Reconnection

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Die Reise

Was sich hier in die Lüfte erhob, war nicht der Körper meiner Mutter. Es war das, was sie sich nur als ihre Seele vorstellen konnte. Sie wurde nach oben gezogen, strebte zielbewusst auf irgendetwas zu. Sie schaute nicht zurück. Sie war sich ihrer physischen Umgebung nicht mehr bewusst, und doch wusste sie, dass sie den Kreißsaal und seine Motoren längst hinter sich gelassen hatte. Sie stieg weiter empor und bewegte sich nach oben. Dass sie hierbei keine bewusste Kenntnis vom Leben nach dem Tod hatte oder von irgendwelchen »spirituellen Dingen«, war eher unbedeutend und spielte keine Rolle. Es ist kein geistiges Hintergrundwissen dafür nötig, zu erkennen, wenn die Innerste Essenz deinen Körper verlässt und aufzusteigen beginnt. Dafür kann es nur eine Erklärung geben.

Die letzte Erkenntnis, die meine Mutter auf dem Entbindungs-

tisch hatte, war, dass es ihr nichts mehr ausmachte, alles, was ihr vertraut war, zurückzulassen. Das erstaunte sie zunächst. Sobald sie jedoch aufgehört hatte, zu kämpfen, und »losließ«, begann ihre Reise. Das Erste, was sie überkam, war ein Gefühl von alles durchdringendem Frieden, von Ruhe und der Abwesenheit sämtlicher weltlichen Verantwortungen. Keine Besorgnis erregenden Einzelheiten des täglichen Lebens, die sie herunterzogen und in denen sie sich verzettelte. Keine Termine, die sie einhalten musste, keine alltäglichen Aufgaben, die sie erfüllen musste, keine Erwartungen, denen sie gerecht werden musste, keine Grenzen, die sie setzen musste. Keine Angst mehr vor dem Unbekannten. Eines nach dem anderen schmolz dahin ... was für eine Befreiung das war ... was für eine große Befreiung. Als dies geschah, überkam sie ein leichteres Gefühl und sie wurde sich der Tatsache bewusst, dass sie schwebte. Durch das Hinwegschwinden all ihrer weltlichen Verantwortung fühlte sie sich so leicht, dass sie sich weiter erhob zu einer noch höheren Ebene. Und nun begann der Aufstieg meiner Mutter, bei dem sie nur stehen blieb, um Wissen der einen oder anderen Art aufzunehmen.

Sie stieg durch eine Aufeinanderfolge verschiedener Ebenen empor – sie kann sich nicht an einen deutlichen »Tunnel« erinnern, von dem manche, die Ähnliches erlebt haben, berichteten. Woran sie sich jedoch erinnerte, war, dass sie auf ihrem Weg »Anderen« begegnete. Diese waren mehr als nur »Menschen«. Sie waren »Wesenheiten«, »Geistwesen«, »Seelen« von jenen, deren Zeit auf Erden zu Ende gegangen war. Diese »Seelen« sprachen mit ihr, obwohl sprechen wohl nicht die treffendste Bezeichnung ist. Es war eine wortlose Kommunikation, eine Art der Gedankenübertragung, die keinen Zweifel an dem ließ, was übermittelt wurde. Zweifel existierten hier nicht.

Meine Mutter erfuhr, dass die verbale Sprache, wie wir sie kennen, nicht so sehr eine Hilfe für die Kommunikation ist, sondern eher ein Kommunikationshindernis. Sie ist eine jener Hürden, die uns als Teil unserer Lernerfahrung, die wir hier auf Erden zu meistern haben, gegeben wurden. Sie ist auch ein Teil von dem, was uns in einem begrenzten Spielraum von Verständnismöglichkeiten hält, in dem wir, um die Meisterschaft über unsere anderen Lebenslektionen zu erreichen, unsere Aufgaben zu erfüllen haben.

