Wie Schneeflocken im Wind

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DREI

Eden hievte den Trageriemen des Rucksacks weiter hoch auf ihre Schulter. Der auffrischende Wind blies ihr eiskalt ins Gesicht, und die Kälte drang durch ihre dünne Jacke, sodass sie fror bis auf die Knochen. Ihr war klar, dass es Micah nicht besser erging. Sie waren nicht vorbereitet auf den kalten Winter in Maine – nein, sie waren auf nichts von alldem hier vorbereitet.

Ihr leerer Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Was ihr Auto anging, da konnte sie im Moment absolut nichts tun, aber gegen den Hunger schon. Als sie ein Stück die Straße hinauf ein kleines Esslokal erspähte und ihr der Geruch von gegrillten Burgern in die Nase stieg, atmete sie tief ein und fragte Micah: „Riecht das nicht gut?“

Das Lokal war gut besucht von Mittagsgästen, und Servicepersonal in grünen Schürzen lief herum, füllte Kaffee nach und balancierte Tabletts mit vollen Tellern oder benutztem Geschirr. Alle Nischen waren besetzt, aber am Tresen gab es noch ein paar freie Plätze.

Durch den Pass rief ein Mann Mitte fünfzig fertige Bestellungen aus, während er gleichzeitig Burger-Frikadellen wendete und Pommes in der Fritteuse versenkte. Ein grauer Pferdeschwanz hing ihm unter seiner weißen Papiermütze im Nacken heraus, und auf seiner Nase saß völlig schief eine Nickelbrille. Eden fragte sich, ob das wohl Frumpy Joe war.

Micahs Blick schoss wild in dem Gastraum umher, und er klammerte sich gleichermaßen fest an seinen Teddybären und an ihr Bein. Als eine der Kellnerinnen ihnen zunickte, zog Eden Micah zu einem der leeren Hocker ganz in der Nähe der Tür und schaute sich dann noch einmal gründlich in dem Lokal um. Da waren eine dreiköpfige junge Familie, ein grauhaariger Geschäftsmann, der in der Harbor Tides las, und zwei Frauen mittleren Alters, die laut miteinander lachten. Ein etwas abgerissen und ungepflegt wirkender Mann starrte sie von seinem Platz ein paar Hocker weiter aus neugierig an.

Ein Schauer durchfuhr sie, und sie schaute weg. Es ist niemand, Eden. Nur irgendein gruseliger Typ, aber sie packte die Speisekarte etwas fester.

Sie gab ihre Bestellung auf, und dann gingen sie noch einmal zur Toilette und wuschen sich die Hände, während sie auf ihr Essen warteten. Eden hatte sich genau überlegt, was sie machen würden. Sie würden sich im billigsten Hotel in Summer Harbor ein Zimmer mieten und dann in den nächsten beiden Tagen Schlaf nachholen, so gut es ging. Das war sicher anders geplant gewesen, aber sie war bis hierher wirklich vorsichtig gewesen, sodass es höchstwahrscheinlich sicher war, vorübergehend in dieser Stadt unterzutauchen, die weit ab vom Schuss und von den ausgetretenen Pfaden lag.

Ihr Blick und der des abgerissenen Mannes begegneten sich, und sie schaute rasch weg. Sie war froh, wenn sie hier fertig waren und wieder gehen konnten, denn ihr Bedarf an gruseligen Typen war für ihr Leben lang gedeckt.

Kurze Zeit später aß Eden den letzten Bissen ihres Burgers und schob ihren Teller von sich weg. Micahs dünne Beine baumelten von dem hohen Hocker, und seine Superman-Tennisschuhe reichten nicht einmal bis zu der Sprosse für die Füße. Er brauchte unbedingt ein Paar feste Stiefel – und sie auch.

„Kann ich noch was für Sie tun?“, fragte die Kellnerin und lächelte sie freundlich an. Dabei bildeten sich in ihren Augenwinkeln Unmengen kleiner Fältchen. Ihr rotes Haar war genauso künstlich wie Edens neue blonde Kurzhaarfrisur.

„Nein danke“, antwortete Eden, zog ihre Mütze noch etwas tiefer ins Gesicht und schaute nach unten.

Lass dich nicht auf ein Gespräch ein. Mach dich unsichtbar.

