Wie Schneeflocken im Wind

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„Was soll denn das nun wieder heißen?“, fragte der daraufhin.

Wütend starrte Riley ihn an und sagte dann: „Nichts! Gar nichts soll das heißen!“

„So, es reicht jetzt, ihr beiden!“, mischte sich Tante Trudy ein. „Im Wohnzimmer wird nicht gestritten.“

Zac trat zwischen die beiden und sagte: „Jetzt komm mal wieder runter, Riley. Beau kümmert sich schon sein ganzes Leben um uns, das weißt du ganz genau. Er fühlt sich eben für uns verantwortlich.“

„Und was ist mit der Farm?“, fragte Beau und schaute an Zac vorbei, damit er Riley sehen konnte. „Was ist mit deinem Leben hier? Willst du das wirklich alles einfach so hinter dir lassen?“

„Was denn für ein Leben?“, fragte Riley. „Ich habe hier doch nichts anderes als die Arbeit. Tante Trudy hat euch, Zac hat das Roadhouse, du hast Paige …“

„Du hast Paige doch auch“, sagte Beau und merkte, wie ganz kurz ganz viele Gefühle gleichzeitig in Rileys Miene aufflackerten, bevor er sich umdrehte und sich fast verzweifelt mit der Hand in den Nacken fuhr.

Tante Trudy erhob sich jetzt ganz langsam und griff nach ihren Krücken.

„So, ich glaube, für heute Abend habe ich genug Theater gehabt. Ich gehe ins Bett“, sagte sie, bedachte die beiden Streitenden mit einem durchdringenden Blick und fügte noch hinzu: „Ihr beiden benehmt euch wie Zwölfjährige, und ich bin zurzeit nicht in der Verfassung, eine Rauferei zu verhindern.“

„Warte, ich helfe dir“, sagte Beau und ging zu ihr hin. Er war immer noch völlig aufgewühlt wegen der Neuigkeiten, die er gerade von Riley erfahren hatte. Aber Tante Trudy scheuchte ihn mit einer Geste weg und schaute ihn finster an. „Ich kann ganz gut allein ins Bett gehen. Du bleibst gefälligst hier und glättest ein bisschen die Wogen.“

Nachdem sie weg war, herrschte erst einmal eine ganze Weile Schweigen.

Riley hatte die Arme vor der Brust verschränkt und saß mit verkniffenem Mund und angriffslustig vorgeschobenem Kinn da. Beau stellte sich vor, dass sein Bruder verwundet würde oder, noch schlimmer, gar nicht wieder zurückkäme. Er glaubte nicht, dass er nach dem Verlust der Eltern auch noch den des jüngeren Bruders verkraften würde. Er schluckte, weil er einen dicken Kloß im Hals hatte, nahm seinen Mantel von der Garderobe, zog ihn an und sagte: „Ich bin draußen in der Scheune und hänge die Kränze auf.“

„Brauchst du Hilfe?“, fragte Zac.

„Nee“, antwortete er nur einsilbig.

Und dann trat er hinaus in die Dunkelheit, so aufgewühlt, dass er die beißende Kälte im Gesicht kaum spürte.


Micah flitzte zur Toilette, und Eden stellte den Besen zurück in den Schrank. Sie hatte den Streit zwischen den Brüdern und auch Beaus plötzlichen Abgang genau mitbekommen und zögerte jetzt, ins Wohnzimmer zu gehen. Am liebsten hätte sie sich klammheimlich fortgestohlen, aber das kam ihr dann doch irgendwie feige und unprofessionell vor. Es war ihr erster Abend in der Familie, und sie hatte mit dem Gulasch und den verbrannten Brötchen nicht gerade einen guten Eindruck hinterlassen. Als sie also jetzt wieder ins Wohnzimmer kam, saßen Zac und Riley mit dem Rücken zu ihr immer noch vor dem auf stumm geschalteten Fernseher.

„Es ist wegen Paige, oder?“, fragte Zac Riley in dem Moment, als sie in der Tür stand.

„Ich wollte schon immer zur Army, das weißt du doch“, antwortete Riley.

„Aber du bist nie gegangen“, sagte Zac und sah seinen Bruder an. „Ich habe neulich Abend genau deine Miene gesehen, als Beau gesagt hat, dass das zwischen Paige und ihm etwas für immer ist.“

„Was hast du denn erwartet?“, fragte Riley jetzt aufgebracht. „Dass ich einfach hierbleibe und zuschaue, wie mein Bruder die Frau heiratet, die ich liebe?“

Ach du liebe Güte, dachte Eden und trat wieder den Rückzug an.

