Wie Schneeflocken im Wind

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Wie Schneeflocken im Wind
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DENISE HUNTER


Aus dem Amerikanischen von Antje Balters


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-916-0

© 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

First published under the title „Falling like snowflakes“

© 2015 by Denise Hunter

Published by arrangement with Thomas Nelson, a division of HarperCollins Christian

Publishing, Inc.

Titelfoto: fotolia yanlev

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

www.brendow-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreissig

Einunddreissig

Zweiunddreissig

Dreiunddreissig

Vierunddreissig

Fünfunddreissig

Sechsunddreissig

Siebenunddreissig

Achtunddreissig

Neununddreissig

Vierzig

Einundvierzig

Epilog


EINS

Schon erstaunlich, wie viel Mut man als Mutter aufbringen kann, wenn es um das Leben des eigenen Kindes geht. Mit gerunzelter Stirn schaute Eden auf die Landkarte, die vor ihr auf der Konsole lag. Sie befand sich nordöstlich von Bar Harbor auf der Route 1, die direkt an der Küste entlang verlief. Irgendwo musste sie falsch abgebogen sein – das wurde anscheinend zu einer Art Gewohnheit in ihrem Leben.

Sie musste sich jetzt ganz auf die Straße konzentrieren, denn die Müdigkeit lastete schwer wie Blei auf ihr, und sie konnte kaum noch die Augen offen halten. Wie lange es jetzt wohl schon her sein mochte, dass sie ein bisschen geschlafen hatte? Es wäre einfach himmlisch gewesen, sich ein paar Stunden auf einem Hotelbett ausstrecken zu können.

Micah schlief an die Beifahrertür gelehnt, seinen geliebten Teddy fest an sich gedrückt. Sein normaler Tages- und Nachtrhythmus war inzwischen völlig durcheinander.

Sie wünschte, er könnte jetzt die schönen kleinen Häfen sehen, an denen sie vorbeikamen, und die bunten Hummerbojen, die verstreut auf dem Wasser tanzten.

Sie schaute in den Rückspiegel und sah immer noch den grünen Kleinbus hinter sich. Am Steuer saß eine Frau, hinter ihr auf der Rückbank zwei kleine Kinder.

In dem Moment tat es einen dumpfen Schlag, der Edens Gefühl nach vom Motor kam. Sie schaute mit sorgenvoll gerunzelter Stirn auf die Anzeigen am Armaturenbrett, aber der Tank war noch halb voll, und der Motor war auch nicht zu heiß. Der Buick, den sie fuhr, war alt – dreiundzwanzig Jahre – und damit nur zwei Jahre jünger als sie selbst. Sie hatte ihn für nur tausend Dollar in Jacksonville, Florida, gekauft, und entsprechend war auch sein Zustand, aber er brauchte ja auch nur noch bis nach Loon Lake in Maine durchzuhalten.

Sie hatte es riskiert, vor ihrer Abfahrt mit einem Wegwerf-Handy Karen anzurufen – das sie hinterher natürlich sofort entsorgt hatte. Karen war überrascht gewesen, denn sie hatten nichts mehr voneinander gehört, seit Karen und ihre Tochter während Edens letztem Jahr in der Highschool nach Sacramento gezogen waren. Karen war für Eden lange eine Art Ersatzmutter gewesen.

Ja, ihre Ferienhütte in Loon Lake stehe leer, hatte sie gesagt. Sie überlege gerade, sie zu verkaufen. Natürlich könne Eden dort eine Weile wohnen. Nein, sie würde mit niemandem darüber reden.

Damit hatten sie einen Ort gehabt, wo sie unterkriechen konnten, einen Ort, von dem niemand wusste, und jetzt waren sie nach langer Fahrt fast da. Nach ihrer Ankunft würde sie ihnen so bald wie möglich falsche Papiere besorgen, und dann würde für sie ein neues Leben beginnen.