Die Kellnerin riss die Rechnung von ihrem Block ab und legte sie auf den Tresen. Als die Frau durch das Lokal wieder wegging, ließ Eden ihren Blick noch einmal durch den Raum schweifen. Sie hatte auch zuvor schon geglaubt, sie wären sicher, und war unvorsichtig geworden – und sie hatte ja erlebt, wozu das geführt hatte. Sie hatte immer mehr das Gefühl, dass Sicherheit – Freiheit – eine Illusion war.

Mach einfach weiter.

Sie hatten es doch beinah geschafft.

Micah zog eine lange Pommes durch den Ketchup und steckte sie in den Mund. Er hatte seinen Teller schon fast leer gegessen und dazu noch einen Becher Kakao getrunken. Sie fand es schön, ihn mit solchem Appetit essen zu sehen.

Plötzlich packte er sie am Pulli und krallte sich panisch daran fest. Er sah sie mit großen, schreckensweiten Augen an, und sein Atem ging schnell und stoßweise.

Sie legte ihre Hand auf seine und fragte: „Was ist denn? Was ist los, mein Schatz?“

Aber er wimmerte nur und versuchte, ihr mit Blicken etwas mitzuteilen.

Hatte er jemanden gesehen? Sie bekam Angst und ließ ihren Blick rasch noch einmal durch das ganze Lokal schweifen, aber niemand beachtete sie.

Micah griff sich mit den Händen an die Brust, als hielte er etwas, und seine braunen Augen füllten sich mit Tränen.

„Dein Teddy“, sagte Eden, als ihr langsam dämmerte, was los war, und Micah nickte.

„Er ist bestimmt irgendwo hier“, beruhigte sie ihn, hob den Rucksack vom Boden auf und durchwühlte ihn, aber dort war der Teddy nicht.

„Du hast ihn doch mit hier hereingebracht, erinnerst du dich? Du hattest ihn auf dem Arm. Wir finden ihn bestimmt wieder.“ Sie schaute unter ihren Hockern nach, und dann erinnerte sie sich. „Auf der Toilette. Du hast ihn bestimmt auf der Toilette liegengelassen.“

Sie stieg von ihrem Hocker, zog Micah mit sich und drückte sich um die Ecke zur Damentoilette, die nur ein paar Schritte entfernt war. Dort stieß sie die Schwingtür auf und öffnete die Kabine, in der Micah gewesen war. Und tatsächlich, da saß der blaue Bär mit dem kleinen Strohhut auf dem Toilettenpapierhalter. Mit einem erleichterten Seufzer drehte sie sich um und sagte: „Schau mal, wen ich gefunden habe.“

Micah nahm seinen Teddy, dessen blaues Fell schon ziemlich abgeliebt war, dessen gelber Strohhut am Rand ausfranste und an dessen Weste ein Knopf fehlte, und drückte ihn fest an sich. Dieser Teddy hatte schon so viel gemeinsam mit dem Jungen durchgestanden.

Eden beugte sich vor und wischte Micah die Tränen ab. Seine Wangen waren noch babyweich, und seine dunklen Wimpern waren nass von Tränen. Die hellbraunen Augen hatte er von ihr, aber den dichten schwarzen Haarschopf ganz klar von Antonio.

„Siehst du, er ist gesund und munter. Alles wird gut.“

Alles, Micah. Ich versprech’s dir. Sie drückte ihn fest an sich, stand auf und nahm ihn dann auf den Arm. Er wurde größer und auch schwerer.

Sie verlagerte sein Gewicht auf ihrem Arm, als sie die Toilette verließen und zu ihren Hockern zurückgingen, und freute sich schon auf einen schönen, langen Mittagsschlaf. Micah trank seinen Kakao aus, und sie griff nach dem Rucksack, um zu bezahlen, aber er war nicht mehr da.

Eden drehte sich um und schaute sich in der unmittelbaren Umgebung ihres Platzes um, aber ihre Tasche war nirgends zu sehen.

Mit Micah an der Hand hastete sie noch einmal zurück zur Toilette, obwohl sie eigentlich sicher war, dass sie den Rucksack nicht mit dort hingenommen hatte, aber wo sollte er sonst sein? Sie drückte die Tür zu der Kabine noch einmal auf und bekam langsam Panik. Vielleicht hatte die Kellnerin gedacht, sie wären schon gegangen, und hatte den Rucksack hinter den Tresen gestellt.

Ja, so musste es sein. Natürlich!

Mit weichen Knien hastete sie wieder zurück und glaubte eigentlich selbst nicht so recht an diese Möglichkeit.

