise waren solche Lehrer, damals genauso wie heute, eine Ausnahme und nicht die Regel.

Die Atmosphäre in meinem Elternhaus gestattete es mir, mich für mein Alter sehr gut zu entwickeln. Meine Eltern behandelten mich wie einen Erwachsenen: Sie redeten nicht von oben herab mit mir, sondern bezogen mich in ihre Gespräche und Entscheidungen mit ein und behandelten mich wie einen Menschen, dessen Meinung zählt.

Ich konnte es jeden Tag kaum erwarten, von der Schule nach Hause zu kommen. Es schien, dass ich daheim immer faszinierende Leute kennen lernte. Meine Eltern hatten eine Menge Freunde mit spannenden Hintergründen: Anthropologen, Psychologen, Künstler, Ärzte, Rechtsanwälte usw. (Und was das Ganze noch wunderbarer machte, war, dass diese vielfältige Gruppe zu einer Vielzahl leckerer Küchengerichte anregte, die mit köstlichem Geschmack und erlesenen Aromen einhergingen).

Und weil mein Zuhause so aufgeschlossen war und ich dadurch mit solch unterschiedlichen Menschen verkehren konnte, war es ganz natürlich, dass ich weiterhin mit einseitig diktatorischer Autorität ein Problem hatte – oder vielleicht sollte ich sagen, einseitig diktatorische Autoritäten würden weiterhin ein Problem mit mir haben.

Die Highschool-Verwaltung war sehr streng in Bezug auf die Pünktlichkeit der Schüler. Obwohl ich in Gehweite zum Campus wohnte, war ich fast jeden Morgen zu spät dran. Eine Minute hier, eine Minute dort – eigentlich keine große Sache, nur die Schulverwaltung sah das anders. Wenn die Schüler nach dem Läuten der Glocke erschienen, erwartete man von ihnen eine Entschuldigung für das Zuspätkommen.

Das Problem war, dass die Schule das Zuspätkommen der Schüler nur entschuldigen würde, wenn sie eine Mitteilung von zu Hause mitbrachten. Ich richtete mir alles so eng ein, dass ich niemals genau wusste, wann ich zu spät sein würde, und ich konnte keine Entschuldigung von zu Hause mitbringen, ohne noch einmal zurückzugehen, um meine Mutter darum zu bitten. Dementsprechend versäumte ich ständig den einleitenden Teil der ersten Schulstunde. Warum fiel es mir so schwer, einfach nur 15 Minuten früher von zuhause wegzugehen? Es ergab keinen Sinn – und es änderte sich auch nichts. Anscheinend hatte ich nicht denselben Zeitbegriff wie alle anderen. Ich dachte, dass ich um 7.50 Uhr in der Schule ankommen könnte, wenn ich das Haus um 8.01 Uhr verlassen und schnell genug gehen würde.

 

Schließlich fragte ich meine Mutter, ob es ihr etwas ausmache, wenn ich an solchen Vormittagen meine eigenen Entschuldigungen schreiben und sie wie erforderlich mit ihrem Namen unterzeichnen würde. In Anbetracht der Tatsache, dass ich andernfalls ein ganzes Schulfach versäumen würde, indem ich jeden Morgen hin- und zurücklief, willigte sie zögernd ein.

Eines Tages bemerkte ein Aufsichtslehrer der Schule, dass ich mir meine eigene Entschuldigung ausstellte. Er war ein selbst ernannter Ex-Soldaten-Typ, dessen Sohn das Kind von einem Reklameplakat für Verhaltensstörungen hätte sein können (das gibt Ihnen zu denken oder?) Er zeigte auf die Mitteilung, die ich schrieb, und knurrte mit empörter Selbstgefälligkeit: »Was machst du da?«

»Ich schreibe mir selbst eine Entschuldigung«, erwiderte ich gelassen.

»Du wirst nachsitzen, weil du die Unterschrift deiner Mutter gefälscht hast.«

»Nein, das werde ich nicht. Fälschung heißt, etwas ohne das Wissen des anderen oder ohne Genehmigung zu tun. Und ich habe beides.«

Antworten dieser Art machten mich bei meinen Lehrern nicht gerade beliebt. »Wie ist dein Name?«, fragte der Erzieher.

»Eric Pearl.« Ich stand da, sammelte meine Sachen zusammen und sah dem Mann in die Augen. »P-E-A-R-L.« Dann drehte ich mich um und ging in meine Unterrichtsstunde.

Und inmitten dieser Ereignisse – dieser Lektionen – schritt mein junges Leben weiter voran. Mein Vater war gemeinsam mit seinem Bruder und seinem Vater Teilhaber und Unternehmer in einer Firma für Verkaufsautomaten. Außerdem war er ehrenamtlicher Polizist. Meine Mutter war zu Hause und zog uns drei Kinder groß. Sie arbeitete auch zeitweise als Fotomodell und leitete Modenschauen. Spätestens um 7.00 Uhr morgens verließ Vater das Haus, und um diese Zeit schob uns meine Mutter bereits das Essen hinein wie eine Vogelmutter, die ihre Jungen fütterte. Niemand ging hinaus, ohne ein gutes Frühstück gegessen und eine vorbereitete Lunchbox bekommen zu haben – »alle vier Nahrungsmittelgruppen« (zu dieser Zeit war das ein Dogma, von dem Eltern überzeugt waren). Mit 13 Jahren feierte ich Bar Mitzvah (die Aufnahme in die jüdische Kultgemeinschaft). Manchmal ging ich sonntags mit meinen Freunden in die Kirche.

Kindergarten, Grundschule, Mittelschule, Oberschule: neue Freunde, Prüfungen, Schülerbälle, der Erhalt meines Führerscheins, Standardtests für die Zulassung zum Studium und schließlich Abschlussprüfung und College ...