Ihren Ehering hatte sie versetzt, als sie durch Atlanta gekommen waren. Sie hatte dafür bei Weitem nicht das bekommen, was er wert war, aber es reichte, um die Zeit zu überbrücken, die sie brauchen würde, um ihre Firma White Box Designs wieder in Gang zu bringen.

Sie hatte ihre Kunden schmählich im Stich lassen müssen, aber sie würde alles daransetzen, sie zurückzugewinnen.

Vom Motor kam jetzt wieder ein Geräusch, bei dem Eden angst und bange wurde, und dann quoll plötzlich bläulicher Qualm unter der Motorhaube hervor.

Nein. Nein, nein, nein! Das kann doch nicht wahr sein. Da hast du ja wieder absolut richtig entschieden, Eden. Du bist echt ein hoffnungsloser Fall.

Sie nahm den Fuß vom Gas, aber das furchtbare Geräusch ließ nicht nach, und außerdem roch es nach verbranntem Öl. Sie schaltete den Warnblinker ein, und im nächsten Moment überholte sie auch schon der grüne Kleinbus.

Um sie her waren nichts als Hügel und Bäume. Sie war zwar vor einer Weile durch eine Stadt gekommen, aber wenn es dort überhaupt eine Tankstelle oder eine Werkstatt gab, hatte sie die nicht bemerkt, denn über weite Strecken war sie mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen und hatte Pläne geschmiedet.

Das war es dann wohl, dachte sie und schaute zu, wie der bläuliche Qualm im Fahrtwind davonzog.

Da entdeckte sie ein Stück vor sich einen Wegweiser. Sie kniff die Augen etwas zusammen, um die Schrift darauf lesen zu können:

 

SUMMER HARBOR 8 KILOMETER,

stand da.

Der Wegweiser zeigte nach rechts, und da sie im Grunde keine Wahl hatte, folgte Eden ihm. Sie hoffte, dass der Ort wenigstens so groß war, dass es dort eine Werkstatt gab. Nach dem Kauf des Autos waren ihr nur noch fünfzehnhundert Dollar geblieben, die sie allerdings auch dringend für ihren Neuanfang brauchte.

Das kann doch nicht wahr sein, so kurz vorm Ziel, schrie es jetzt förmlich in ihr.

Das beängstigende Geräusch dauerte an, sodass sie ganz langsam fuhr und einfach hoffen musste, dass sie den Motor nicht völlig ruinierte, indem sie nicht anhielt. Zu allem Überfluss fing es jetzt auch noch an zu schneien. Dicke, nasse Flocken klatschten gegen die Windschutzscheibe und behinderten ihre Sicht.

Was sollte sie nur tun?

Das Wichtigste zuerst, Eden. Suche eine Werkstatt und lass dir einen Kostenvoranschlag für die Reparatur erstellen.

Vielleicht war es ja gar nichts Schlimmes, Teures, sondern nur ein gelockertes Kabel oder ein defekter Schlauch. Vielleicht würde ja ein freundlicher Automechaniker an ihren Augenringen sehen, wie erschöpft sie war, und Erbarmen mit ihr und dem Kleinen haben.

Die zweispurige Landstraße ging bergauf und bergab und war sehr kurvig. Eden hatte das Gefühl, für die acht Kilometer ewig zu brauchen. Doch irgendwann erreichte sie schließlich doch ein Ortsschild mit der Aufschrift

WILLKOMMEN IN SUMMER HARBOR, INC. 1895.

Rechts und links von der Straße, die sich direkt an der Küste entlangschlängelte, tauchten erste, vereinzelte Häuser auf, und als sie dann tatsächlich in die Stadt hineinkamen, wurde die Straße abschüssig und gerader. Mit seinen anheimelnden kleinen Läden und altmodischen Straßenlaternen, die unter einer dicken, glitzernden Schneedecke lagen, sah Summer Harbor aus wie ein Weihnachtskartenmotiv. Es lag direkt an der felsigen Küste, auf die sie auch während der Fahrt einen ganz kurzen Blick erhascht hatte, aber sie konzentrierte sich jetzt lieber darauf, nach einer Tankstelle oder einer Werkstatt Ausschau zu halten.