„Entschuldigen Sie bitte“, rief sie, als die rothaarige Kellnerin hinter dem Tresen vorbeikam. „Haben Sie vielleicht meinen Rucksack gesehen? Ich hatte ihn hier auf dem Boden abgestellt.“

„Nein, tut mir leid. Sind Sie sicher, dass Sie ihn dabeihatten?“

„Ja, ganz sicher“, antwortete sie.

Das Geld! Edens Herz klopfte jetzt so heftig, dass sie glaubte, man könnte es von außen sehen. Ihr gesamtes Geld war in dem Rucksack. Sie holte einmal tief Luft und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

„Entschuldigen Sie“, hörte sie da eine Frau in einer Nische rufen. „Suchen Sie einen grauen Rucksack?“

Mit einem Ruck drehte sich Eden zu der Frau um. „Ja. Haben Sie ihn gesehen?“

„Ich habe gesehen, dass ein Mann ihn mitgenommen hat. Der Mann, der da drüben gesessen hat“, sagte sie und zeigte auf einen der Hocker. „Er hat den Rucksack genommen und ist gegangen. Es ist erst ein paar Minuten her. Ich dachte, Sie gehören zusammen.“

Eden rannte nach draußen, Micah dicht hinter ihr, schaute erst links und dann rechts die Straße hinunter, aber der Mann war nirgends mehr zu sehen. Eine junge Frau ging in ein Geschäft neben dem Lokal.

„Entschuldigen Sie bitte“, rief Eden ihr zu. „Haben Sie hier gerade einen Mann entlanggehen sehen? Dunkler Mantel, etwas längeres Haar, ungepflegt?“

„Nein, leider nicht. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

Eden holte einmal tief Luft und dann noch einmal, und beim Ausatmen bildeten sich in der Kälte kleine Wölkchen vor ihrem Mund. „Nein, vielen Dank“, antwortete sie mit heftig klopfendem Herzen.

Es war noch gar nicht lange her, da hätte sie dieses Problem ganz einfach mit einem Gang zum Geldautomaten gelöst. Sie hätte lächelnd ihre Karte gezückt und alles kaufen können, was sie wollte.

Aber inzwischen war alles anders. Sie hatte kein Geld und auch keine Karte mehr, sondern nur noch die Kleider, die sie am Leib trugen, und einen kaputten Buick, den sie nicht reparieren lassen konnte, weil sie kein Geld hatte. Panik stieg in ihr auf.

 

Wie konntest du nur so blöd sein, Eden?

Da bimmelten die Glöckchen über der Eingangstür des Lokals, und die Kellnerin kam heraus, verschränkte gegen die Kälte die Arme vor der Brust und fragte: „Und, irgendeine Spur von ihm?“

Eden schaute sich noch einmal um, ließ ihren Blick den Bürgersteig entlangschweifen und antwortete dann: „Nein, nichts.“

Die Frau legte ihren Arm um Edens Schultern und sagte: „Kommen Sie erst einmal aus der Kälte, und dann rufen wir die Polizei, und die …“

„Nein!“, sagte Eden und machte sich los. „Ich meine … es ist schon gut. Nicht so schlimm.“

„Aber Sie wollen doch den Rucksack wiederhaben, oder? Je eher wir die Polizei rufen, desto besser. Sonst ist der Kerl über alle Berge.“

Die Polizei würde nach ihrem Namen, ihrer Adresse und ihrer Telefonnummer fragen, alles Informationen, die sie nicht preisgeben konnte. Sie durfte niemandem trauen. Ganz besonders nicht der Polizei.

„Ist schon gut. Ich komme schon zurecht“, sagte Eden und zog mit steifen, zittrigen Fingern den Reißverschluss von Zacs Jacke hoch.

„Also gut. Wenn es Ihnen so lieber ist. Aber es macht mir wirklich nichts aus, anzurufen.“

„Vielen Dank, aber wir müssen uns jetzt wieder auf den Weg machen“, sagte Eden, aber plötzlich stockte sie, denn ihr fiel siedendheiß ein, dass sie ja jetzt ihr Essen gar nicht bezahlen konnte.

„Hören Sie … in dem Rucksack war mein gesamtes Bargeld … ich werde die Rechnung bezahlen, sobald ich kann, und ich …“

„Glauben Sie mir, meine Liebe, die paar Dollar machen mich nicht arm. Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken.“ Und mit diesen Worten öffnete sie die Tür, schaute kurz auf Micah hinunter und dann noch einmal Eden an und sagte: „Ich hoffe, Sie bekommen Ihren Rucksack wieder.“ Dann ging sie zurück ins Lokal.

