Wie Schneeflocken im Wind

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SECHS

„Ich finde, wir sollten abwarten, ob Kate die Stelle überhaupt will“, sagte Paige am nächsten Morgen im Wicked Good Brew, wo sie noch vor dem Gottesdienst eine Krisensitzung anberaumt hatten. „Aber sie braucht einen Job und hat keine Unterkunft, also wäre es für sie im Grunde die perfekte Lösung.“

Beau drückte kurz bestätigend Paiges Schulter. In ein paar Stunden würde Tante Trudy aus der Klinik entlassen werden, und deswegen musste rasch etwas geschehen.

„Was wissen wir denn überhaupt über sie?“, fragte Riley jetzt. „Sie taucht hier plötzlich wie aus dem Nichts auf mit nichts als den Kleidern, die sie am Leib trägt, und bricht in unseren Schuppen ein … Woher wissen wir denn, dass sie Tante Trudy nicht betäubt und sich dann mit unseren Wertsachen aus dem Staub macht?“

„Sie hat ein Kind, Riley“, sagte Paige dazu nur beschwichtigend. „Was willst du denn machen? Sie wieder auf die Straße setzen?“

„Vielleicht will sie die Stelle ja auch gar nicht“, schaltete sich jetzt Zac ein.

Beau trank seine Tasse leer und stellte fest: „Sie wird die Stelle auf jeden Fall annehmen.“

„Aber Riley hat auch recht“, wandte Zac ein. „Wir brauchen wenigstens einige Referenzen.“

„Ja, es kann sicher nicht schaden, etwas mehr über sie in Erfahrung zu bringen“, stimmte Riley zu, schaute dann zu Beau hinüber und fuhr fort: „Das ist ja wohl dein Ressort, oder?“

„Ja, aber vor vierzehn Uhr kann ich da nichts machen. Wir sind uns also alle einig?“

Paige und Zac nickten, aber Riley zuckte nur mit den Achseln, nickte dann ebenfalls etwas widerstrebend und wandte noch ein: „Aber ihre Unterbringung kostet uns ja dann noch zusätzlich etwas.“

„Du kannst ja die Unterkunft, die sie bei mir bekommt, noch von ihrem Lohn abziehen, wenn du unbedingt willst“, sagte Paige. „Aber das Zimmer bei mir steht ja sowieso leer, und ich kann weiß Gott ein bisschen mehr Östrogen in meiner Umgebung gebrauchen.“

Dankbar lächelte Beau Paige an und sagte: „Also gut, dann fahre ich jetzt bei dir zu Hause vorbei und rede mit ihr. Es kann sein, dass ich ein bisschen zu spät zum Gottesdienst komme.“


Eden wachte mit einem Ruck auf, blieb dann aber ganz ruhig liegen, bis sie wieder wusste, wo sie war. Ach ja, das Bett, in dem sie lag, stand im Haus von Beau Callahans Freundin. Die Morgensonne schien durch die einfarbig blauen Vorhänge auf Micahs Gesicht. Er lag neben ihr im Bett, ein Bein seitlich abgewinkelt, sein Teddy eingequetscht zwischen seinem Brustkorb und der Matratze.

Es war Sonntag, und sie wäre am liebsten in die kleine Kirche gegangen, die sie schon im Ort entdeckt hatte, und hätte sich einfach unter die Gemeindemitglieder gemischt.

Jetzt kam die Erinnerung an den vergangenen Abend zurück, und sie dachte an Beau … ein interessanter Mann. Als Webdesignerin war es ihre besondere Stärke, Websites zu gestalten, die den Charakter der jeweiligen Firma widerspiegelten. Deshalb beschrieb sie die Persönlichkeit von Menschen, die sie neu kennenlernte, gerne mit Hilfe der Farben, welche sie bei der Gestaltung von deren persönlicher Website verwendet hätte.

Eden kannte Beau zwar noch kaum, aber mit ihm brachte sie Blau in Verbindung. Blau stand bei ihr für Loyalität, Zuverlässigkeit und eine Beschützermentalität. Als Farbe für sein Selbstbewusstsein würde sie noch ein wenig Weiß mit ins Spiel bringen und eine weitere Akzentfarbe sowie vielleicht einen kleinen Schuss Gelb, um den starken Unabhängigkeitsdrang auszudrücken, den sie bei ihm vermutete.

Als es jetzt an der Tür läutete, erschrak Eden und presste sich die Bettdecke an die Brust.