„Es ist schon schwer genug, die beiden ständig zusammenzusehen …“, fügte Riley noch hinzu.

In dem Moment knarrte der Holzfußboden unter Edens Füßen, und Riley drehte sich mit einem Ruck um. Seine Augen wurden ganz groß, und er sah sie mit durchdringendem Blick an.

Mist. „Äh … tut mir leid. Ich wollte nur gute Nacht sagen. Ich wollte wirklich nicht …“

„Wie viel haben Sie gehört?“, fragte Zac.

Eden zuckte zusammen, während Riley sich abwandte und in zynischem Ton sagte: „Na großartig! Ganz großartig.“

„Ich sag nichts weiter. Das geht mich doch alles gar nichts an“, beteuerte sie und griff nach ihrer Jacke. „Wir tun einfach so, als wäre das hier nie passiert, ja?“

In dem Moment hörte sie, wie die Badezimmertür ging und Micah in die Küche kam. Sie half ihm in seine Jacke und verabschiedete sich mit einem Lächeln von den beiden Brüdern. Aber nur einer der beiden lächelte zurück.


ACHT

Es war ein furchtbarer Tag gewesen. Was war sie bloß für eine Mutter, die nicht einmal ein anständiges Essen kochen konnte!? Sie fand es immer noch unbegreiflich, dass Beau sie nicht sofort wieder entlassen hatte.

Eden brachte erst Micah ins Bett, nahm dann ein ausgedehntes Bad und versuchte, ihr schlechtes Gefühl abzuschütteln. Danach traf sie Paige im Esszimmer an. Als sie den Raum betrat, strich die Katze ihr um die Beine, und sie bückte sich, um dem Tier über den runden Buckel zu streichen.

„Hast du etwas dagegen, wenn ich reinkomme?“, fragte sie Paige.

„Natürlich nicht“, antwortete die und blickte von ihrem Laptop auf. Ihre hübschen blauen Augen waren gerötet, und neben dem Laptop lag ein zerknülltes Papiertaschentuch.

Eden hatte das Gefühl, dass Paige eben erst von Rileys Entschluss erfahren hatte. Irgendwie beneidete sie den Kerl auch ein wenig, weil er so viele Menschen hatte, denen er etwas bedeutete.

Paige schniefte einmal kurz und fragte dann: „Na, wie war dein erster Tag? Hast du Miss Trudy überlebt?“

Eden schnitt ein Gesicht und antwortete: „Sie war wirklich mein kleinstes Problem heute. Ich habe das Abendessen so gründlich vermasselt, dass wir am Ende Chicken Wings aus dem Roadhouse holen mussten.“

Paige lachte lautlos und tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen ab.

„Da waren die Jungs doch sicher begeistert. Sie lieben nämlich Chicken Wings.“

Mit ihrem glatten Haar und den großen blauen Augen war Paige eine aparte Erscheinung. Sie war zierlich mit einer sportlichen Figur und Rundungen an den richtigen Stellen. Außerdem war sie auch noch unglaublich nett. Es war jedenfalls absolut nachzuvollziehen, was Beau – und auch Riley – an ihr fanden.

„Dann gehe ich also davon aus, dass du nicht so viel Erfahrung im Kochen hast, was?“

Eden zupfte an der Manschette ihres geliehenen Pyjamaoberteils und antwortete: „Ja, das könnte man wohl so sagen. Aber mit ein bisschen Übung bekomme ich das sicher bald hin.“

„Du hast noch gar nicht gesagt, wo du eigentlich herkommst, oder?“, fragte Paige jetzt.

Eden strich sich das Haar hinter die Ohren und antwortete: „Aus dem Süden.“

„Aber du hast gar keinen Akzent“, bemerkte Paige.

„Du schon, ein bisschen jedenfalls“, sagte Eden darauf. „Ich habe noch nie zuvor den Akzent von Maine gehört.“

„Beau hat gesagt, dass du eigentlich nur auf der Durchreise bist und dir dann deine Sachen gestohlen worden sind“, fuhr Paige unbeirrt fort.

