Die Rosenlady und der Sekretär

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Die alte Dame ergreift ihr Monokel, entfaltet glänzenden Auges den Fächer, begleitet von den Worten: „Mein Kind, das ist ein ganz edler, aus feinster Ziegenhaut!“ Betastend und liebkosend befingert sie ihr Kleinod, auf ihrem Schoß liegend ist es halbkreisförmig entblättert. Goldverzierte Stäbe verleihen dem Kunstwerk einen verheißungsvollen Glanz. „Weißt du, Adelaine, wie Damen von Welt ihn geschickt verwendet haben? So, betrachte dir das genau, so …“, sie erzeugt durchs Wedeln einen Luftzug, „… so und nicht anders!“

„Bald schwelgt mein Blick in deiner Schönheit Fülle!“ Schwagers Blick bleibt auf einer bestimmten Buchseite hängen und flüstert diese Zeile vor sich hin. „Nein und nochmals nein! Ich bin schließlich ein alter Mann!“ Er packt sicher hundert Seiten auf einmal, schlägt sie forsch um und bekommt endlich eine Buchseite geliefert, die ihn augenblicklich ins Hier und Jetzt zurückzurufen hat, wie er es sich ersehnt: „Ein Schatten nur, der wandelt, ist das Leben, weiter nichts!“ Er stutzt und fasst dabei die verrückten Frauen ins Auge. „Grandma, zeig’ mir’s noch einmal!“

Adelaine betrachtet das Bild vor ihren Augen mit größter Andacht. Mit koketten Bewegungen wedelt Lady Ethel den kunstvollen Fächer hin und her, mit Liebreiz und Koketterie! Wie ein junges Mädchen, denkt sie und schnuppert geradezu den ausströmenden Veilchenduft ein, denn diese wunderschönen blauen Blümchen verzieren, zum Bukett gebunden, dieses Damenaccessoire vergangener Jahrhunderte, einer von den vielfachen, mit romantischen Motiven bemalt, die die Herzen der Damen höheren Geblüts eroberten.

„Mein Gott, ihr beiden, jetzt lasset uns endlich zu handfesten Dingen übergehen.“

Der alte Herr, der schwereren Buchkost jetzt eher abgeneigt, schmunzelt vergnügt ob seiner anmutig fächelnden Schwägerin.

„Adelaine, sieh mal! Der Fächer konnte früher eine Herzenssprache sprechen. Das hier …“ Und bei ihren Worten zieht sie den Fächer über ihre Wangen, den rötlich schimmernden. „Dieses bedeutet: Ich liebe dich!“ Ein schnelles „Ja! Ja!“, dem Schwager zugerufen, und schon beendet sie diese Fächergeschichte mit den Worten: „Meine Großmutter hat mich noch in diese Sprache eingeweiht. Das meiste hab’ ich wieder vergessen. Das Wichtigste, nämlich das mit der Liebe, behält eben auch ein alter Kopf!“

Adelaine beobachtet, wie Grandmas flüchtige Gesichtsröte beim Zusammenfalten des Fächers nach und nach wieder entweicht. Direkt neben der Rosenvase kommt das Tausenderinnerungsstück wieder zum Liegen.

„… ja, Rosen, Veilchen und Vergissmeinnicht …“, so sinniert Großmama hörbar, „… alles Herzensblumen! Zum Verlieben!“

„Aber ja, jetzt ab zum Stammbaum, ihr meine beiden Lieben!“ Adelaine sagt’s und spürt sogleich, dass Großmutter sich nicht allzu gerne aus ihrer Traumwelt herausreißen lassen möchte! Aber ihr Gegenüber ist nun mal ein Herr, ein Herr, der wie alle Herren der Welt Empfindsamkeit als weibliches Attribut belächelt, ein äußerst gestrenger Herr dazu.

Dieser streckt für einen kurzen Moment seine knorrige Hand aus, zeigt mit den Fingerspitzen auf die Familien-Schatztruhe, räuspert sich, seinen buckligen Rücken kurzzeitig in eine streckende ‚Ja, wer sagt’s denn Haltung!‘ bringend, ehe sich sein herausfordernder Blick mit dem erwartungsvollen Blick seiner Schwägerin kreuzt und er mit ernster Miene zum Sprechen ausholt: „Ethel, diese Rolle hier …“, und dabei zeigt er auf ein aufgewickeltes Papier, etwas vergilbt, mit dem Kennzeichen: ‚Eselsohr, rechts oben‘, und vergeblich über die umgeknickte Ecke streichend, murrt er etwas von einem armseligen Zeichen von Geringschätzung, ehe er sich wieder der Angesprochenen zuwendet: „Ethel, ich möchte dir eines ans Herz legen: Diese Rolle ist immer und überall in Ehren zu halten. Es ist ein besonderes Papier …“, währenddessen faltet er die Rolle auseinander, nachdem er zuvor Ethels Vase leicht zum Tischrand gestupst hat, zugegebenermaßen nicht sehr liebevoll, zum Leidwesen der Rosenlady.