Eden schaute die Straße hinunter, ohne etwas zu sehen. Sie besaß keinen einzigen Cent mehr und nicht einmal einen Platz, um sich aufzuwärmen. Ein Motel kam jetzt natürlich gar nicht mehr infrage. Vielleicht konnten sie ja wieder zu der Autowerkstatt zurücklaufen und dort im Wagen übernachten, auch wenn es schrecklich kalt werden würde. Sie zitterte innerlich, und das Essen lag ihr jetzt schwer im Magen. Sie musste nachdenken.

Sie fasste Micah bei der Hand und ging mit weichen Knien und zittrigen Beinen Richtung Bibliothek. Dort konnten sie sich ein bisschen aufwärmen, während sie sich überlegte, wie es jetzt weitergehen sollte.

Als sie dort ankamen, fand sie ein stilles Eckchen in der Kinderbuchabteilung. Sie suchte ein paar Bücher für Micah heraus, damit er beschäftigt war, und setzte sich auf den kleinen Kinderstuhl neben ihm.

„Du schaust dir die Bücher an, und Mama denkt ein bisschen nach, okay?“

Sie waren noch etwa fünf Autostunden von Loon Lake entfernt, aber in so entlegenen Gegenden von Maine verkehrten keine Busse, und Taxis gab es auch nicht. Doch das war auch eigentlich egal, denn sie hatte ja ohnehin kein Geld, um die Fahrt zu bezahlen. Blieb also nur per Anhalter, und das konnte sie mit Micah zusammen nicht riskieren, selbst wenn es Autos gab, die in die Richtung fuhren – was sie bezweifelte. Besonders, da auch noch ein Unwetter angesagt war.

Das einzig Wertvolle, was sie noch besessen hatte – der Ring –, war schon verkauft. Sie schaute an sich hinunter auf ihre Designerjeans und den Kaschmirpulli, aber dafür würde sie secondhand nicht viel bekommen, und auch das Auto war nicht viel wert, selbst wenn es repariert war.

Sie würden also eine Weile hierbleiben müssen, eine andere Möglichkeit sah sie nicht. Sie musste sich vorübergehend einen Job suchen, und zwar so schnell wie möglich. Die Weihnachtszeit stand ja vor der Tür, und da würden in den Geschäften sicher Aushilfen gesucht. Wenn sie erklärte, dass ihr Ausweis gestohlen worden sei, dann hatte ja vielleicht jemand Erbarmen mit ihr. Sie hatte allerdings keine Ahnung, wohin mit Micah, wenn sie arbeitete. Vielleicht gab es ja einen Kindergarten, für den eine Assistentin gesucht wurde.

Aber ob das so kurz vor den Weihnachtsferien realistisch war?

Sie hatten kein Geld für Essen und auch keinen Platz zum Schlafen für diese Nacht, und dann war da ja auch noch der Umstand, dass es jemanden gab, der sie umbringen wollte.

Micah hatte die Bücher inzwischen wieder beiseitegelegt und ließ jetzt den Teddy auf seinem Schoß hopsen. Sie fragte sich, was wohl gerade in seinem Köpfchen vorging, und als sie ihm tief in seine braunen Augen schaute, entdeckte sie darin Sorge.

„Also … eine Planänderung“, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme einen munteren Ton zu geben. „Es sieht so aus, als müssten wir eine Weile hierbleiben. Ist doch vielleicht sogar ganz nett, ein bisschen am Meer zu bleiben, oder?“

Sie wartete auf eine Reaktion – hoffte darauf –, und er blinzelte auch, aber die Sorge in seinem Blick blieb.

„Ich suche mir einen Job, und dann bleiben wir ein bisschen in dieser netten kleinen Stadt. Was hältst du davon?“

Sie würde mit der Jobsuche in dem kleinen Esslokal beginnen, und wenn sie dort niemanden einstellten, würde sie es in den Geschäften an der Hauptstraße versuchen. Micah würde sie mitnehmen müssen auf Jobsuche, was zwar nicht so schön war für alle Beteiligten, sich aber nun mal nicht ändern ließ. Wenigstens sah sie in der schicken Jeans und dem edlen Pulli einigermaßen vorzeigbar aus.