Sie hätte sich auf keinen Fall zu Paige setzen sollen, dachte Eden jetzt und erklärte dann:

„Ja, im Grunde ist alles weg, was ich besessen habe. Und zu allem Überfluss ist auch noch mein Wagen liegengeblieben. Wir bleiben so lange, bis der Wagen repariert und Tante Trudy wieder auf den Beinen ist. Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich für den Job bin … und dafür, dass ich eine Bleibe habe. Beau und seine Familie sind wirklich großartig.“

Paiges Blick schweifte zu ihrem Handy, und ihre Miene wurde traurig.

„Alles in Ordnung?“, fragte Eden.

„Ach, ich habe gerade mit Beau telefoniert … Riley hat sich freiwillig zu den Marines gemeldet“, antwortete Paige und klappte ihren Laptop zu.

Froh über den Themenwechsel, sagte Eden: „Ich habe versehentlich mitgehört, wie sie darüber gesprochen haben. Kennst du die Callahan-Brüder schon lange?“

„Ja, seit Riley und ich vierzehn sind.“ Offenbar dachte sie jetzt an die Zeit damals zurück, denn sie lächelte wehmütig und erzählte: „Er hat mich eines Tages nach der Schule zu einem Basketballspiel herausgefordert, und ich habe ihn geschlagen.“

„Autsch“, bemerkte Eden lächelnd.

„Ja, das kann man wohl sagen. Das hat ihm damals echt zugesetzt, aber er hat es ganz gut weggesteckt. Hilfreich war aber wahrscheinlich auch, dass er mich seitdem Hunderte Male besiegt hat. Als er irgendwann einen gewaltigen Wachstumsschub hatte und richtig muskulös wurde, hatte ich keine Chance mehr gegen ihn. Inzwischen fordere ich ihn beim Poolbillard heraus, da kann ich es immer noch mit ihm aufnehmen.“

Doch dann erstarb ihr Lächeln, und ihre Lippen bebten, als sie bewegt sagte: „Er ist mein bester Kumpel, und ich kann einfach nicht glauben, dass er weggeht.“

Es musste schwer sein für Riley, eine Frau zu lieben, für die er ganz eindeutig nicht mehr als ein Freund war, und mit ansehen zu müssen, wie sie sich in seinen großen Bruder verliebte. Kein Wunder, dass er wegwollte.

 

„Und wie ist es dazu gekommen, dass du jetzt mit Beau zusammen bist?“, fragte Eden.

„Er ist vier Jahre älter als Riley, deshalb hatte ich ihn eigentlich gar nicht auf dem Schirm. Aber ich war viel mit der Familie zusammen, als der Vater gestorben ist, und eines Abends sind Beau und ich uns dann im Roadhouse über den Weg gelaufen und haben bis zur Sperrstunde miteinander geredet. Uns gehen nie die Gesprächsthemen aus. Er ist wirklich ein toller Kerl. Heute Abend ist er total aufgewühlt, weil Riley schon so bald nach dem Tod des Vaters weggeht … ich weiß auch nicht, was er sich dabei denkt.“

„Es hat vorhin so geklungen, als wären sie auch zuvor schon aneinandergeraten“, bemerkte Eden.

Daraufhin grinste Paige nur schief und sagte: „Folgendes musst du über die Callahan-Männer wissen: Sie haben alle einen starken Willen, sind überbehütend und glauben, dass sie alles wissen. Außerdem sind sie die begehrtesten Junggesellen der Stadt – obwohl Beau ja zurzeit vergeben ist. Es war ein Heulen und Zähneklappern, als wir zusammengekommen sind, aber mittlerweile ist ja auch Zac wieder zu haben. Er ist vor etwa einem Monat von seiner Verlobten sitzengelassen worden. Die drei sind vielleicht alle ein bisschen ungehobelt, aber das liegt daran, dass sie nach dem Tod ihrer Mutter von ihrem Vater großgezogen worden sind, fast ohne weiblichen Einfluss in ihrer Teenagerzeit.“

„Und was ist mit der Tante?“, erkundigte sich Eden.

„Du hast doch Miss Trudy schon kennengelernt, oder?“, fragte Paige feixend.

„Also ich hoffe ja, dass sich die Gemüter bis morgen wieder ein bisschen beruhigt haben. Heute Abend war die Stimmung jedenfalls ziemlich aufgeheizt“, bemerkte Eden.

„Ach, das legt sich schon wieder, wirst sehen“, sagte Paige. „Die Callahan-Brüder sind aufbrausend, aber nicht nachtragend.“

Doch es legte sich nicht. Am nächsten Tag erschien Riley nicht zum Abendessen und ging der Familie offenbar bewusst aus dem Weg.