Böse Menschen läuten doch nicht.

Außerdem hatte sie wirklich sehr sorgfältig ihre Spuren verwischt. Zwei Mal hatten sie das Taxi gewechselt, bevor sie den Wagen gekauft hatte, und jedes Mal hatte sie ihr Aussehen verändert, genau so, wie die Bundespolizisten Walter und Brown sie instruiert hatten. Langley würde sie hier bestimmt nicht finden.

Bitte nicht, Gott!

Wieder läutete es, und ihr wurde bewusst, dass Paige wahrscheinlich gar nicht mehr zu Hause, sondern schon auf dem Weg in die Kirche war. Sie stand also schnell, aber so leise sie konnte auf, weil sie auf keinen Fall Micah wecken wollte, tapste barfuß durch den Flur und war sich dabei bewusst, dass sie eine geliehene Yogahose und nur ein dünnes Hemd trug. Als sie durchs Wohnzimmer kam, sprang Paiges graue Katze vom Sofa und folgte ihr zur Tür.

Beim Blick durch den Spion sah sie ein bekanntes Gesicht, öffnete deshalb die Tür und verschränkte die Arme vor dem Körper, um sich vor der eisigen Luft draußen zu schützen.

„Guten Morgen“, sagte sie.

Bei Tageslicht sah Beau noch besser aus. Er war frisch rasiert, und sie bemerkte, dass er zwei kleine Kerben im Kinn hatte, so als hätte er sich geschnitten.

„Kann ich hereinkommen?“, fragte er.

Sie trat zur Seite, und ein würzig maskuliner Duft strich an ihr vorbei, als sie die Tür wieder schloss.

Er rieb sich die Hände, während die Katze um seine Beine strich, und sagte: „Heute morgen sehen Sie schon ausgeruhter aus.“

„Ich bin gerade erst vor ein paar Minuten aufgewacht“, erklärte sie, strich sich das kurze Haar hinter die Ohren und versuchte, es etwas zu ordnen, obwohl sie wusste, dass das ziemlich zwecklos war. Außerdem war es sowieso egal, wie sie aussah, denn er hatte ja eine Freundin. Wahrscheinlich tat sie ihm einfach leid, denn man brauchte keine übersinnlichen Fähigkeiten, um das Mitleid in seinem Blick zu erkennen.

Sie trat von der Tür weg und fragte sich, wieso er wohl gekommen war.

„Möchten Sie einen Kaffee?“, fragte sie, zog dann aber eine Grimasse und fuhr fort: „Aber wahrscheinlich wäre es gut, auch zu wissen, wo der Kaffee ist, wenn ich Ihnen welchen anbiete, oder?“

Er hatte ein nettes Lächeln, und die kleine Furche neben seinem linken Mundwinkel war fast ein Grübchen – aber nur fast.

„Da machen Sie sich mal keine Gedanken“, beruhigte er sie. „Ich habe gerade schon einen Kaffee gehabt. Aber zu Ihrer Information: Der Kaffee steht links von der Spüle, nur für den Fall, dass Sie jetzt erst mal eine Dosis Koffein brauchen.“

„Ich glaube, was ich noch dringender brauche, ist eine heiße Dusche“, erklärte sie.

Beau nahm die Katze vom Boden auf, die daraufhin sofort zu schnurren begann, und sagte mit einem schiefen Grinsen: „Sie haben noch gar nicht gesagt, was Sie eigentlich in unsere Stadt führt. Dass zurzeit nicht gerade Hochsaison für Touristen ist, ist Ihnen ja wahrscheinlich auch klar, oder?“

Er bemühte sich dabei zwar um einen scherzhaften Ton, aber sie wusste aus Erfahrung, wie misstrauische Fragen klangen.

„Wir sind nur auf der Durchreise, aber mein Wagen ist liegengeblieben“, antwortete sie.

Er nahm eine Krippenszene aus Keramik in die Hand, die als Weihnachtsdekoration aufgestellt war, stellte sie dann wieder hin und fragte: „Woher kommen Sie denn?“

„Aus dem Süden. Aber ich habe schon überall gelebt. Ich bin gern unterwegs und immer offen für Neues.“

Vielleicht hatte Paige ihn geschickt, um nach dem Rechten zu sehen und sich zu vergewissern, dass sie sich nicht mit ihrem Laptop oder anderen Wertsachen aus dem Staub gemacht hatte. Paige war wirklich nett zu ihnen gewesen – und Beau war es auch.