Die Seele – der »innerste Kern« eines Menschen – ist das Einzige, was überlebt und was wichtig ist, das war die Erkenntnis meiner Mutter. Die Seelen zeigen ihre Wesensart klar und deutlich. Es gab keine Gesichter, keine Körper und nichts, hinter dem man sich verstecken konnte, und dennoch erkannte sie jeden genau als den, der er war. Die physische Fassade war nicht mehr länger ein Teil von ihnen. Sie war zurückgelassen worden, als Erinnerung an die Rolle, die sie einst im Leben ihrer geliebten Menschen gespielt hatte, zurückgelassen als etwas, das in Erinnerung behalten und verehrt werden konnte. Das Zeugnis von der Wahrheit ihres einstigen körperlichen Wesens war das Einzige, was hier auf Erden bestehen bleibt. Ihre wahre Essenz war weitergegangen.

Meine Mutter erfuhr, wie unbedeutend unser äußeres Erscheinungsbild und unsere körperlichen Eigenheiten in Wirklichkeit sind und wie oberflächlich unsere Verhaftung an den Wert hieran ist. Ihre Lektion, die sie auf dieser Ebene zu lernen hatte, war, die Menschen weder nach ihrem Aussehen – einschließlich der Rasse oder Farbe – noch nach ihrem Glaubensbekenntnis oder ihrem Bildungsstand zu bewerten. Der Sinn bestand darin, zu entdecken, wer sie wirklich sind, das zu sehen, was sich in ihrem Inneren befindet, sich über das Äußere hinwegzusetzen und ihre wirkliche Identität wahrzunehmen. Und obwohl dies eine Lektion war, die sie bereits hier kannte, war die Erleuchtung, die sie drüben erlangte, unendlich komplexer, unendlich weitreichender.

Es war unmöglich, die Dauer der Zeit zu beurteilen. Meine Mutter wusste, dass sie sich dort lange genug aufhielt, um durch alle Ebenen hindurch aufzusteigen. Sie wusste auch, dass auf jeder Ebene eine andere Lektion gelehrt wurde.

Die erste Ebene war die der erdgebundenen Seelen – jener, die noch nicht bereit gewesen waren, zu gehen. Es sind solche Seelen, denen es schwerfällt, sich von dem Vertrauten zu trennen. Es handelt sich bei ihnen für gewöhnlich um Geistwesen, die in sich das Gefühl tragen, sich noch um ein paar unerledigte Geschäfte kümmern zu müssen. Sie haben möglicherweise kranke oder behinderte geliebte Menschen zurückgelassen, für deren Betreuung sie verantwortlich waren (und die sie nur ungern verließen), und sie verweilen auf dieser Ebene, bis sie den Eindruck gewinnen, dass sie sich von ihren irdischen Bindungen lösen können. Oder sie starben vielleicht eines plötzlichen oder gewaltsamen Todes, der ihnen weder die Zeit ließ zu verstehen, dass sie gestorben waren, noch sie erkennen ließ, welchen Prozess sie durchzumachen haben, um den Weg des Aufstiegs zu gehen. Auf die eine oder andere Weise spüren sie noch eine starke Verbundenheit mit den Lebenden und sind einfach noch nicht bereit, loszulassen. Bis sie zu der Erkenntnis kommen, dass sie auf dieser Ebene nicht mehr dienen können, dass sie nicht mehr hierher gehören und dass sie nicht mehr länger Teil dieser Dimension sind, so lange werden sie auf der ersten Ebene bleiben – auf der Ebene, die ihrem früheren Leben am nächsten ist.

Meine Mutter erinnert sich irgendwie nur sehr ungenau an die zweite Ebene, jedoch sind ihre Erinnerungen an die dritte Ebene ziemlich lebhaft.

Sie erinnert sich, dass sie ein Gefühl der Schwere erlebte, während sie zu ihrer dritten Ebene aufstieg. Sie spürte eine Traurigkeit, als sie erkannte, dass dies die Ebene jener Menschen war, die sich selber das Leben genommen hatten. Diese Seelen waren wie in einem Gefängnis. Sie waren scheinbar wie in Isolation und bewegten sich weder nach oben noch nach unten. Sie waren orientierungslos. Ihre Gegenwart hatte etwas Zielloses an sich. Würde es ihnen eines Tages möglich sein, aufzusteigen, um ihre Lernerfahrungen zu beenden und um in ihrer Entwicklung voranzuschreiten? Meine Mutter hätte es nicht verstehen können, wenn es nicht so wäre. Vielleicht würde es bei ihnen nur länger dauern, doch sie fühlte, dass dies eine reine Vermutung von ihr war. Hier gab es für meine Mutter keine Antwort, die sie mit zurückbringen konnte.