Eden musste immer wieder ihr Gähnen unterdrücken, denn Micah hatte in der Nacht zuvor wieder einen Albtraum gehabt. Sie war von seinem Schreien aufgewacht, hatte seinen kleinen verschwitzten Körper ganz fest in die Arme genommen und versucht, ihn mit Worten zu beruhigen, aber Paige war anscheinend von dem Lärm aufgewacht, denn sie hatte sich am Morgen nach dem Kleinen erkundigt.

Ein Anruf bei der Autowerkstatt ergab nichts Gutes. Es sei tatsächlich ein defekter Zylinderkopf, sagte der Mechaniker, und der Motor müsse ausgetauscht werden. Etwa tausend Dollar sollte die Reparatur kosten. Den ganzen Nachmittag überlegte Eden, was sie tun sollte, gab dann aber schließlich die Reparatur in Auftrag. Mit einem Austauschmotor würde der Wagen dann wahrscheinlich noch eine ganze Weile durchhalten. Sie teilte dem Mechaniker aber auch gleich mit, dass sie die Reparatur nicht auf einen Schlag würde bezahlen können.

Am Montagabend ging sie zu Fuß in die Stadt, um im Lebensmittelladen ihren Gehaltscheck einzulösen und dann in dem Lokal ihre offene Rechnung zu begleichen. Danach ging sie in den Secondhandladen, den sie entdeckt hatte und der sich als wahre Fundgrube erwies. Sie fand warme Wintersachen für Micah und eine Jeans sowie eine billige Handtasche für sich selbst.

Auf dem Rückweg zu Paiges Haus kamen sie an einem Laden für gebrauchte Bücher vorbei, wo ihr im Schaufenster ein Buchumschlag ins Auge fiel, der ihr bekannt vorkam. Sie blieb stehen und sah, dass es ein Buch von Debbie Macomber war.

„Was ist denn das für ein Schund?“ Er schnappte ihr das Bibliotheksbuch aus der Hand und warf es in den Mülleimer. „Nicht in meinem Haus. Nicht in den Händen meiner Frau.“

Sie schüttelte die Erinnerung ab, raffte ihre ganze Entschlossenheit zusammen, betrat den Buchladen, und als sie kurz darauf wieder herauskam, steckte in ihrer neuen Handtasche ein Exemplar von Twenty Wishes.

Die nächsten paar Tage war Eden vollkommen damit beschäftigt, Miss Trudy in der Gegend herumzufahren, zu putzen und das Thanksgiving-Festessen zu planen. Es war unglaublich wichtig, dass es gelang, denn sie hatte in ihrer ersten Arbeitswoche wirklich viel falschgemacht. Sie hatte in der Wäsche ein paar von Beaus weißen T-Shirts rosa verfärbt, ein falsches Reinigungsmittel für den Küchenfußboden verwendet, sodass er ganz klebrig geworden war, und es dann auch noch irgendwie geschafft, den Staubsauger zu ruinieren. Bei jedem neuen Malheur hatte sie mit ihrer Entlassung gerechnet, aber Beau hatte ihr all diese Fehler einfach so durchgehen lassen.

Er hatte noch einmal nach dem W-4-Formular gefragt, doch sie hatte sich irgendwie herausreden können. Viel länger würde er sich aber wahrscheinlich nicht mehr vertrösten lassen. Sie würde eine falsche Sozialversicherungsnummer angeben und hoffen müssen, dass sie längst wieder weg wäre, wenn das Finanzamt ihn darüber informierte, dass die Nummer falsch war.

Eden zündete das Feuer im Kamin an und schaute zu, wie ein dickes Holzscheit Feuer fing. Dann schaltete sie das Radio ein und suchte so lange, bis sie einen Sender mit Weihnachtsliedern gefunden hatte. Der Truthahn lag zum Auftauen im Kühlschrank, die Kartoffeln waren sauber gebürstet und standen auf der Arbeitsplatte, und Miss Trudy hielt ein Nickerchen. Es wurde langsam Zeit, das Haus ein wenig festlich zu schmücken.