„Ich lasse für Paige eine Nachricht da, um mich zu bedanken“, sagte sie deshalb zu Beau. „Ich bin wirklich sehr dankbar für Ihre Gastfreundschaft, und die zerbrochene Scheibe ersetze ich natürlich, sobald ich …“

Aber er winkte nur ab und entgegnete: „Ach, da machen Sie sich mal keine Gedanken. Eigentlich bin ich nämlich gekommen, um Ihnen zu sagen, dass …

Als er plötzlich mitten im Satz innehielt, schaute sie ihm ins Gesicht und sah, dass er die Lippen fest zusammengepresst hatte.

Sie folgte seinem Blick zu der Reihe von Blutergüssen auf ihrem Oberarm – Resultat ihrer kleinen nächtlichen Rangelei in dem Schuppen.

„Oh nein …“, sagte er, streckte seine Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen ganz, ganz sachte ihre Haut.

„War ich das?“, fragte er.

Die Berührung und seine belegte Stimme sorgten für Gänsehaut bei ihr, und sie entzog ihm rasch den Arm, weil sein Blick und ihre Reaktion darauf sie verlegen machten.

„Ach was … das ist doch fast nichts“, erklärte sie. „Beim Raufen mit Mi … Jack habe ich mir schon schlimmere blaue Flecken geholt.“

Doch ihre Worte änderten nichts an seiner gequälten Miene – die sie noch schlimmer fand als sein Mitleid.

„Es tut mir wirklich leid“, sagte er, woraufhin sie die Arme vorm Körper verschränkte, sodass man die blauen Flecke nicht mehr sehen konnte, und antwortete: „Ich bin sehr dankbar, dass ich einen warmen Platz zum Schlafen hatte. Paige war so nett zu uns, und sie hat uns zum Aufwärmen sogar noch eine tolle Suppe gekocht.“

„Also, wenn sie Ihnen etwas von ihren Dosensuppen abgegeben hat, dann muss sie Sie wirklich ins Herz geschlossen haben“, bemerkte er in scherzhaftem Ton.

Das war schon möglich, aber Eden hatte nicht vor, diese Gastfreundschaft auszunutzen. „Also …“, sagte sie und machte einen Schritt Richtung Flur. „Dann werde ich jetzt mal Jack wecken, und in ein paar Minuten sind wir dann auch schon verschwunden. Sie können Paige ausrichten …“

 

„Also eigentlich …“, sagte er und machte wieder einen Schritt auf sie zu, „… bin ich gekommen, um Ihnen zu sagen, dass ich zusammen mit Paige und meinen Brüdern zu dem Schluss gekommen bin, dass wir doch einen Job für Sie haben.“

Wollte er ihr etwa weismachen, dass sich zwischen gestern Abend und heute Morgen ein neuer Job aufgetan hatte? Sie mochte zwar völlig mittellos und ohne Dach über dem Kopf sein, aber sie war nicht dumm. Sie merkte, wie ihr die Röte vom Hals aufwärtsstieg, und fand es ganz furchtbar, dass sie es sich nicht leisten konnte, ein Angebot, wie auch immer es aussehen mochte, auszuschlagen.

Deshalb hob sie fast ein wenig trotzig das Kinn, versuchte zu lächeln und sagte: „Ach ja?“

„Unsere Tante Trudy, die mit mir und meinem Bruder Riley auf der Farm lebt, hat sich das Bein gebrochen und liegt im Krankenhaus, wird aber demnächst entlassen. Sie wird allerdings noch eine ganze Weile Hilfe brauchen und muss außerdem ein paarmal in der Woche zur Physiotherapie in die Stadt begleitet werden. Ich habe im Moment sehr viel mit der Weihnachtsbaumplantage zu tun, denn wir öffnen am Tag nach Thanksgiving. Riley arbeitet mit mir zusammen auf der Farm, und Zac – das ist unser anderer Bruder – leitet das Roadhouse. Das ist ein Lokal etwas außerhalb der Stadt direkt am Meer“, erklärte Beau.

„Da habe ich gestern auch nach einem Job gefragt“, erinnerte sie sich. „Ich glaube, ich habe dort mit einem Kellner gesprochen.“

„Das kann sein“, sagte Beau daraufhin. „Zac stellt im Moment nicht ein.“

„Ja, das hat man mir auch gesagt“, bestätigte sie.