Unter anderen Bedingungen hätte sie den Ort gerne ein bisschen genauer erkundet – am liebsten im Sommer, wenn es hier von Hummerfischerbooten und Touristen wahrscheinlich nur so wimmelte. Doch auch jetzt, in festlichem Weihnachtsschmuck, hatte die Stadt ihren Charme.

Da! Etwas versteckt an einer Seitenstraße entdeckte sie eine Tankstelle. Sie fuhr auf den Parkplatz davor, schaltete den Motor aus und empfand sehr intensiv die plötzliche Stille.

Es tat ihr in der Seele weh, Micah wecken zu müssen, denn seit sie auf der Flucht waren, hatte er nicht mehr richtig tief und fest geschlafen. Als sie ihn jetzt an der Schulter berührte, zuckte er erschrocken zusammen und war mit einem Ruck wach. Er wurde ganz starr, als er sich erinnerte und merkte, wo er war, und riss die Augen wie in Panik weit auf. Sie fand diesen Ausdruck ganz furchtbar. Kein fünfjähriges Kind sollte durchmachen müssen, was er schon alles hinter sich hatte.

„Hey, mein Kleiner“, sagte sie leise. „Wir haben eine kleine Autopanne. Lass uns aussteigen und uns ein bisschen die Beine vertreten, ja?“ Sie holte ihre Jacken aus dem Rucksack, der auf dem Rücksitz stand, und half Micah beim Anziehen.

Auf dem Weg zum Kassenraum der Tankstelle zog sie sich ihre Baseballkappe noch tiefer ins Gesicht und schaute sich noch einmal um. Dann setzte sie Micah seine Kapuze auf und zog ihn ganz nah an sich heran.

In dem Kassenraum hielt sich nur ein Mann auf. Er saß hinter der Kasse, die Füße auf dem Tresen, und bearbeitete mit geübten Fingern sein iPhone. Er hatte ein so jungenhaftes Gesicht, dass sie ihn auf unter zwanzig schätzte, auch wenn er offenbar den verwegenen Versuch unternahm, sich einen Bart wachsen zu lassen.

Als er aufsah und sich ihre Blicke begegneten, wurde er rot, nahm die Füße vom Tresen und richtete sich auf dem Kassenstuhl auf.

„Hallo. Kann ich Ihnen helfen?“, begrüßte er sie.

Sie schenkte ihm ihr nettestes Lächeln und antwortete: „Ich habe Probleme mit meinem Wagen und bin ziemlich in Eile. Könnte vielleicht mal jemand einen Blick auf den Motor werfen?“

„Tut mir leid, unser Mechaniker hat heute frei, aber Montag ist er wieder da.“

Ihr sank der Mut. „Gibt es denn noch eine Werkstatt im Ort? Ich muss nämlich so schnell wie möglich weiter“, erklärte sie.

„Nein, wir sind die einzige“, antwortete er nur achselzuckend.

Nachdenklich nagte sie an ihrer Unterlippe. Sie hätte auf der Hauptstraße bleiben sollen. Das hast du ja mal wieder super hingekriegt, Eden. Wieder mal eine deiner wirklich dummen Entscheidungen.

„Also ich bin zwar kein Mechaniker, aber ich versteh ein bisschen was von Motoren. Ich könnte ja mal einen Blick drauf werfen.“

Dankbar sah sie ihn an und sagte: „Wirklich? Das würden Sie machen? Wie nett von Ihnen. Vielleicht ist es ja etwas ganz Harmloses, und ich kann gleich weiterfahren.“

Den Arm fest um Micahs Schultern gelegt, ging sie voraus zu ihrem Wagen, und der junge Mann folgte ihr. Dort angekommen, beschrieb sie ihm die Geräusche – erst den Schlag, dann das schabende Geräusch – und den Gestank. Der Geruch von verbranntem Öl hing immer noch in der Luft, und als der junge Mann die Motorhaube öffnete, stieg noch eine kleine Rauchschwade auf.