Und dann gab es da noch ein weiteres entscheidendes Detail, das sie als Erstes angehen musste. Sie rutschte auf dem kleinen Stuhl hin und her und sagte schließlich: „Erinnerst du dich noch an das Spiel, das wir gespielt haben? Dieses Spiel, in dem du Adam heißt und ich Andrea?“

Micah nickte, und seine Augen leuchteten auf.

„Ja, ich weiß, dass du gewonnen hast. Aber nur mit einem Punkt und nur, weil ich einen Moment nicht aufgepasst habe.“

Ein Lächeln umspielte seine Lippen.

„Du warst richtig gut in dem Spiel, und ich möchte auch gerne weiterspielen, aber ich finde, wir fangen noch mal von vorne an, ja?“

Er runzelte so heftig die Stirn, dass sich seine Augenbrauen beinah in der Mitte trafen.

Sie wuschelte ihm durchs Haar und lachte leise. „Keine Sorge, du behältst deinen Punkt Vorsprung, aber wir machen es jetzt noch ein bisschen schwieriger, ja? Wir nehmen noch einmal neue Namen, und dieses Mal darfst du dir deinen sogar selbst aussuchen.“

Erwartungsvoll sah sie ihn an. Eines Tages würde sie ihm eine Frage stellen, und er würde antworten. Aber nicht heute, denn er starrte sie nur mit seinem unergründlichen Blick an.

„Wie wäre es denn mit SpongeBob?“, fragte sie mit ernster Miene.

Micah legte die Stirn in noch tiefere Falten und sah verwirrt aus. „Nein? Dann vielleicht Pinoccio?“

„Ach ja, richtig, der hatte ja dieses Problem mit dem Lügen. Und außerdem eine lange Nase, also ganz anders als du.“ Sie zwickte ihm ganz leicht in die Nase und fuhr fort: „Na ja, bleiben immer noch Banana, Ebenezer oder Pooter.“

Jetzt leuchteten seine Augen, und zum ersten Mal, seit sie auf der Flucht waren, sah sie ihn lächeln. Und dann schüttelte er heftig den Kopf.

„Ach, Mensch“, sagte sie und sah ihn jetzt streng an. „Ich hab ja gar nicht gewusst, dass du so wählerisch bist. Dann kann das mit einem neuen Namen ja dauern.“ Sie dachte an die Kinderserie, die er sich immer anschaute, die mit dem klugen, liebenswerten Helden, der immer irgendwie in der Patsche saß oder irgendwelchen Ärger hatte.

„Also all die guten Namen, die ich schon vorgeschlagen habe, willst du ja nicht, aber es gibt doch bestimmt einen. Zum Beispiel, ach, ich weiß auch nicht … Jack?“

Jetzt nickte er begeistert.

„Der gefällt dir also? Na gut, dann heißt du Jack. Jack Bennet“, sagte sie und borgte sich den Nachnamen von ihrer Lieblingsheldin aus einem Roman von Jane Austen aus. Dann wuschelte sie ihm noch einmal durchs Haar und erklärte: „Ich glaube, du gibst einen guten Jack ab. Und weißt du was? Ich wollte schon immer Kate heißen, also heiße ich in dem Spiel jetzt so.“

Dann legte sie ihm den Zeigefinger unters Kinn, hob seinen Kopf ein wenig und sagte: „Aber für dich bin ich immer noch Mama, Mister.“

Ihr Lächeln verflog, als ihr bewusst wurde, dass er sie schon seit Monaten gar nicht mehr angesprochen hatte.

Aber bald. Bald werde ich meinen Jungen wiederhaben.

„Okay, also gehen wir noch mal die drei Regeln durch, nur für den Fall, dass du sie vielleicht vergessen hast: Erstens: Du musst immer sofort reagieren, wenn jemand dich Jack nennt, sonst wird dir ein Punkt abgezogen. Zweitens: Du darfst niemandem deinen richtigen Namen sagen, sonst wird dir ein Punkt abgezogen. Und drittens: Dieses Spiel ist ein Geheimnis nur zwischen dir und Mama, und wenn du irgendjemandem etwas davon sagst, dann hast du das ganze Spiel verloren.“

Lächelnd nickte er.

„Du glaubst, dass du mich schlagen kannst, nicht wahr?“

Sein Lächeln wurde intensiver.