Was auch immer der Fall war, diese Seelen befanden sich nicht in einem Ruhezustand – und es war unerfreulich, diese Ebene zu erleben, nicht nur für diejenigen, die dort ihre Zeit verbrachten, sondern auch für diejenigen, die dort nur hindurchgingen. Die Lektion aus dieser dritten Ebene war unvergesslich und klar: Wer sich selbst das Leben nimmt, unterbricht den Plan Gottes.

Zusätzliche Lektionen

Es gab noch weitere Lehren, die meine Mutter mit zurückbringen konnte. Es wurde ihr gezeigt, wie sinnlos es war, um die Verstorbenen zu trauern. Wenn es eine Trauer gab, welche die Geistwesen der Verstorbenen verspürten, so war dies der Schmerz derer, die zurückblieben. Sie wollen, dass wir uns an ihrem Fortgehen erfreuen, dass wir »sie mit Trompeten nach Hause begleiten«, denn wenn wir sterben, sind wir genau dort, wo wir sein möchten. Unsere Trauer gilt unserem Verlust, dem Verlust des Platzes, den dieser Mensch in unserem Leben einst eingenommen hat. Seine Existenz, ob sie als angenehm oder als unangenehm empfunden wurde, war Teil unseres eigenen Lernprozesses. Wenn dieser Mensch stirbt, verlieren wir die »Quelle« dieser Lernerfahrung. So bleibt zu hoffen, dass wir alles gelernt haben, was es für uns zu lernen gab, oder dass wir es noch lernen, wenn wir über sein Leben, das mit dem unseren verbunden war, nachdenken. Meine Mutter wusste, dass der Zeitabschnitt – von dem Zeitpunkt, als wir den Himmel verließen, um unser Leben hier auf Erden zu durchlaufen, bis zu dem Zeitpunkt, wenn wir zurückkehren – im Bewusstsein der Ewigkeit nur wie ein Fingerschnipsen ist und dass wir alle nur für »eine Weile« zusammen sein werden. Dies ist der Augenblick, in dem wir erkennen, dass alles so ist, wie es vorgesehen war.

Meiner Mutter wurde auch gezeigt, dass die Dinge, die den Menschen hier auf Erden widerfahren, ganz gleich, wie schrecklich oder unfair sie aussehen mögen, nicht Gottes Schuld sind. Wenn unschuldige Kinder umgebracht werden, gute Menschen nach einer langwierigen Krankheit sterben oder jemand verletzt oder entstellt wird, so hat dies nichts mit Schuld zu tun. Hierbei handelt es sich vielmehr um unsere Lerneinheiten, Erfahrungen, die wir zu lernen haben – die Lernerfahrungen in unserem göttlichen Plan – und wir haben eingewilligt, durch sie hindurchzugehen. Es sind Lektionen, die unserer Entwicklung dienen – sowohl für die Gebenden als auch für die Empfangenden.

Im größeren Bild betrachtet unterliegen diese Vorkommnisse der Leitung und Kontrolle des Menschen, der sie erlebt. Die Handlung oder die Umsetzung der Handlung ist nichts weiter als unsere Inszenierung der Ereignisse. Nachdem meine Mutter dies verstanden hatte, konnte sie sehen und begreifen, wie unangemessen es ist, sich zu fragen, wie Gott solche Dinge zulassen könne, oder sich aufgrund solcher Ereignisse grundsätzlich die Frage zu stellen, ob Gott überhaupt existiert. Meine Mutter verstand jetzt, dass es für alles eine vollkommen logische Erklärung gibt. Diese war so vollkommen, dass sie sich wunderte, warum sie es nicht schon seit jeher gewusst hatte. Und irgendwie begriff sie, als sie das gesamte Bild sah, dass alles – alles – so ist, wie es sein soll.

 

Meine Mutter verstand auch, dass der Krieg ein vorübergehender Zustand der Grausamkeit ist – eine unwissende und unangebrachte Art und Weise, Meinungsverschiedenheiten beizulegen, und sie erkannte, dass es ihn eines Tages nicht mehr geben würde. Die Seelen halten die menschliche Kriegssucht nicht nur für primitiv, sondern auch für geradezu lächerlich – junge Männer werden hinausgesandt, damit sie die Kämpfe der alten Männer um die Eroberung eines Landes führen. Eines Tages wird die Menschheit auf dieses ganze Konzept zurückblicken und sich fragen: Warum? Wenn es genügend entwickelte Seelen mit einer riesigen Intelligenz zur Problemlösung gibt, werden all die Kriege ein Ende haben.