Eden schaute ihm nervös zu, wie er den Motor begutachtete. Er ließ den Wagen an, horchte auf das Geräusch des Motors und machte ihn wieder aus. „Ich glaube, es ist ein defekter Zylinder“, sagte er.

„Und was bedeutet das?“

Er sah sie mit Bedauern an und antwortete: „Das würde bedeuten, dass sie einen Austauschmotor brauchen.“

„Einen Austauschmotor! Wie viel würde denn das kosten?“

„Also eigentlich darf ich gar nicht …“

„Nur ungefähr. Bitte. Ich verrat’s auch niemandem“, bettelte sie.

Er seufzte, wurde wieder rot und antwortete dann: „Na ja, normalerweise zwischen tausend und fünfzehnhundert.“

Ihr blieb kurz die Luft weg.

„Aber das kommt ganz auf den Motor an, und ich habe eigentlich auch gar nicht genug Ahnung, um das einzuschätzen. Tut mir leid, dass ich Ihnen nichts Besseres sagen kann.“

„Kann ich denn noch damit fahren? Wenigstens ganz langsam?“, fragte sie.

„Wie weit haben Sie es denn noch?“, erkundigte er sich.

„So vier, fünf Stunden.“

Er schüttelte den Kopf. „Wenn Sie so lange weiterfahren, wird der Schaden noch schlimmer, und der Motor könnte sogar anfangen zu brennen.“

Eden seufzte. Das konnte sie natürlich auf keinen Fall riskieren. Sie würde also warten müssen, bis sich am Montag ein Fachmann den Schaden ansehen und die Kosten für eine Reparatur schätzen konnte, aber das bedeutete zwei Übernachtungen in Summer Harbor.

„Dann sieht es ja ganz so aus, als würden Sie während des Unwetters hier festsitzen“, sagte der junge Mann.

„Was für ein Unwetter denn?“, fragte sie.

„Es soll in den nächsten vierundzwanzig Stunden 15 bis 20 Zentimeter Neuschnee geben. Den ersten Schnee dieses Jahr“, sagte er und konnte dabei seinen Maine-Akzent nicht verbergen. „Dort die Straße hinunter – in der Main Street – gibt es auf der linken Seite ein Hotel. Wenn Sie Hunger haben, gibt es da auch ganz in der Nähe ein gutes Café, das Frumpy Joe’s, und ein Stück weiter noch das Roadhouse. Aber der Weg dorthin lohnt sich, denn es gibt da eine ganz tolle Muschelcremesuppe.“ Dann lächelte er Micah an und fragte: „Magst du Schnee? Es gibt hier in der Gegend ein paar richtig tolle Hügel zum Rodeln. Vielleicht kann man ja in dem Hotel einen Schlitten ausleihen.“

Micah sagte gar nichts, sondern vergrub sein Gesicht in Edens Mantel.

„Kann ich den Wagen hier stehen lassen, bis Sie am Montag die Kosten für die Reparatur schätzen?“, fragte sie.

„Ja sicher, kein Problem. Ich schreibe nur noch schnell Ihren Namen und Ihre Handynummer auf.“

„Äh … also ich komme lieber wieder vorbei. Und vielen Dank noch mal für Ihre Hilfe.“


ZWEI

Beau Callahan nahm den Stapel Post vom Sofa und legte ihn auf den Küchentisch, die Zeitungen packte er zum Altpapier, und dann nahm er Rileys Red-Sox-Sweatshirt und warf es über den Fernsehsessel. Fünf Minuten später war immer noch kaum zu sehen, dass er dabei war aufzuräumen. Wie hatte nur eine solche Unordnung entstehen können?