„Also, noch einmal zurück zu dem Job bei uns auf der Farm … unsere Tante muss also zu ihren Therapieterminen begleitet werden, aber noch wichtiger ist, dafür zu sorgen, dass sie sich möglichst ruhig verhält. Wir brauchen für fünf bis sechs Wochen – also etwa bis Weihnachten – jemanden, der den Haushalt führt. Sie müssten kochen, putzen und sich um die Wäsche kümmern – und Tante Trudy zur Therapie fahren.“

Das klang eigentlich nach einem ganz guten Angebot, aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass er noch irgendetwas zurückhielt. Und außerdem war sie für diese Tätigkeit eigentlich überhaupt nicht qualifiziert. Doch im Moment hätte sie sogar eine Stelle als Buchhalterin angenommen und auch falsche Aussagen über ihre Qualifikation gemacht, um an einen Job zu kommen.

„Also wir bräuchten möglichst schnell jemanden – genau genommen in ein paar Stunden. Um die Referenzen können wir uns ja auch nachträglich noch kümmern. Könnten Sie sich vorstellen, diese Aufgabe zu übernehmen?“

In Gedanken ging sie noch einmal durch, was dagegensprach, und zwar erstens, dass sie keine Referenzen vorzuweisen hatte, und zweitens, dass sie keine Papiere hatte, weder Ausweis noch Führerschein, noch sonst etwas. Vielleicht würden sie sie ja auch schwarz arbeiten lassen, aber darüber würde sie sich später Gedanken machen.

„Ja, klar“, antwortete sie deshalb. „Vielen Dank.“

Er nannte ihr das Gehalt und fügte dann noch hinzu: „Paige hat gesagt, sie würde Ihnen gern als Teil der Vergütung das Zimmer vermieten – wenn es Ihnen recht ist. Sie müssten es allerdings mit Ihrem Sohn teilen.“

Eden atmete einmal ganz lange und langsam aus. Dass es ihr recht war, drückte nicht annähernd aus, wie erleichtert und dankbar sie über diese Regelung war. So dankbar, dass sie einen Kloß im Hals hatte und heftig schlucken musste.

„Das … also das ist wirklich großartig. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen allen bin.“

„Ach was …“, sagte er achselzuckend. „Wir brauchen eine Haushälterin, und Sie brauchen einen Job – das passt doch perfekt.“

Wo er recht hatte, hatte er recht.

Als ihr jetzt die Tränen kamen, blinzelte sie sie weg und saugte den warmen Blick seiner schokoladenbraunen Augen auf. Dabei merkte sie, dass dieser Blick nicht mehr mitleidig war, sondern einfach mitfühlend.


SIEBEN

Die Frau um die sechzig, die in dem provisorischen Schlafzimmer in einem Doppelbett lag, schaute Eden finster an. Sie hatte silbergraues Haar, ein schmales Gesicht und auffällig blaue Augen. Um die Augen herum hatte sie ein Gespinst aus feinen Fältchen, aber die beherrschenden Linien in ihrem Gesicht waren die beiden senkrechten Falten zwischen ihren spärlichen Augenbrauen. Ihr eines Bein war eingegipst und lag steif und klobig auf dem hellblauen Bettlaken.

„Wer ist denn das?“, fragte Miss Trudy missmutig.

Beau lächelte Eden entschuldigend an und sagte dann zu seiner Tante: „Also wirklich, Tante Trudy, so kannst du doch nicht mit einem Gast umgehen! Kate wird uns den Haushalt führen, und es wäre vielleicht klüger, ein bisschen netter zu ihr zu sein.“

Daraufhin wurde Miss Trudys Blick noch finsterer, und sie fragte: „Ihr habt einen Babysitter für mich engagiert?“

„Jetzt sei doch nicht albern“, sagte Beau. „Wieso sollten wir denn für dich einen Babysitter engagieren? Das ist Kate – und jetzt stelle ich gerade fest, dass ich Ihren Nachnamen noch gar nicht kenne.“

„Du hast also eine völlig unbekannte Person als Babysitter für mich eingestellt?“, fragte Miss Trudy empört.

Bei dem barschen Tonfall der Frau drückte sich Micah immer fester an Eden.

„Bennet“, sagte Eden auf Beaus Bemerkung und spürte, wie sie unter dem prüfenden Blick der älteren Dame rot wurde.

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Trudy. Das hier ist mein Sohn Jack“, stellte sie sich und den Kleinen vor.

„Er bringt sicher ein bisschen Leben ins Haus, wenn ich bei der Arbeit bin“, sagte Beau.