Meine Mutter fand sogar heraus, warum Menschen, die allem Anschein nach »schreckliche« Dinge im Leben getan hatten, dort ohne Verurteilung aufgenommen werden. Ihre Handlungen wurden zu Lernerfahrungen, aus denen sie etwas lernend erfahren konnten und durch die sie zu vollkommeneren Wesen werden sollten/wollten. Sie sollten/wollten sich von den Ebenen aus, die sie wählten, weiterentwickeln. Selbstverständlich würden sie immer wieder und wieder auf die Erde zurückkehren, so lange, bis sie sich das Wissen zu Eigen gemacht hätten, das sich aus den tief gehenden Konsequenzen ihres Verhaltens ableitete. Sie würden so lange durch den Zyklus von Geburt und Wiedergeburt hindurchgehen, wie es für sie dauern würde, sich zu entwickeln, um endlich nach Hause zurückkehren zu können.

Als die Lektionen zu Ende waren, stieg meine Mutter zur höchsten Ebene auf. Dort angekommen, stieg sie nicht mehr weiter aufwärts, sondern sie begann, mühelos nach vorne zu gleiten, wobei sie ständig und zielgerichtet zu einer Art Kraft hingezogen wurde. Die schönsten Farben und Formen wirbelten auf beiden Seiten vorbei. Sie waren wie Landschaften ..., nur gab es dort kein Land. Irgendwie wusste sie, dass dies Blumen und Bäume waren, und doch glichen sie in keiner Weise den Dingen hier auf Erden. Diese einzigartigen, unbeschreiblichen Farbtöne und Formen, die in der Welt, die sie zurückgelassen hatte, nicht existierten, erfüllten sie mit Staunen und Verwunderung.

Allmählich wurde sich meine Mutter bewusst, dass sie über eine Art Straße hinwegglitt, durch eine Gasse, die auf beiden Seiten von vertrauten Seelen gesäumt wurde – Freunde, Verwandte und Menschen, die sie schon aus vielen Leben kannte. Sie waren gekommen, um sie in Empfang zu nehmen, um sie zu führen und wissen zu lassen, dass alles in Ordnung war. Es war ein unbeschreibliches Gefühl von Frieden und Glückseligkeit.

Am fernen Ende der Straße sah meine Mutter ein Licht. Es ähnelte der Sonne und war so hell, dass sie Angst hatte, es könne ihre Augen verbrennen. Doch die Schönheit dieses Lichtes war wie betäubend. Sie konnte ihren Blick nicht davon abwenden. Erstaunlicherweise tat das Licht ihren Augen nicht weh, auch nicht, als sie näher darauf zuging. Das außergewöhnliche Leuchten des Lichtes schien ihr vertraut zu sein – irgendwie wohltuend. Sie fühlte sich von der Ausstrahlung dieses Lichtes eingehüllt und sie wusste, dass das Licht viel mehr war als nur ein Ausstrahlen: Es war der innerste Kern des Allerhöchsten Wesens. Sie hatte die Ebene des allwissenden, alles ausfüllenden Lichtes, das alles akzeptiert und alles liebt, erreicht. Meine Mutter wusste, dass sie zuhause war. Hierhin gehörte sie. Von hier war sie gekommen.

Dann sprach das Licht ohne Worte mit ihr. Mit einem oder zwei wortlosen Gedanken übermittelte es ihr genügend Informationen, um ganze Bände füllen zu können. Es breitete ihr Leben – dieses Leben – in Bildern vor ihr aus. Es war wundervoll, all dies zu sehen; nahezu alles, was sie je gesagt oder getan hatte, wurde deutlich vor ihr ausgebreitet. Sie konnte tatsächlich den Schmerz und die Freude sehen, die sie anderen bereitet hatte. Bei diesem Vorgang erhielt sie ihre Lektionen – ohne jegliche Verurteilung. Obwohl es keine Bewertung gab, wusste sie, dass es ein gutes Leben gewesen war.