Die Tür ging auf, und Zac kam herein und mit ihm ein eiskalter Windstoß sowie der Geruch von Chicken Wings. Das dunkle lange Haar von Beaus Bruder war mit Schnee bestäubt. Zac war der mittlere der drei Callahan-Brüder und ein Jahr jünger als Beau, aber größer als der große Bruder, der mit seinen 1,85 Metern auch nicht gerade ein Zwerg war. Beau kannte keinen Mann mit einem so starken Bartwuchs wie Zacs. Offenbar ließ er sich gerade wieder einen Bart wachsen, stellte sein Bruder jetzt fest.

„Tut mir leid, dass ich so spät komme“, sagte Zac, stellte die Tasche ab und zog den Mantel aus.

„Danke, dass du Essen mitbringst“, entgegnete Beau.

„Wo ist denn Riley?“, erkundigte sich Zac.

„Bei Paige auf der Arbeit gab es irgendwelche Probleme, und weil ich noch so viel zu tun habe, fährt er sie wieder in die Stadt.“

Er hatte eigentlich gehofft, dass Paige bei ihrer Familienkonferenz dabei sein würde, denn sie gehörte zwar eigentlich nicht zur Familie, stand ihnen aber doch allen ziemlich nah. Sie war schon seit Jahren Rileys beste Freundin, und seit Kurzem waren Beau und sie ein Paar. Zuerst hatte es sich ein bisschen komisch angefühlt, mit der besten Freundin seines Bruders zusammen zu sein, doch inzwischen war es für Beau ganz normal geworden.

Er holte ein paar Büchsen Cola aus dem Kühlschrank und brachte sie ins Wohnzimmer, wo er sie auf den leeren Couchtisch stellte.

Zac ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und fragte: „Du liebe Güte, was ist denn hier passiert?“

„Du weißt schon, dass Tante Trudy im Krankenhaus ist, oder? Und dass Riley und ich alle Hände voll zu tun haben, um alles für den Weihnachtsbaumverkauf vorzubereiten?“

„Doch, ich weiß, ich weiß. Wir kriegen das schon hin. Deshalb habe ich doch das Treffen einberufen, oder? Weil ihr Hilfe braucht.“

„Wir kommen schon zurecht“, entgegnete Beau.

„Du kümmerst dich ständig um uns. Du bist wieder zurück auf die Farm gezogen, als Papa gestorben ist, und hast wegen der Farm deinen Job gekündigt, also lass uns doch jetzt zur Abwechslung auch mal dir helfen.“

Die Weihnachtsbaumplantage war seit vier Generationen im Familienbesitz.

„Ach, das war doch selbstverständlich“, wiegelte Beau ab und ging noch einmal zurück in die Küche, um einen Stapel Pappteller und eine Rolle Küchenpapier zu holen.

Tatsache war, dass er sich bei all den Alltagssorgen, die die Farm so mit sich brachte, manchmal schon nach seiner Zeit als Hilfssheriff zurücksehnte. Eine geregelte und interessante Arbeit hatte schon etwas für sich. Nicht dass es ihm keinen Spaß machen würde, die Farm zu leiten, aber es bedeutete auch jede Menge Stress und Druck.

Jetzt ließ er sich auf der Wohnzimmercouch nieder und schaltete im Fernsehen den Sportsender ESPN ein, auf dem eine Vorschau auf das morgige Footballspiel der Patriots lief, während Zac die Styroporbehälter mit Chicken Wings auspackte. Er ließ sich zwar nichts anmerken, aber Beau konnte er nichts vormachen. Vor einem Monat hatte Zacs Verlobte nur eine Woche vor der Hochzeit die Stadt mit unbekanntem Ziel verlassen. Zac hatte seitdem nichts mehr von ihr gehört und war völlig fertig deshalb. Tante Trudy sagte immer, die Callahan-Männer würden nur einmal wirklich lieben, aber dann richtig, und Beau hoffte um Zacs willen, dass sie damit unrecht hatte.