Sie holte also den Weihnachtsschmuck vom Dachboden und machte sich an die Arbeit. Als die Sonne unterging, hatte sie das Haus in ein richtiges Weihnachtswunderland verwandelt. Eine blinkende Girlande schmückte jeweils den Kaminsims und das Treppengeländer, und hier und da brannten elektrische Kerzen. Miss Trudy war von ihrem Nickerchen aufgewacht, als sie halb fertig gewesen war, und hatte die restlichen Arbeiten überwacht. Riley hatte anerkennend genickt, als er durchs Wohnzimmer gekommen war, und jetzt konnte sie gar nicht erwarten, dass auch Beau ihr Werk zu sehen bekam.


Als Beau aus dem Wagen stieg, blies ihm ein eiskalter Wind entgegen. Die Scheune war fertig mit Kränzen und Girlanden geschmückt, und der Lastwagen von der Bethel-Farm war da gewesen und hatte noch einmal einhundert Bäume als Ergänzung zu ihrem eigenen Bestand gebracht. Er mochte diese letzten paar ruhigen Tage, in denen alles auf den Ansturm vorbereitet wurde, denn ab übermorgen würde der Wahnsinn losbrechen und Massen von Kunden herbeiströmen. In der Scheune würde es harzig nach frischer Tanne duften, es würden Weihnachtslieder erklingen, dick eingemummelte Kinder würden heißen Kakao trinken, und Marty Bennington würde die Pferde führen, die den Schlitten die schneebedeckten Pfade auf der Farm entlangzogen, sodass Beau das Gebimmel der Schlittenglöckchen noch Stunden nach Feierabend im Ohr hätte.

In der Zeit zwischen dem Verkünden von Rileys Neuigkeiten und dem Beginn der Feiertage war Beaus Stimmung eher mies gewesen. Riley war ihm aus dem Weg gegangen, und Paige war die ganze Woche noch nicht zum Abendessen da gewesen – was allerdings auch an Kates eher mäßigen Kochkünsten liegen konnte. Beau hatte darauf bestanden, dass sie an diesem Abend Pizza bestellten, denn Kate hatte noch alle Hände voll zu tun mit den Vorbereitungen für die Thanksgiving-Feier am nächsten Tag. Seine Erwartungen an das Festessen waren nicht besonders hoch.

An Weihnachten wollte er lieber gar nicht denken, aber das war gar nicht so einfach, wenn man den ganzen Tag beruflich damit zu tun hatte. Er musste einfach dafür sorgen, dass er immer genug zu tun hatte, und es würde ja auch bald wieder vorbei sein. Dann konnte er die Erinnerungen zurück in die Vergangenheit schieben, wo sie hingehörten, genau so, wie es auch sein Vater getan hatte.

Er kam die Stufen zur Veranda hinaufgestapft und stampfte sich dabei den Schnee von den Stiefeln.

Genau in dem Moment, als Beau auf der obersten Stufe angekommen war, kam Riley ihm aus dem Haus entgegen und blieb abrupt stehen, als er seinen Bruder kommen sah.

„Wenn du ein paar Minuten eher gegangen wärst, hättest du mich nicht sehen müssen“, sagte Beau.

„Ja, schade eigentlich“, entgegnete Riley und schob sich an ihm vorbei.

Da packte Beau ihn am Arm und sagte: „Kannst du vielleicht mal aufhören, dich wie der letzte Idiot aufzuführen?“

Riley befreite sich aus Beaus Griff, indem er einen großen Schritt zur Seite machte und unbeirrt weiterging. „Geh doch einfach zu Paige und lass mich in Ruhe!“

„Das mache ich vielleicht sogar. Sie ist sicher genauso aufgebracht darüber, dass du weggehst, wie ich, oder hast du dir noch gar nicht die Mühe gemacht, es ihr zu sagen?“, entgegnete Beau darauf.

„Ja, klar, sie heult sich bestimmt die Augen aus dem Kopf“, sagte Riley ironisch im Gehen noch über die Schulter.

„Was hast du eigentlich für ein Problem?“, rief Beau ihm nach.

Aber die einzige Antwort darauf war das Zuschlagen von Rileys Autotür. Der Motor heulte auf, und der Wagen fuhr davon.

Beau knurrte böse und stampfte zweimal heftig mit dem Fuß auf. Riley war so stur. Was war bloß mit ihm los? Seit dem Tod ihres Vaters war er mürrisch und verschlossen, und Beau hätte seinem Bruder am liebsten eine Tracht Prügel verpasst für all den Kummer, den er verursachte.