Nach einer Weile wurde meine Mutter davon in Kenntnis gesetzt, dass sie wieder zurückgesandt werden sollte. Doch sie wollte nicht gehen. Obwohl sie zuerst so gegen das Sterben gekämpft hatte, wollte sie jetzt überhaupt nicht mehr von hier weggehen. Sie war mit sich in einem so wunderbaren Frieden – und hatte sich in ihrer neuen Umgebung, mit ihrem neuen Verständnis und mit ihren neuen Freunden eingelebt. Sie wollte für die Ewigkeit hier bleiben. Wie konnte jemand von ihr erwarten, dass sie von hier fortgehen würde?

Als Antwort auf diese stillen, flehentlichen Bitten wurde meiner Mutter verständlich gemacht, dass sie ihre Aufgabe unten auf Erden noch nicht zu Ende gebracht hatte. Sie musste zurückkehren, um ihr Kind großzuziehen. Einer der Gründe, warum sie hierher gebracht worden war, war der, besondere Einsichten darin zu gewinnen, wie sie dies tun konnte!

Plötzlich spürte meine Mutter, wie sie aus dem Kern des Lichtes hinausgezogen wurde ..., zurück auf den Weg, auf dem sie zuvor unterwegs gewesen war. Doch nun ging sie in die entgegengesetzte Richtung und sie wusste, dass sie wieder in ihr Leben auf der Erde zurückkehrte. Sie verspürte eine tiefe Sehnsucht und eine Traurigkeit, als sie die vertrauten Seelen, die Farben und Formen und das Licht verließ.

Als meine Mutter aus dem Licht zurücktrat, begann ihr Wissen zu entschwinden, und sie wusste zugleich, dass sie programmiert worden war, es zu vergessen; sie sollte sich nicht daran erinnern. Sie versuchte verzweifelt, sich an das zu klammern, was noch übrig war, und sie war sich darüber im Klaren, dass dies ganz sicher kein Traum war. Sie strengte sich an, die Erinnerungen und Eindrücke zu behalten, doch viele von ihnen waren schon verschwunden, und sie erlebte ein schreckliches Gefühl des Verlustes. Zugleich fühlte sie einen inneren Frieden, der jetzt von dem Wissen durchdrungen war, dass, wenn ihre Zeit kommen würde, sie wieder nach Hause zurückkehren und dort in Liebe empfangen würde. Hieran würde sie sich ganz genau erinnern, das wusste sie. Sie hatte keine Angst mehr vor dem Tod.

In diesem Augenblick vernahm meine Mutter aus der Ferne das Geräusch von Motoren. Diesmal begannen sie am oberen Ende ihres Kopfes und arbeiteten sich von hier aus nach unten. Durch das Dröhnen hindurch begann sie Stimmen zu hören – menschliche Stimmen – und dann das Schlagen ihres eigenen Herzens.

Sie bemerkte, dass die meisten Schmerzen nun verschwunden waren.

Die Motoren bewegten sich nach unten, nach unten, nach unten ... und die Lautstärke des Dröhnens ließ nach. Bald war von den Motoren nur noch ein Kribbeln in ihren Fußsohlen übrig. Und dann nicht einmal mehr das. Es war vorbei. Sie war zu dem zurückgekehrt, was die Menschen für die »reale« Welt halten.

Eine sehr erleichtert aussehende Ärztin beugte sich über sie und lächelte: »Meinen Glückwunsch, Lois«, sagte sie, »Sie haben einen gesunden, hübschen Jungen zur Welt gebracht«.

Die Bedeutung von all dem

Sie hatten mich meiner Mutter noch nicht gezeigt. Zuerst mussten sie mich waschen, wiegen und meine Zehen zählen. Und dann ging es ab in Richtung ihres Krankenzimmers. Als sie meine Mutter in den Gang schoben, wurde sie plötzlich von der ganzen Bedeutung dessen, was sie erfahren und aufgenommen hatte, überwältigt. Intuitiv war sie sich darüber im Klaren, dass bereits viele der Einsichten, die ihr noch vor wenigen Augenblicken gewährt worden waren, in Vergessenheit versunken waren: Warum der Himmel blau ist, warum das Gras grün ist, warum die Welt rund ist und wie die Schöpfung entstand – die vollkommene Logik von allem. Doch sie wusste mit Sicherheit, dass es ein höchstes Wesen gibt. Es gibt einen Gott.