„Wie geht es dir eigentlich?“, fragte Beau. „Ich hab dich in letzter Zeit kaum gesehen.“

„Mir geht es eigentlich ganz gut“, antwortete Zac mit düsterer Miene. „Ich wünschte nur, die Leute würden aufhören, mir ständig Fragen zu stellen.“

Zac hatte sich ganz und gar in die Arbeit in seinem Restaurant gestürzt seit Lucy weg war, sodass Beau ihn manchmal tagelang nicht zu Gesicht bekam. Sie hatten alle viel zu tun, und eigentlich hatte keiner von ihnen Zeit für eine Krise, wie sie sich offenbar gerade anbahnte.

 

Die Haustür ging erneut auf, und Riley kam herein. Mit seinen nicht einmal 1,80 m Größe war er der kleinste der drei Brüder. Dafür hatte er die breiten Schultern und muskulösen Arme ihres Vaters geerbt. Er wohnte zusammen mit Beau und Tante Trudy im Farmhaus und half im Winter bei der Arbeit. In den warmen Monaten arbeitete er als Hummerfischer.

„Hallo, Leute“, begrüßte Riley seine Brüder, schnupperte dann kurz und sagte: „Hier riecht es ja köstlich.“ Dann legte er Zac eine Hand auf die Schulter und fragte mit bedauernder Miene: „Und, wie geht’s, Mann? Kommst du einigermaßen klar?“

Mit einem Blick, der besagte: Siehst du, genau das habe ich gemeint, schaute Zac Beau an.

Der warf Riley die Rolle mit Küchenpapier zu und sagte: „Er kann die Frage nicht mehr hören.“

„Na ja, es passiert ja auch schließlich nicht jeden Tag, dass einem die Verlobte …“

Als Zac ihn daraufhin nur wütend anstarrte, hielt er mitten im Satz inne und sagte stattdessen: „Ist ja schon gut … Wie sieht es denn bei den Patriots so aus?“

Und dann befassten sie sich ausgiebig mit den Chicken Wings und der Vorschau auf das Spitzenspiel des kommenden Sonntags. Vor dem großen Panoramafenster fiel der Schnee so dicht, dass man die Weihnachtsbaumplantage draußen nicht sehen konnte, und mittlerweile blieb der Neuschnee auch liegen.

„Ist es schon glatt auf den Straßen?“, fragte Beau.

Riley nickte kauend.

„Ich hoffe, dass Paige nicht zu lange auf der Arbeit zu tun hat“, sagte er dann. Paige leitete eine Tierrettungsstation im Ort. Wenn irgendwo ein Tier in Not war, ließ sie alles stehen und liegen und war zur Stelle.

„Wie ging es denn Tante Trudy heute?“, erkundigte sich Riley.

Beau rieb sich die Hände und drehte den Ton des Fernsehers aus, als ein Werbeblock begann. „Es sieht ganz so aus, als ob sie eine ganze Weile ausfallen wird“, antwortete er.

Tante Trudy war eine Art Ersatzmutter der Callahan-Brüder. Sie war am Vortag auf dem Parkplatz vor dem Wollgeschäft „Die Strickecke“ gestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen. Jetzt hatte sie einen Gipsverband und verbreitete Trübsinn und schlechte Laune.

„Das ist der Grund, weshalb ich dieses Treffen anberaumt habe“, sagte Zac. „Ich weiß, dass ihr alle viel zu tun habt, aber wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie es in nächster Zeit hier auf der Farm laufen soll.“

„Ich habe schon ein paar Teenager zur Aushilfe angeheuert“, erklärte Beau.

„Aber ihr braucht jemanden, der hier den Laden schmeißt, solange Tante Trudy nicht da ist“, entgegnete Zac.

„Wann kommt sie denn wieder nach Hause?“, erkundigte sich Riley.

Ihre Tante arbeitete Teilzeit im Touristenbüro des Ortes, aber sie führte darüber hinaus auch den Haushalt auf der Farm, und durch ihre eigenwillige Art sorgte sie dafür, dass es nie langweilig wurde. Was das anging, hatte sie die drei Brüder noch nie im Stich gelassen.