Beau betrat jetzt das Haus und blieb abrupt stehen bei dem Anblick, der sich ihm bot. Das Geländer der Treppe nach oben und der Kaminsims waren mit Girlanden geschmückt, und am Kaminsims hingen außerdem die großen Socken für die Geschenke, die seine Mutter für ihre Söhne genäht hatte. In einer Ecke stand ein geschmückter Weihnachtsbaum und in der Mitte des Tisches, umgeben von roten Kerzen, der Porzellanengel, den sein Vater der Mutter noch ganz kurz vor ihrem Tod geschenkt hatte.

Im Hintergrund spielte Weihnachtsmusik, und im Kamin knisterte ein behagliches Feuer.

„Was zum Kuckuck soll denn das?“, fragte er mit einem wütenden Blick in Richtung Tante Trudy, die auf dem Sofa saß und strickte.

„Schauen Sie mal, was ich gefunden habe“, sagte Kate und kam lächelnd ins Zimmer. In den Armen hatte sie die drei ausgestopften Schneemänner, die seine Mutter gekauft hatte, als er und seine Brüder noch klein gewesen waren. „Ach, hallo“, sagte sie, aber ihr Lächeln erstarb, als sie seine Miene sah.

„Wer hat Ihnen das erlaubt?“, fragte er kalt.

Ihr Blick ging zu Tante Trudy, und sie fragte: „Was ist denn?“

„Das sind unsere Sachen“, sagte er eisig und nahm ihr die Schneemänner aus dem Arm. „Sehr persönliche Sachen.“

„Ich … es … es tut mir wirklich leid. Ich konnte ja nicht wissen …“

„Nein, konnten Sie nicht“, wiederholte er, nahm den Porzellanengel vom Tisch und legte ihn zurück in die Schachtel zu seinen Füßen, gefolgt von den Kerzen und dem Tannenzapfenwichtel, den er in der dritten Klasse gebastelt hatte.

„Aber das … das ist doch nur Weihnachtsschmuck …“, stammelte sie verwirrt.

Er richtete sich auf, straffte die Schultern, sah sie an und zischte wütend: „Ja, unser Weihnachtsschmuck. Warum versuchen Sie nicht erst mal, ein einigermaßen anständiges Essen hinzubekommen und sich um die Wäsche zu kümmern, bevor Sie in unseren Sachen herumwühlen?“

Sie wurde rot, und er wandte sich jetzt dem Kaminsims zu und hängte die Weihnachtssocken ab. Wegen der lauten Weihnachtsmusik bekam er nicht mit, dass Jack und sie gingen. Als Nächstes begab er sich zum Radio und schaltete es aus.

„Na, das war ja ein nettes Dankeschön“, sagte Tante Trudy trocken.

„Wofür denn ein Dankeschön?“, entgegnete er wütend. „Die Frage ist doch eher, wie du zulassen konntest, dass sie das macht?“

„Na ja, ich habe halt gedacht, dass du ein bisschen vernünftiger bist als dein Vater. Es ist jetzt zwölf Jahre her, Beau. Das Leben geht weiter.“

„Aber all das hier weckt schlimme Erinnerungen.“

„Ist es wirklich das – oder machst du einfach nur so weiter wie dein Vater?“, fragte sie.

„Es hat ihn fast umgebracht – hast du das schon vergessen?“

„Deine Mutter hat Weihnachten geliebt und sich jahrelang ganz viel Mühe gegeben, euch ein schönes Weihnachtsfest zu bereiten. Sie hätte bestimmt nicht gewollt, dass ihre Söhne sich nur an das eine allerschlimmste Weihnachten erinnern“, erklärte Tante Trudy.

„Wir sollen es also einfach vergessen?“, fragte er entsetzt.

„Natürlich könnte ich das nicht vergessen, aber euer Leben geht doch weiter. Wir betreiben eine Weihnachtsbaumplantage, können also den Feiertagen gar nicht aus dem Weg gehen oder sie einfach ignorieren. Aber grundgütiger Himmel, hat euer dickköpfiger Vater denn überhaupt jemals versucht, wieder Weihnachten zu feiern?“

 

Beau ließ die Girlande sinken, die er gerade in der Hand hielt, und blickte finster drein. „Ich fasse einfach nicht, dass du das zulassen konntest.“

„Sie war schon fast fertig, als ich von meinem Mittagschlaf aufgestanden bin, und sie hat gelächelt, so als hätte sie das Gefühl, endlich auch mal etwas richtig zu machen.“

Beau zog den Rest der Girlande herunter und stopfte sie zu den anderen Sachen in die Kiste. Er wollte nur weg hier, und jetzt konnte er nicht einmal mehr zu Paige, weil sich Kate auch dort breitgemacht hatte.