Sie brachte mit unmissverständlicher Klarheit eine weitere Erkenntnis mit: »Wir werden hierher gebracht, um Lektionen zu lernen, die uns zu vollkommeneren Wesen werden lassen. Wir haben den Plan auf dieser Ebene zu verwirklichen, bevor wir bereit sind, auf eine andere Ebene weiterzugehen. Dies ist der Grund dafür, dass manche Menschen alte Seelen sind und andere noch junge.«

Heute können wir in metaphysischen Büchern eine Menge Informationen zu diesem Thema finden, doch damals gab es das noch nicht. Die Buchgeschäfte führten zu jener Zeit noch keine New Age – und Esoterik-Abteilungen und diese Lehren wurden ganz gewiss nicht als Teil unserer grundlegenden religiösen Traditionen unterrichtet. Meine Mutter hatte keine Freunde, die über diese Dinge sprachen, und sie war auch nicht ins Krankenhaus gegangen, um Erleuchtung zu erlangen – sie wollte einfach nur einen Widerstand leistenden Ungeborenen aus ihrem Körper herausbringen, bevor die Schmerzen sie in den Wahnsinn trieben!

Es gab allerdings keinen Zweifel daran, dass sie sich verändert hatte. Sie konnte es spüren – und sie wusste, dass diese Veränderung ironischerweise zum Teil das Ergebnis dessen war, dass sie die Erinnerungen an so viele Lektionen zurücklassen musste. Ihr ganzes Leben lang hatte sie an Zwängen gelitten und war eine Perfektionistin gewesen. Und nun, da sie sich danach sehnte, jedes einzelne der ihr beigebrachten Prinzipien zum Ausdruck zu bringen, entdeckte sie, dass sie sich an die meisten nicht mehr erinnern konnte. Wie kannst du etwas, woran du dich nicht mehr erinnerst, anwenden?

Daher beschloss meine Mutter, dass es Zeit war, schonender mit sich selber umzugehen – und auch mit den anderen. Das heißt, sie würde es auch einmal zulassen, dass im Inneren des Hauses ein paar Staubkörnchen liegen, und würde es sich nicht mehr erlauben, auf Urlaubsreisen ein Fläschchen Lysol zum Abwischen der Innenseiten von Hoteltoiletten mitzunehmen, und sie würde beginnen, die Dinge so anzunehmen, wie sie sind.

Als ihr Bett über den Korridor gerollt wurde, tauchte mein Vater an der Seite meiner Mutter auf und hielt mit ihr Schritt. Sie deutete ihrem Mann an, dass er sich näher über sie beugen solle. »Wenn wir wieder im Zimmer sind«, flüsterte sie, »muss ich dir etwas erzählen, von dem gewollt ist, dass ich es vergessen soll.«

Als sie dann, mit Ausnahme von ein paar Frauen in den benachbarten Krankenbetten, alleine im Zimmer waren, flüsterte meine Mutter: »Erzähle das, was ich dir sagen werde, niemandem weiter, Sonny. Die Leute werden mich für verrückt halten.«

»Nein, ich werde dich nicht für verrückt halten.«

Sie fuhr fort und beschrieb alles, woran sie sich noch erinnern konnte, und versuchte dabei, die paar Sandkörner zu retten, die an ihren Fingern haften geblieben waren. Mein Vater hörte still zu, und sie war sich sicher, dass er an keinem einzigen Wort, das sie sagte, zweifelte. Er wusste, dass sie nie und nimmer eine so verrückte Geschichte erfinden würde.

Als sie fertig war, schlief sie vor Erschöpfung beinahe ein. Sie drängte meinen Vater, nach Hause zu gehen und sobald wie möglich alles aufzuschreiben. Diese Informationen waren zu kostbar, um verloren zu gehen. Er stimmte ihr zu.

Als sie wieder erwachte, ertappte sie sich dabei, wie sie die Frau im nächsten Bett betrachtete. Meine Mutter erkannte sie noch vom Vortag. Ihr erster Gedanke war Oh je, ist die hässlich! Doch dann sagte sie sich: »Moment mal. Du hast soeben die Erkenntnis gehabt, dass das Aussehen einer Person nicht wichtig ist.« Die Ironie an dieser Situation brachte sie zum Lachen.