„Ja, großartig! Bettruhe, Schmerzen und einen lärmenden Jungen im Haus. Genau, wie es der Doktor verordnet hat“, bemerkte die Frau mit Zynismus in der Stimme.

Beau warf Eden einen entschuldigenden Blick zu und sagte: „Tut mir leid. Normalerweise ist sie nicht so unleidlich. Na ja, eigentlich doch, aber sie hat einen weichen Kern. Man muss nur ein wenig graben, um ihn zu finden.“

Die Farbe, die ihr zu der direkten Art von Beaus Tante sofort in den Sinn kam, war Indigo. „Wir werden bestimmt gut miteinander auskommen“, sagte sie.

Beau überreichte ihr die Entlassungspapiere der Klinik mit den Anweisungen für zu Hause und sagte: „Miss Trudy soll nichts Schweres heben, aber daran wird sie sich nicht halten, und deshalb sollen Sie sie daran hindern, sich zu überanstrengen. Sie hat in der Klinik zwar Krücken bekommen, aber ich weiß nicht, wie sie damit zurechtkommt.“

„Ach, das bekommen wir schon hin. Mi … also mein Sohn hat sich auch einmal das Bein gebrochen, als er drei war. Wenn ich einen drei Jahre alten Jungen dazu bringen kann, sich ruhig zu verhalten, dann schaffe ich das bei Ihrer Tante bestimmt auch“, versicherte sie.

„Das habe ich gehört!“, war Tante Trudys empörte Stimme durch die Wand zu hören. „Ich bin kein Kind mehr, merkt euch das.“

Ups. Eden biss sich auf die Unterlippe.

Beau senkte die Stimme und sagte: „Ich hätte Sie warnen sollen. Sie hat ein geradezu bionisches Gehör.“

Eden musste über das Gesicht lachen, das er dabei machte, und ihr Lachen klang sogar für ihre eigenen Ohren ziemlich eingerostet.

„Wenn es Ihnen gelingt, sie aus der Küche fernzuhalten“, fuhr Beau leise fort, „dann grenzt das an ein Wunder. Sie ist nämlich eine Art Kontrollfreak, und die Küche ist auf jeden Fall ihr Hoheitsbereich.“

„Okay, ich soll sie aus der Küche fernhalten. Kapiert. Sonst noch etwas?“

„Es sieht im ganzen Haus total chaotisch aus, und die Lebensmittelvorräte sind aufgebraucht, weil es hier in der Zeit, seit sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde, unglaublich hektisch zugegangen ist. Wir sind also mit allem zufrieden, was Sie uns zum Abendessen zaubern“, erklärte er.

„Verstanden“, sagte sie darauf nur.

Dann blätterte er einen Stapel Papiere durch, die in der Küche auf einer Ablage lagen, und gab ihr ein Blatt davon. Es war das W-4-Formular, die Vollmacht des Arbeitnehmers an den Arbeitgeber, die Steuer direkt vom Lohn abzuziehen und abzuführen. Als sie es sah, wurde ihr ziemlich mulmig zumute.

„Bitte füllen Sie das doch bei Gelegenheit aus, ja?“, bat Beau sie.

„Sonst noch etwas?“, fragte sie rasch, um die Sache möglichst schnell hinter sich zu bringen.

„Wo ist mein Strickkorb?“, rief Miss Trudy in dem Moment. „Und was ist das für ein Geruch? Es stinkt nach Babykotze.“

Als Eden Beau daraufhin fragend ansah, zwinkerte er ihr erheitert zu, und sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Ich bin sofort bei Ihnen, Miss Trudy“, rief sie zurück.

„Ihre Stricksachen sind wahrscheinlich in der Tasche, die sie aus dem Krankenhaus mitgebracht hat“, sagte Beau. „Ich muss noch ein paar Stunden nach draußen und arbeiten, aber Sie können mich immer auf dem Handy erreichen.“ Er schrieb ihr die Nummer auf einen kleinen Zettel und sagte dann noch: „Ich lasse Ihnen auch Zacs und Rileys Nummer da, aber rufen Sie bitte immer zuerst mich an. In der Schreibtischschublade liegt Geld für Notfälle.“ Er zog die Schublade auf und zeigte ihr einen kleinen Packen Zwanzigdollarscheine, der zwischen Stiften und Rechnungen lag. „Wenn Sie einkaufen gehen wollen, sagen Sie mir bitte Bescheid, dann gebe ich Ihnen Geld. Sie können Tante Trudys Wagen benutzen – hier sind die Schlüssel. Riley und ich kommen gegen sechs nach Hause. Manchmal kommt auch Zac zum Essen vorbei, aber normalerweise nicht. Jack und Sie sind natürlich herzlich eingeladen, mit uns zu essen.“ Er legte einen Scheck auf den Tisch und fuhr fort: „In Anbetracht der besonderen Umstände habe ich gedacht, dass es vielleicht ganz gut ist, wenn ich Ihnen die erste Woche im Voraus bezahle.“