Beau rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her und sagte: „Der Arzt möchte sie in eine Rehaklinik verlegen, und er ist sicher, dass sie wieder ganz fit wird.“

Riley lachte prustend los und bemerkte: „Ich wette, das findet sie ganz toll.“

„Ja, das Gespräch mit ihr ist wirklich nicht so gut gelaufen, aber sie braucht Rund-um-die-Uhr-Betreuung, und da für uns vor den Feiertagen jetzt die Hauptsaison beginnt, schaffen wir es auf keinen Fall allein.“

„Wie lange muss sie denn in der Rehaklinik bleiben?“, fragte Zac.

„Wenn die Krankenversicherung ihren Aufenthalt dort bezahlt, mehrere Wochen.“

„Was ist denn mit dem Touristenbüro?“, fragte Zac.

Beau zuckte nur mit den Achseln und antwortete: „Wahrscheinlich wird es einfach geschlossen, bis sie wieder auf den Beinen ist. Im Moment ist dort ja sowieso nichts los.“

„Also ich könnte noch etwas Zeit frühmorgens und montags abknapsen“, sagte Zac. „Mir ist schon klar, dass abends und an den Wochenenden immer am meisten los ist, aber das sind auch die Spitzenzeiten im Restaurant.“

Beau hatte das Gefühl, dass es für Zac zurzeit gut war, ständig beschäftigt zu sein, damit er nicht ins Grübeln kam.

„Das ist schon in Ordnung“, sagte Beau. „Dann habe ich Zeit, mich ums Geschäft zu kümmern und Tante Trudy zu besuchen.“

„Ich kann so oft und so viel aushelfen, wie du mich brauchst“, bot Riley an.

„Aber du wirst auf jeden Fall noch mehr Hilfe brauchen“, bemerkte Zac und hatte damit absolut recht.

Beau brauchte jemanden für den Geschenke-Shop und Leute zum Verpacken und Verladen der Weihnachtsbäume, und zwar so viele, dass sie in Schichten arbeiten konnten.

„Ich habe heute Nachmittag eine Reihe von Bewerbungsgesprächen und hoffe außerdem, dass Paige ein bisschen aushelfen kann“, sagte Beau. „Vielleicht ist es ja auch ganz gut für sie, auf der Farm auszuhelfen, damit sie eine Vorstellung bekommt, wie das Geschäft läuft.“

„Aber Paige hat eine eigene Arbeit, um die sie sich kümmern muss“, bemerkte Riley dazu ziemlich unwirsch, woraufhin Zac ihm nur einen fragenden Blick zuwarf, seine Coladose öffnete und dann Beau fragte: „Ist das denn was Ernstes mit euch beiden?“

„Ja, sieht ganz so aus, aber sie gehört doch sowieso praktisch schon zur Familie.“

Auf diese Frage seines Bruders hin horchte Beau allerdings noch einmal in sich hinein. Es hatte alles ziemlich gut angefangen mit ihnen, aber in letzter Zeit … lief es irgendwie nicht mehr so richtig rund.

Riley stand auf, rieb sich die Hände und sagte: „Ich muss jetzt los.“

„Was?“, fragte Beau. „Du bist doch gerade erst gekommen. Wir haben hier ein Krisentreffen.“

Doch Riley war schon dabei, sich wieder die Jacke anzuziehen, und erklärte: „Ich habe ganz vergessen, dass ich der alten Mrs. Grady versprochen habe, nach ihrem Boiler zu schauen. Es klingt doch ganz so, als ob ihr sowieso schon wisst, wie es laufen soll.“

Als Riley zur Haustür hinausging, kam wieder ein eisiger Windstoß herein. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und kurz darauf hörten sie, wie sein Truck angelassen wurde und er davonfuhr.

„Was ist denn mit dem los?“, fragte Beau mit gerunzelter Stirn, als sie den Wagen auf der Auffahrt wegfahren hörten.

„Er ist wahrscheinlich einfach nur müde“, sagte Zac und griff nach einem weiteren Chicken Wing. „Mach dir keine Gedanken. Der kommt schon klar.“