»Als Sie nach der Geburt des Kindes zurückgekommen sind, haben Sie die ganze Nacht geredet«, erzählte ihre Zimmergenossin.

»Wirklich?«

»Sie haben die Heilige Schrift rezitiert.«

»Was habe ich gesagt?«

»Ich weiß nicht. Sie haben in einer fremden Sprache gesprochen.«

In einer fremden Sprache gesprochen? Meine Mutter sprach keine fremden oder alten Sprachen; im Übrigen konnte sie nichts anderes als den 23. Psalm rezitieren – und das nur in ihrer eigenen Sprache, auf Englisch.

Sie lehnte sich in ihrem Bett zurück. So viele Fragen. Falls sie irgendwelche Zweifel darüber hatte, was am Tag zuvor mit ihr geschehen war, so waren ihr diese nicht bewusst gewesen. Irgendetwas sehr Ungewöhnliches hatte sich in diesem Kreißsaal ereignet. Sie wusste, dass es kein Traum gewesen war, und sei es nur deswegen, weil man sich durch die Träume nicht verändert, zumindest nicht in einer so grundlegenden Weise. Wie ist es möglich, aus lauter Angst vor dem Tod in einen Traum zu fallen und furchtlos aus diesem Traum aufzuwachen, sich tatsächlich sogar wohl zu fühlen – und zu wissen, dass man sich jetzt immer so fühlen würde?!

 

Meine Mutter wollte ihre Erfahrung noch tiefer ergründen. Insbesondere wollte sie ganz genau wissen, was sich im Entbindungssaal mit ihrem Körper zugetragen hatte, während ihr Bewusstsein fort war, um mit Wesenheiten aus reinem Licht Zwiesprache zu halten.

Bald stellte sie fest, dass es nicht so einfach sein würde, dies herauszufinden.

Als meine Mutter die Ärztin fragte, ob sich irgendetwas »Seltsames« im Kreißsaal zugetragen hatte, wurde ihr gesagt: »Nein, es war eine normale Entbindung.« Der Ärztin zufolge war die einzige Komplikation – die noch dazu eher unbedeutend war –, die Notwendigkeit gewesen, Zangen zu verwenden, um das Baby in die richtige Geburtsstellung zu bringen – dies war zu jener Zeit eine sehr weit verbreitete Methode.

Das Gesetz des Schweigens

Eine normale Entbindung?

Dies konnte nicht der Wahrheit entsprechen. Der Ausdruck »normale Entbindung« stimmte nicht mit dem »Wir verlieren sie« überein.

Als Nächstes befragte meine Mutter die examinierten Krankenschwestern, die mit ihr im Kreißsaal oder im Entbindungsraum gearbeitet hatten, doch keine von ihnen wollte sich daran erinnern, dass meine Mutter in einer fremden Sprache gesprochen hatte, und sie wollten auch keinerlei andere Probleme eingestehen.

»Alles verlief einfach wunderbar«, wurde ihr gesagt.

Wenn die Ärzte und examinierten Krankenschwestern die Einzigen gewesen wären, die bei dem Geburtsvorgang anwesend waren, hätte die Sache wahrscheinlich hier ein Ende gehabt. Doch schließlich erinnerte sich meine Mutter noch an eine Hilfsschwester, die ebenfalls während meiner Entbindung mit im Operationssaal anwesend gewesen war. Die Hilfsschwestern arbeiteten wie im »Schützengraben«. Sie gingen ihrer Aufgabe ruhig, effizient und ohne großes Aufhebens nach. Sie werden oft nicht bemerkt und werden fast immer unterschätzt. Hilfsschwestern hatten nicht viele Gründe, die Wahrheit zu verheimlichen, wenn etwas schiefgegangen war.

Also konfrontierte meine Mutter die Hilfsschwester mit der Feststellung: »Ich weiß, dass mir in diesem Operationssaal etwas widerfahren ist.«

Nach einer längeren Pause zuckte die Hilfsschwester mit den Achseln und meinte: »Ich kann nicht darüber reden, alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass Sie ... Glück ... gehabt haben.«

Wir verlieren sie?

Sie haben Glück gehabt?