Eden wurde ganz warm ums Herz bei so viel Umsicht, und sie sagte: „Vielen Dank, das ist wirklich nett von Ihnen.“

„Anscheinend muss ich aufstehen und mir mein Strickzeug selbst holen!“, rief Miss Trudy in diesem Moment.

Beau grinste Eden an und sagte: „Das ist mein Stichwort.“

Als er weg war, flitzte Eden ins Wohnzimmer und fand dort den Strickkorb mit einem gerippten, blaugrauen Strickzeug. Sie brachte ihn Miss Trudy, die das Strickzeug nahm und wortlos zu stricken begann.

Micah hatte inzwischen aufgehört zu malen und schaute sich einen Zeichentrickfilm im Fernsehen an. Nachdem Eden Miss Trudy versorgt und im Haus für Ordnung gesorgt hatte, kümmerte sie sich um das Abendessen. Sie schaute ins Tiefkühlfach und fühlte sich völlig überfordert. Sie hatte gehofft, dort etwas Einfaches zu finden, etwas in einer Packung mit einer Gebrauchsanweisung auf der Rückseite, aber es gab nicht ein einziges Fertiggericht, sondern nur tiefgekühlte Hähnchenbrüste und Hackfleisch. Sie hatte keine Ahnung, was sie damit anstellen sollte.

Sie hatte sich eigentlich immer gewünscht, Kochen zu lernen, und nach ihrer Heirat mit Antonio hatte sie sich vorgestellt, ihm jeden Abend ein viergängiges Candlelight-Dinner zu servieren, aber davon hatte er nichts wissen wollen. In der Welt, in der er lebte, war das nicht die Aufgabe einer Ehefrau. Dafür hatte man Personal. Das Äußerste, was sie in dieser Beziehung hatte erreichen können, war, ihm nach Micahs Geburt auszureden, eine Nanny einzustellen.

Als sie Miss Trudy gefragt hatte, wo ihre Kochbücher wären, hatte die Frau nur laut und spöttisch gelacht und dann gesagt: „Richtige Köche brauchen kein Rezept.“

Eden wünschte, sie hätte daran gedacht, Beau zu fragen, ob sie den Computer benutzen dürfe. Sie brauchte jetzt dringend den Rat einer Expertin, aber als sie in Miss Trudys Zimmer schaute, lag sie mit geschlossenen Augen da, und ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Eden brachte es nicht übers Herz – und hatte auch nicht die Nerven –, sie zu wecken, und zog deshalb leise die Tür wieder zu.

Es sah also ganz so aus, als wäre sie in dieser Angelegenheit auf sich allein gestellt. Eden holte einmal tief Luft und atmete dann langsam wieder aus. Nun komm schon, Eden. Du hast wirklich schon Schlimmeres überstanden. So schwer kann es doch nicht sein, ein Abendessen zu kochen.

 

„Die Brötchen sind in einer Minute fertig“, sagte Kate, als sich die Familie um den Esstisch versammelte.

Beau sprach das Tischgebet und reichte die Schüssel Riley, der sie an Zac weitergab. Ihm hing der Magen schon in den Kniekehlen vor Hunger, aber als er den ersten Bissen von dem dampfenden Gulasch im Mund hatte, war er zunächst irritiert über die unterschiedlichen Temperaturen und Konsistenzen in seinem Mund. Die Sauce war heiß, aber irgendetwas – war es das Fleisch? – war noch hart und eiskalt. Die seltsame Konsistenz lenkte ihn vorübergehend von dem Geschmack ab, aber nicht lange.

Irgendein Gewürz, er wusste nicht so genau, was es war, schmeckte penetrant hervor, und er hoffte, so etwas nie wieder in den Mund zu bekommen.

Im selben Moment hustete Riley neben ihm, presste sich dann die Serviette vor den Mund, und Beau war sich ziemlich sicher, dass das Gulasch aus seinem Mund ein neues Zuhause gefunden hatte. Als er dann selbst den ersten Bissen hinunterwürgte, war er für einen Moment ein wenig neidisch auf seinen Bruder.