„Na, das werden wir ja sehen, Mr. Jack.“


VIER

Eden zog Micah etwas weiter vom Straßenrand weg, als ein Lastwagen vorbeidonnerte. Zwar boten die Bäume am Straßenrand etwas Schutz vor dem eisigen Wind, aber sie hatte noch nie eine so brutale Kälte erlebt. Sie vermisste zwar sonst absolut nichts von ihrem alten Zuhause, hätte aber alles gegeben für einen warmen, sonnigen Südstaatentag. Ihre Sportschuhe waren schon längst völlig durchweicht, sodass auch ihre Socken nass waren und ihre Füße sich anfühlten wie Eisklumpen.

Bei ihrer letzten Rast hatte sie Micahs Füße kontrolliert, die zum Glück noch trocken gewesen waren. Er war wirklich tapfer gewesen den ganzen Tag über, denn sie hatte so ziemlich in jedem Laden in der Stadt nach Arbeit gefragt – ohne Erfolg.

Wenigstens hatten sie kostenlos zu essen bekommen, denn die winzige Bibliothek feierte die Einweihung einer Erweiterung mit einem Tag der offenen Tür. Der Besuch war wegen des Wetters dürftig gewesen, aber Micah und sie hatten sich gütlich getan an den Snacks und für den Abend sogar noch ein paar Weihnachtsplätzchen eingesteckt. Darauf war sie bestimmt nicht stolz, aber es hatte sein müssen. Micah bekam bestimmt bald wieder Hunger, und sie hoffte, dass die Plätzchen eine Weile reichen würden.

Ein Auto fuhr vorbei und wich ihnen in einem großen Bogen aus. Die Sonne ging langsam unter, und es blieb ihnen jetzt nur noch eine Möglichkeit. In drei verschiedenen Geschäften hatte sie von den Besitzern erfahren, dass auf einer Weihnachtsbaumplantage eine Aushilfe gesucht wurde. Das wäre perfekt, aber die Farm mit der Plantage lag ein paar Kilometer außerhalb der Stadt, sodass sie diese Möglichkeit bis zum Schluss aufgehoben hatte. Sie hatte schon versucht, dort anzurufen, aber es war sofort der Anrufbeantworter angesprungen.

Micah entzog ihr seine Hand, und sie blieb stehen, während er sich den einen Schuh auszog.

„Was ist denn los, Jack?“, fragte sie ihn. Sie musste sich daran gewöhnen, ihn so zu nennen, und er musste sich daran gewöhnen, so zu heißen, deshalb hatte sie ihn heute sehr oft so angesprochen. „Hast du nasse Füße?“

Er schüttelte den Kopf und hielt sich an ihr fest, während er ein Steinchen aus seinem Schuh schüttelte.

„Na, wie ist denn der da hineingekommen?“, fragte sie und befühlte sicherheitshalber noch einmal seine Socke. Besorgt schaute sie dabei in den Wald, in dem es langsam dunkel wurde, während er sich den Schuh wieder anzog.

Sie fragte sich, ob sie ihre Spuren sorgfältig genug verwischt hatte oder ob Langley ihnen schon wieder auf den Fersen war. Sie musste noch einmal an ihre letzten Momente in der Schutzwohnung denken, und schon allein bei dem Gedanken bekam sie Herzrasen. Ihr Körper wurde von innen nach außen ganz kalt, und sie unterdrückte ein Zittern.

Ach, Walter, es tut mir so leid.

Jetzt nahm Micah wieder ihre Hand.

Sie zuckte zusammen und schob die Erinnerung möglichst weit weg von ihrem verletzlichen Sohn.

 

„Fertig?“

Als sie zehn Minuten später einen Hügel hinaufgegangen waren und um eine Kurve bogen, tauchte ein Schild auf.

„Callahan Weihnachtsbaumplantage“, stand darauf. „So, wir sind da, Mr. Jack. Und jetzt schauen wir mal, ob es hier einen Job für uns gibt.“ Das Schild war alt und rustikal mit leuchtend roten Buchstaben, aber die Beleuchtung war noch nicht eingeschaltet. Sie fragte sich, ob so spät an einem Samstagabend wohl überhaupt noch jemand im Büro war.

Sie bogen in die Auffahrt, und der frische Schnee knirschte unter ihren Füßen. Fichten in den unterschiedlichsten Größen säumten den Weg, und dahinter lag hügeliges, schneebedecktes Land, so weit das Auge reichte.