Dies reichte meiner Mutter als Bestätigung für das, was sie bereits wusste. An diesem Tag im Kreißsaal war ihr etwas Besonderes widerfahren, etwas, das weit mehr war als die Freude, mich Kleinen ohne die Wohltat einer Narkose in die Welt zu pressen. Die Ärzte hatten sie tatsächlich verloren. Sie war gestorben – und zurückgekehrt. In der Tat hielt sie das, was mit ihr geschehen war, nicht für ein »Nahtod«-Erlebnis, sondern für eine »Leben-nach-dem-Tod«-Erfahrung. »Nahtod« ist ein verwässerter Ausdruck. Meine Mutter war nicht dem Tode nahe gewesen. Sie war gestorben. Und so ähnlich wie andere Menschen, die gestorben und zurückgekehrt sind, ist sie als ein anderer Mensch zurückgekommen. Sie verstand nun, dass das, was auch immer in ihr Leben eintrat, ob »gut« oder »schlecht«, genau dem entsprach, was ihre Seele zu dieser Zeit brauchte, um sich weiterzuentwickeln. »Man kommt zurück ..., bis man es richtig macht.« Das ist ein Teil der Entwicklung.

Diese Lektion stellte sich als absolut passend und angemessen heraus. Sie hatte mich soeben zur Welt gebracht, und in ihren Augen war ich von dem Moment meiner Geburt an jenseits des Gewöhnlichen gewesen.

Handelte es sich hier um die typische Übertreibung einer Mutter? Vielleicht schon, abgesehen davon, dass meine Mutter darauf besteht, dass sie von dem Moment an, als ihre Augen am Tage nach der Geburt zum allerersten Mal auf mir ruhten, ein paar Beweise dafür gesehen hat, dass ich ungewöhnlich war. Ich war das einzige Neugeborene im Säuglingssaal, und als sie mit einer Flasche Babymilch in der Hand hereinkam, näherte sie sich meinem Babykorb und spähte hinein. Ich lag auf dem Bauch und war wach. »Hallo, kleiner Neuankömmling«, begrüßte sie mich. »Wir beide, du und ich, gegen den Rest der Welt. Du und ich.«

Als ich ihre Stimme hörte, erhob ich mich, auf meine Unterarme gestützt, hob meinen Kopf und drehte mich langsam nach links und dann allmählich wieder nach rechts, als wollte ich meine neue Umgebung erfassen. Meine Mutter betrachtete diesen Anblick voller Erstaunen. Konnte das möglich sein? Ihr war immer gesagt worden, dass die Halsmuskeln eines Neugeborenen viel zu schwach seien, um so etwas zu tun.

Meine Mutter wollte gerade die Flasche auf dem nahen Tisch ab-stellen, doch sie zögerte. Wer weiß, welche Keime sich möglicherweise auf der Tischoberfläche befanden? Sie konnte sich bildhaft vorstellen, wie diese an der Außenseite des Fläschchens emporschwärmten und durch die Öffnung des Saugers hindurchdrangen, um die Babymilch zu verunreinigen. Aber hatte sie nicht gerade gelernt, dass sie einige dieser belanglosen Zwangsvorstellungen, die sie einst verzehrt hatten, ignorieren sollte – und dass es für alles einen Grund und einen Ausgleich gab?

Beinahe. Meine Mutter ging einen Kompromiss ein, indem sie ein Taschentuch zusammenfaltete und es zwischen die Flasche und die Tischoberfläche legte, dann beugte sie sich herab, um mich hochzuheben. Sie hat sich, wie sie erzählte, in genau dem Moment, als sie mich sah, in mich verliebt.

Als später die Ärztin hereinkam, um mich zu untersuchen, erzählte ihr meine Mutter, dass ich meinen Kopf hochgehoben hätte. Die Ärztin sagte mit Bestimmtheit: »Das können die Säuglinge noch nicht.« Dann ging sie in den Säuglingssaal, wo ich untersucht werden sollte.

Eine Sekunde später hörte meine Mutter die Stimme der Ärztin aus dem Säuglingssaal, dem Raum nebenan. »Oh, ts, ts, ts!«, sagte die Ärztin, und ihre Stimme hörte sich fast wie ein Schimpfen an. »Von dir wird noch nicht erwartet, dass du das tust!«

In diesem Augenblick war sich meine Mutter sicher, dass hier etwas Außergewöhnliches am Werk war.