Sein Blick ging ganz kurz zu Kate, deren Blick fest auf ihren eigenen Teller gerichtet war, und auch ihr Sohn kaute mit gerunzelter Stirn.

„Herr im Himmel, was soll denn das sein?“

Tante Trudy!“, ermahnte Beau sie.

„Da ist ja genug Salbei drin, um zehn Jahre Hitzewallungen zu verhindern.“

Salbei – ja, genau, das war der penetrante Geschmack.

Kate wurde rot und erklärte: „Es tut mir wirklich leid, aber ich hatte kein Rezept – und ich wollte nicht ohne Erlaubnis den Computer benutzen.“

„Sie können ihn gern benutzen“, sagte Riley und hustete noch einmal. „Ich bitte Sie sogar inständig darum.“

Ganz kurz blitzte Angst in Kates Blick auf, und sie sagte: „Nächstes Mal wird’s besser – versprochen!“

Beau warf Riley einen finsteren Blick zu und sagte dann zu Kate, die ganz krank aussah: „Ist schon okay. Sie können den Computer jederzeit benutzen. Dann essen wir heute Abend eben einfach nur die Brötchen.“

„Was riecht denn hier so?“, erkundigte sich jetzt Tante Trudy misstrauisch, genau in dem Moment, als auch er den Geruch von etwas Verbranntem bemerkte.

„Die Brötchen!“, rief Kate, sprang auf und sauste in die Küche.

Rileys und Beaus Blicke begegneten sich über den Tisch hinweg, und Riley fragte: „Möchte noch jemand außer mir Chicken Wings aus dem Roadhouse?“


Beau brachte seinen Teller zur Spüle und fragte: „Kann ich Ihnen noch bei irgendetwas helfen?“

Sie waren fertig mit dem Essen, das sie geholt hatten, und seine Brüder richteten Tante Trudy ein Lager auf dem Sofa im Wohnzimmer her.

„Bitte nicht. Das hier ist ja wohl das Mindeste, was ich tun kann“, antwortete Kate, stellte die Teller ins Spülbecken, drehte sich dann um und sah ihn zerknirscht an. „Das mit dem Abendessen tut mir wirklich leid. Es kommt nicht wieder vor, versprochen.“

Ihre blonden Ponyfransen fielen ihr in die sorgenvoll gekrauste Stirn, und es juckte ihn in den Fingern, sie zurückzustreichen, sodass er sicherheitshalber die Hände in die Hosentaschen steckte.

„Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken. Sie haben ja auch nicht von sich behauptet, eine Sterneköchin zu sein.“

„Ich habe nicht viel Erfahrung im Kochen, aber ich lerne schnell. Wenn ich ein paar Rezepte habe, komme ich schon zurecht.“

„Das glaube ich auch“, beruhigte er sie, fragte sich aber, wie sie wohl als Mutter bisher ohne auch nur die geringsten Grundkenntnisse im Kochen zurechtgekommen war. Sogar er war ja in der Lage, ein paar einfache Gerichte zuzubereiten.

„Beau“, rief jetzt Zac vom Wohnzimmer aus. „Kommst du bitte mal?“

Er überließ das Aufräumen in der Küche Kate und Jack und ging wieder ins Wohnzimmer.

Das Sportprogramm im Fernseher dort war auf stumm geschaltet, und alle schauten Riley an.

„Was ist denn los?“, fragte Beau.

„Riley muss mit uns reden, sagt er“, antwortete Zac.

„Du hast eine Frau kennengelernt, oder?“, fragte Tante Trudy.

Riley verdrehte die Augen und antwortete entnervt: „Nein, Tante Trudy, habe ich nicht!“

Sie versuchte ständig, die Brüder unter die Haube zu bringen, was seltsam war, denn sie selbst hatte nach dem Tod ihres Mannes vor vierzehn Jahren jeden Versuch anderer abgewehrt, sie zu verkuppeln.

Rileys Gesicht wirkte versteinert. Seine Augenbrauen stießen über der Nasenwurzel zusammen, und sein Kinn war entschlossen vorgeschoben.

Seine Miene machte Beau Angst, und er beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und fragte: „Was ist denn los, Bruderherz?“

„Es ist eine Frau. Ich sag’s euch. Es ist diese Millie Parker aus dem Frumpy Joe’s, oder? Als wir das letzte Mal dort waren, hat sie wild mit dir geflirtet“, spekulierte Miss Trudy jetzt.