„Ich bestelle dann mal Pizza“, sagte er völlig entnervt.

Eine Stunde später telefonierte er von seinem Zimmer aus mit Paige. „Hast du was von Riley gehört?“, fragte er, nachdem sie sich das Neueste vom Tag berichtet hatten.

„Er hat heute Nachmittag angerufen“, antwortete sie. „Es geht ihm richtig schlecht, Beau. Ich glaube, dass er vor irgendetwas davonläuft, aber ich weiß nicht, vor was.“

„Wir hatten heute Nachmittag einen Streit. Die Thanksgiving-Feier morgen wird bestimmt eine einzige Katastrophe.“

„Durch den Tod eures Vaters hat er vielleicht das Gefühl, dass er überflüssig ist“, sagte sie.

„Schon möglich.“

Riley wurde ihm gegenüber immer verschlossener, und er kam nicht mehr an ihn heran, andererseits war sein Bruder noch nie ein besonders offener Typ gewesen. Nach dem Tod ihres Vaters hatte er gehofft, dass sie sich vielleicht näherkommen würden, aber Riley schien immer mehr auf Abstand zu gehen.

„Wieso kann er nicht einfach zur Küstenwache gehen wie alle anderen hier aus der Gegend auch? Wenigstens wäre er dann nicht so weit weg, und er würde nicht plötzlich mitten in einem Kriegsgebiet sitzen.“

„Für Riley sind immer nur die Marines infrage gekommen, das weißt du doch“, erklärte sie.

„Ja, ich weiß“, bestätigte Beau.

„Ist bei euch zu Hause irgendwas vorgefallen?“, fragte Paige als Nächstes. „Kate wirkte ziemlich durcheinander, als sie nach Hause kam.“

„Was hat sie denn gesagt?“, fragte Beau nach.

„Eigentlich gar nichts. Sie ist schon den ganzen Abend oben auf ihrem Zimmer.“

Jetzt fragte sich Beau, ob es wohl überhaupt ein Festessen zu Thanksgiving geben würde und ob Tante Trudy noch eine Betreuerin hatte.

„Sie hat sich über die Weihnachtssachen auf dem Dachboden hergemacht, und als ich nach Hause gekommen bin, war das ganze Haus geschmückt. Überall waren Girlanden und Weihnachtsschmuck – wirklich im ganzen Haus.“

„Oh nein“, sagte Paige mit gespieltem Entsetzen. „Wie konnte sie nur?“

Mit zusammengebissenen Zähnen sagte Beau darauf: „Ehrlich gesagt, könnte ich eher ein bisschen Unterstützung gebrauchen.“

„Jetzt komm schon, Beau. Im Grunde bist du doch gar nicht auf Kate sauer, sondern auf Riley. Und im Grunde auch nicht auf ihn, sondern du hast einfach Angst.“

Na toll – wie er es liebte, analysiert zu werden. „Und wovor genau soll ich deiner Meinung nach Angst haben, Paige?“

Das Schweigen zwischen ihnen zog sich scheinbar endlos in die Länge, bis sie antwortete:

„Du hast Angst, ihn zu verlieren. Und weißt du was? Davor habe ich auch Angst. Aber er hat ein eigenes Leben und muss seine eigenen Entscheidungen treffen. Wir können nichts tun, als ihn zu unterstützen und zu beten, dass Gott ihn beschützt.“

„So, wie Gott unseren Vater beschützt hat? Und so, wie er Mutter beschützt hat?“, fragte Beau und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Tut mir leid, das habe ich nicht so gemeint“, entschuldigte er sich aber dann sofort und strich sich mit einer verzweifelt wirkenden Geste mit der Hand übers Gesicht. Es fühlte sich an, als würde alles auseinanderbrechen, sosehr er sich auch anstrengte, alles zusammenzuhalten.

„Gott wird mit deinen Fragen schon fertig, Beau. Und auch mit Riley wird er fertig. Und mit Kate. Und sogar mit dem Thanksgiving-Fest.“

Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und gestand: „Da habe ich mich heute Abend wohl ziemlich idiotisch aufgeführt, was?“

„Na ja …“, sagte sie. „Es gibt ja immer ein Morgen.“

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