Kurz darauf gelangten sie zu einem Parkplatz, der noch nicht von Schnee geräumt war. In der Nähe des Parkplatzes stand eine große rote Scheune. Über einem Platz, wo, wie sie annahm, demnächst die bereits geschlagenen Bäume präsentiert werden würden, waren Lichterketten gespannt, die aber ebenfalls noch nicht eingeschaltet waren.

„Sieht so aus, als ob geschlossen ist. Wir versuchen es einfach mal im Haus. Die Frau in dem Laden hat gesagt, es wäre am Ende der Auffahrt.“

Bitte, Gott. Ich weiß, ich habe dich in letzter Zeit um ziemlich viel gebeten, aber ich brauche diesen Job unbedingt.

Doch selbst wenn sie ihn bekäme, würde das noch nichts an ihrer momentanen Notlage ändern. Es würde mit Sicherheit eine Woche dauern, bis sie ihren ersten Lohn bekäme, und wovon sollten sie bis dahin leben? Und wo sollten sie unterkommen?

Hör nicht auf zu glauben, Eden.

Ab und zu hörte Eden in ihrem Kopf Karens Stimme, so als wäre sie noch bei ihr. Diese ganz normalen, unkomplizierten Tage schienen schon so weit weg, so lange her, fast wie aus einer völlig anderen Welt. Karen wäre bestimmt sehr traurig über all die schlechten Entscheidungen, die Eden getroffen hatte.

Und du siehst ja auch selbst, wie weit sie dich gebracht haben!

Micah blieb plötzlich stehen und zeigte nach links. Ein schmaler Weg führte zu einem Schuppen aus Holz, aus dessen Dach ein Rohr ragte. Der Weg dorthin war ebenfalls nicht geräumt, und es waren auch keine Spuren darauf zu sehen.

„Ich glaube nicht, dass es das ist, Jack“, sagte sie.

Sie gingen also weiter die kurvige Auffahrt hinauf, und nachdem sie noch einmal eine kleine Steigung hinaufgegangen waren, sahen sie in der Senke dahinter ein Haus. Es war ein zweigeschossiges Farmhaus mit einer breiten, einladenden Veranda davor. Eden stieß einen leisen Seufzer aus, als sie die Fenster sah, hinter denen behagliches Licht zu sehen war.

Sie warf noch einmal einen Blick auf ihre Uhr, die billige, die sie erworben hatte, nachdem sie ihre Cartier-Uhr verkauft hatte. Es war fast Abendessenszeit – aber wenigstens war jemand zu Hause.

Kurz darauf stapften sie die Verandatreppe hinauf. Sie zog Micah ganz nah an sich heran und rieb seine Arme schnell und fest, um ihn warm zu halten, während sie gleichzeitig versuchte, ihre steifgefrorenen Zehen zu bewegen. „Alles in Ordnung, Jack?“

Er nickte. Seine Wangen waren gerötet, und seine Nase lief.

Sie streckte die behandschuhte Hand zur Klingel aus, aber im selben Moment ging auch schon die Tür auf. Sie trat einen Schritt zurück und zog Micah noch näher an sich heran.

Ein Mann blieb abrupt in der Tür stehen und zog seine dunklen Augenbrauen hoch, als sich ihre Blicke trafen. Er war groß, hatte schwarzes, etwas längeres Haar, und weil er auf der Schwelle stand, wirkte er riesig.

Sein Blick ging nach unten zu Micah, und dann schaute er wieder sie an. „Hallo“, sagte er.

„Hallo“, erwiderte sie. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, als sie sagte: „Ich wollte gerade bei Ihnen klingeln.“

Die Verandabeleuchtung warf Schatten auf sein kantiges Kinn, und das warme Licht betonte sein gutaussehendes Gesicht. Seine Augen waren so dunkelbraun, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Das war vielleicht auch der Grund, weshalb sie gar nicht wieder wegschauen konnte. Das – und vielleicht auch seine Ähnlichkeit mit Keanu Reeves.

„Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Ich wollte gerade nach draußen“, sagte er.

Er musterte ihr Gesicht, und zum ersten Mal seit Monaten fragte sie sich, wie sie wohl aussah. Sie widerstand dem Drang, sich eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte, wieder unter die Baseballkappe zu stecken, und hoffte, dass ihr neuer Blondton nicht allzu künstlich wirkte.

„Ich habe von Charlotte aus dem Frumpy Joes erfahren, dass Sie Jobs für Aushilfen auf der Weihnachtsbaumplantage zu vergeben haben.“

Seine Mundwinkel gingen nach unten, und er schaute betrübt drein.