Riley zog eine Grimasse in ihre Richtung und sagte: „Wenn es eine Frau gäbe, dann würde ich sie doch ab und zu mit herbringen, oder? Nein, ich muss mit euch über meine Zukunftspläne reden. Ich …“, Riley starrte auf den Couchtisch zwischen ihnen und fuhr dann fort: „Ich habe mich freiwillig zu den Marines gemeldet.“

„Du hast was?“, fragte Zac völlig entgeistert.

„Grundgütiger …“, murmelte Tante Trudy.

Beaus Herz rumpelte einmal heftig, was eine Serie innerer Beben auslöste, und dann fragte er völlig entgeistert: „Wieso denn das?“

„Ich rede doch schon lange davon“, antwortete Riley.

„Reden tun wir ja über vieles, aber wir hätten doch nie damit gerechnet, dass du es wirklich ernst meinst“, sagte Beau mit gerunzelter Stirn.

Riley funkelte ihn angriffslustig an und sagte: „Ich schon.“

„Ohne es auch nur kurz mit uns zu besprechen?“ Beau konnte nicht fassen, dass sein Bruder eine so wichtige Entscheidung getroffen hatte, ohne sie dazu um ihre Meinung zu fragen. Das sah ihm eigentlich gar nicht ähnlich.

„Ich bin vierundzwanzig und brauche eure Zustimmung nicht“, bemerkte Riley nur.

„Und wann geht’s los?“, erkundigte sich Zac.

„In vier Wochen.“

„Also noch vor Weihnachten?“, fragten Beau und Miss Trudy fassungslos wie aus einem Mund.

„Unserem ersten Weihnachten ohne Vater?“, fügte Beau hinzu.

„Wir hatten doch auch vorher schon kein richtiges Weihnachten mehr“, antwortete Riley darauf nur.

Sie hatten wirklich nicht mehr richtig Weihnachten gefeiert, seit ihre Mutter vor zwölf Jahren an Heiligabend gestorben war. „Aber trotzdem … ausgerechnet in der Zeit, in der auf der Farm mit den Weihnachtsbäumen am meisten zu tun ist, und bei all dem, was sonst noch nebenbei läuft … genau da beschließt du abzuhauen?“

„Ich hau nicht ab, sondern ich schließe mich der Army der Vereinigten Staaten von Amerika an“, erklärte er.

„Na, wenn du es sagst …“, sagte Beau ironisch.

„Jetzt hör auf, so zu reden, als wäre ich feige. In den meisten Familien ist man stolz, wenn jemand aus den eigenen Reihen zur Army geht.“

Das kurze Schweigen darauf verstärkte die Anspannung im Raum noch.

Beau sah Riley scharf an, aber Zac legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: „Lass mal gut sein, Beau. Es ist nun mal so.“

„Wir haben doch schon unsere Eltern verloren, und jetzt setzt du irgendwo am anderen Ende der Welt dein Leben aufs Spiel. Was, wenn du in einem Leichensack zurückkommst, was dann?“

Riley verdrehte die Augen und antwortete: „Ich werde nicht sterben, Beau.“

„Das kannst du doch gar nicht wissen“, entgegnete der.

„Jetzt kommt schon, Leute“, sagte Zac. „Beruhigt euch mal. Wir schlafen jetzt erst einmal eine Nacht darüber und reden dann morgen weiter, ja?“

Beau stand auf, ging im Zimmer auf und ab und sagte: „Ich fass es einfach nicht, dass du das gemacht hast.“

„Und ich fasse es einfach nicht, dass du darauf so reagierst“, entgegnete Riley.

„Weiß Paige es eigentlich schon?“, erkundigte sich Beau jetzt.

„Warum sollte ich es ihr denn sagen?“, fragte Riley daraufhin. „Na, weil sie dich lieb hat, du Blödmann. Schließlich bist du schon seit einer Ewigkeit ihr bester Freund.“

Darauf reagierte Riley nur mit einem frustrierten Schnauben.

„Aber offenbar bedeuten dir zehn Jahre Freundschaft ja nicht so besonders viel. Hast du eigentlich überhaupt an jemanden außer dich selbst gedacht, als du diese Entscheidung getroffen hast?“, fragte Beau. Da kam Riley auf ihn zu und sagte mit zynischem Unterton: „Ach, das musst du gerade sagen.“