„Adelaine, stell’ die Blumen bitte auf die Vitrine!“, bittet sie ihre Enkelin daraufhin.

Beim Aufrollen fällt dem Familienoberhaupt noch eine weitere kleine Rolle entgegen, die sich in der großen sicher und geborgen aufgehoben wusste. „Bedenkt mal, ihr beiden, das hier betrachte ich durchaus als sinnbildlich: Der Einzelne sieht sich im Großen und Ganzen einer Familie geborgen. Er lebt eingebunden in den Familienverbund, fühlt sich als wichtiges Glied seinen Vorfahren verpflichtet und schuldet ihnen Ehrerbietung. Was waren das alles für stattliche, honorige Persönlichkeiten, die sogar Weltgeschichte geschrieben haben? Unser Urstammvater, ja, als solchen würde ich ihn wohl bezeichnen, das war der Franz, hier der da! Sieh’ mal, Adelaine …“, und dabei tippt er ganz oben auf eine Spalte des Papierbogens. Mit feinem Federkiel gezeichnete Linien umranden einen mit kräftigerer Feder markierten Namen.

„BAREN, FRANZ“, liest das junge Mädchen vor und fügt dann die Jahresdaten hinzu, die kleingemalt darunter stehen: „1522 – 1589.“ Und haargenau unter diesen Zahlen ist zusätzlich notiert: „1565 – 1582 Superintendent in Lauenburg/Elbe. Unvorstellbar! Über dreihundert Jahre ist das jetzt her! Ein Kommen und Gehen!“

Großonkel schiebt sein rechtes Ohrläppchen mit seinem Zeigefinger ein wenig in die Höhe und hält es fest nach oben gezogen. Ob er durch die so entstandene Trichterform die Schallwellensignale leichter aufzufangen gedenkt? Er nickt, scheinbar zufrieden schenkt er seinem malträtierten rotgewordenen Ohrläppchen die Freiheit zurück, das schwammige Fettgewebe baumelt wie eh und je herunter. Ein weit verzweigtes Geflecht rotbläulicher Wangenäderchen lassen auf eine bestens funktionierende Kopfdurchblutung schließen. Er nickt wiederholt. Kopfgymnastik vom Feinsten! Ein entschiedenes Ja! folgt, von nichts und niemanden in Frage gestellt. Sein Kopf bewegt sich schneidig wie in alten Zeiten. Militär … geht es dem jungen Mädchen durch den Kopf … da geht es doch so stramm zu, dass der ganze Mann Haltung zeigen muss.

„Wieso ist der Großonkel mit einem Mal zum Sitzriesen mutiert, oder bilde ich mir das nur ein?“ Adelaine flüstert’s der Großmama ins Ohr, fast speichellos tuschelt sie es, ohne feuchte Rückstände zu hinterlassen, aber sie erschrickt umso mehr, als sie Großmutter anschließend von der Seite aus betrachtet. Wie Rötelflecke sehen sie auf ihrem Ohrläppchen aus, diese winzigen Lippenstift-Tupfer, kleinste rote Pünktchen, die wirr umhertanzen. „Komm, da bin ich eben wohl zu stürmisch gewesen …“, spricht sie im Gleichklang mit Großmamas Worten und betupft mit ihrem speichelbehafteten Finger die rote Punktegalerie.

„Wie stolz er ist! Unheimlich stolz, meine Kleine! So wie ich es auch bin!“ Großmutter streichelt ihr Kätzchen wonnevoll. Käthe schnurrt selig, während ihr Frauchen tief einatmend den Brustkorb erhebt. Dass zwei paar uralte Augenpaare noch wie Backfische strahlen können! Die Jüngste im Bunde zeigt sich erstaunt.

Mit solchen Alten kann ich Staat machen, sinniert sie, als Großonkel als erster seine Genugtuung in Worte kleidet: „Stellt euch das nur mal vor! M e i n e Familie! D e i n e Familie! U n s e r e Familie! Die Familie deiner zukünftigen Kinder und deiner noch zukünftigeren Enkel!“

Adelaine stutzt plötzlich. Ihr Blick war zwischen Sternchen- und Kreuzdaten umhergewandert, während ihr Hirn hochkonzentriert zu sein scheint. Ihre Stirn zeigt sich noch gekräuselt, die Augen blicken schwermütig verträumt vor sich hin, als sie in gedämpftem Ton erklärt: „Ja, ihr Leben, es war vor allem auch ein Gehen! Gerade angekommen, mussten zu viele schon viel zu früh wieder von der Welt Abschied nehmen! Sieh’ mal, was sein Nachfahre hier auf diesem Papier schreibt: ‚Mein Großvater Franz verlor in frühester Kindheit vier Schwestern und zwei Brüder. Nur ein Bruder überlebte.‘ – Adelaine, lies bitte mal den gesamten Text vor!“

Der Großonkel lehnt sich behaglich in seinem Ohrensessel zurück, faltet seine Hände und beim Gongschlag sieben schwillt seine Brust um ein Vielfaches an, in diesem spannenden Lauschmoment, den er genüsslich mit seiner Pfeife im Mund genießt.