„Ach, das tut mir wirklich leid, aber …“

„Ich bin schwere Arbeit gewohnt“, sagte sie schnell. „Ich lerne rasch und könnte sofort anfangen.“ Wie schon am Vortag kamen ihre Worte überhastet heraus und klangen deshalb vermutlich ziemlich verzweifelt, aber sein Blick bewirkte, dass sich Furcht wie eine kalte Hand in ihr Fleisch grub. „Und ich brauche auch nur vorübergehend etwas, sodass es eigentlich perfekt passen würde. Ich bin ziemlich belastbar und stärker, als ich aussehe.“

Sie trat einen Schritt zurück, weil er aus dem Haus kam und die Tür hinter sich zuzog, und mit dem Luftstrom dabei kam aus dem Inneren des Hauses ein unglaublich köstlicher Duft nach draußen, sodass ihr Magen heftig zu knurren begann.

„Ich würde Ihnen wirklich gerne helfen, aber die Stellen, die wir zu vergeben hatten, sind schon alle besetzt“, erklärte er.

„Schade“, sagte sie, und dabei kondensierte ihr Atem, sodass sich vor ihrem Mund ein Wölkchen bildete. Als kein Job, kein Geld, kein Essen und keine Unterkunft.

„Aber lassen Sie mir doch einfach Ihre Kontaktdaten da. Wenn es mit jemandem von den Leuten, die ich eingestellt habe, nicht klappt, rufe ich Sie an. Ein paar von ihnen sind Jugendliche – und Sie wissen ja, wie das ist.“

Nein, das wusste sie eigentlich nicht.

„Außerdem sind es auch nur Teilzeitjobs, und ich bin sicher, dass Sie dafür überqualifiziert sind.“

„Sie würden sich wundern“, sagte sie und stieß ein ironisches Lachen aus in der Hoffnung, dass er nicht merkte, was für einen schweren Schlag er ihr gerade versetzt hatte.

Er schaute auf die Uhr und sagte: „Ich muss jetzt wirklich los. Ich bin schon spät dran.“ Dann schaute er hinüber auf die Seite des Hauses, wo ein alter roter Pickup und ein Ford Explorer nebeneinanderstanden. „Sind Sie zu Fuß den ganzen Weg aus der Stadt hier herausgekommen?“

„Ja“, antwortete sie und versuchte, begeistert zu klingen, so als wäre der flotte Marsch das Highlight ihres Tages gewesen. „Sehr malerisch … sehr waldig. Es ist wunderschön hier.“

Er zog eine Augenbraue hoch und sah noch einmal auf Micah hinunter.

Sie zog ihren Handschuh aus, um ihre Daten aufzuschreiben, und merkte erst da, dass sie ja gar nichts zum Schreiben dabeihatte. „Haben Sie vielleicht einen Stift?“

„Ich kann die Nummer auch gleich in mein Handy eingeben“, sagte er und zeigte ihr sein Handy. „Ich heiße übrigens Beau. Beau Callahan.“

„Kate“, stellte sie sich vor, und wenn sie die Hand, die er ihr gab, ein bisschen zu lange festhielt, dann nur, weil sie so schön warm war. „Und das hier ist Jack“, fügte sie noch hinzu.

„Hallo, Jack“, begrüßte er auch den Jungen.

Und dann nahm Beau sein Handy und sah sie erwartungsvoll an.

Ach du liebe Zeit. Was hatte sie sich denn nur gedacht? Sie hatte doch gar keine Handynummer. Ja, sie hatte nicht einmal eine Adresse. Sie merkte, wie sie rot wurde, und wand sich unter seinem direkten Blick. „Ach – wissen Sie was? Am besten rufen Sie in dem Café an, wenn wieder irgendetwas frei wird. Im Frumpy Joes.“ Sie würde dort einfach jeden Tag nachfragen. Vielleicht sogar stündlich. „Hinterlassen Sie die Nachricht dann doch bitte bei Charlotte, ja?“

„Klar, das kann ich machen. Sind Sie mit den Duprees verwandt?“

„Äh …. nein“, antwortete sie rasch.

Er steckte sein Handy wieder in die Tasche, holte seine Autoschlüssel heraus und fragte: „Soll ich Sie wieder mit zurück in die Stadt nehmen? Ich fahre jetzt nämlich dorthin.“