„Er war ein außergewöhnlicher Mensch mit unermesslichen Begabungen, die noch über Kinder und Kindeskindern hinaus Beachtung erfahren werden.“ Adelaine verstummt.

Mit ihren Gedanken scheint sie allein, als sich Großonkel wieder zu Wort meldet: „Mein lieber Freund …“

Der alte Herr hält wohl Zwiesprache mit seinem Vorfahren, denn er sieht mit konzentriertem Blick auf die Stammbaumstelle, wo er mit großen Lettern den FRANZ verewigt sieht.

„… seit dreihundert Jahren dürfen wir uns in deinem Glanze sonnen. Hättest du das damals schon erachtet? Und wer weiß, ob dein Evel …“, und dabei betrachtet er mit großer Genugtuung seine Schwägerin, „… ob dein Ehemann sich so viele Orden über die Brust hätte hängen können, wäre er nicht diesen bedeutenden Vorfahren entsprungen? Na ja, und ich erst einmal …!“, das fügt er zwar leiser, aber doch mit einer gewissen Betonung hinzu, einer pointierten Heraushebung, die Bände spricht: „… auch ich brauche mein Licht keineswegs unter den Scheffel zu stellen! Ich fühle mich von deinem Glanze ebenfalls höchst bestrahlt!“ Er spricht’s genau in dieser Weise aus, so und nicht anders, während er seinen Blick vom Tisch mit dem ausgerollten Eselsohr-Papier hinüber zur Großnichte mit dem ‚Franzen-Papier‘ auf dem Schoß wandern lässt, von dort gleitet er bis zur Gestalt der Schwägerin, die augenblicklich ihr Seidenschälchen etwas hochschiebt, um es dann höher an den Hals zu drücken, ehe er ihn, seinen Blick, diesen wandernden aufgeweckten Gesellen, schlussendlich auf dem Ziffernblatt der Standuhr zur Ruhe kommen lässt.

Dong – Dong – Dong – Dong – Dong – Dong – Dong – Dong! Onkel Jacob hat die acht Schläge mitgezählt. Er zeigt sich zufrieden. Das alte Uhrwerk erfüllt seinen Dienst noch zuverlässig – wie mein altes Herz, sinniert er, das arme alte, das muss allerdings noch wesentlich öfters schlagen! Schwägerin Ethel rollt bei den schwägerlichen Lobhudeleien ihre Augen nach oben, ihre Stirnfalten kräuseln sich zu Rinnsalen, währenddessen sie ihre erdbeerfarbigen Lippen fest aufeinanderpresst, sicher aus Furcht davor, dass ein unbedachtes Wort Reißaus nehmen könne.

 

„Adelaine, lies bitte weiter!“ Großonkel meldet sich wieder zu Wort. Fernab jedes Eigenlobes beginnt er zu jammern: „Verehrte Frau Schwägerin! Mein Magen knurrt wie verrückt! Dein Essensritual, meine liebe Ethel, hat sich bereits seit zwei Stunden verzögert! Oder wollt Ihr etwa, dass in diesem Familienstammbaum dereinst für alle Ewigkeiten eingraviert stehen wird: Der ehrenhafte Herr Jacob Baren hat das Zeitliche gesegnet. Auf tragische Weise wurde er im Salon seiner Schwägerin Ethel, Witfrau des adeligen Herrn Evel Baren, aus dieser Welt abberufen. Todesursache: Vorenthaltung eines lebenswichtigen Krumen Brotes!“

Adelaines Mund verzieht sich zu einem Grinsen und auch Ladys Lippen öffnen sich leicht, erst zaghaft bis ihre Mundwinkel sich immer mehr in Richtung Ohren verziehen und sie ihr Glöckchen vom Teewagen neben ihrem Sessel ergreift, um wie gewöhnlich durch dreimaliges Läuten desselbigen Mrs. Smith ihr Anliegen zu Gehör zu bringen: „Mrs. Smith, bitte decken Sie im Esszimmer ein! Wedgwood, das Weiße, Dekor: Efeublätter! Die Canapés bitte mit kalter Truthahnbrust und mit Wildschweinpastete belegen! Möglichst rasch, damit wir keine Landhausleiche zu beklagen haben!“

„Grandma, würde nicht gerade sie, die Landhausleiche, eine atemberaubende Sensation für unseren Stammbaum darstellen?“ Adelaine grinst wie ein Honigkuchenpferd, als sich der Großonkel lachend zu Wort meldet.

„Du willst deine heißgeliebte Großmutter doch nicht etwa hinter Schloss und Riegel bringen? Das würde ich dir unter keinen Umständen raten, mein Mädchen! Lass’ dir das von deinem weisen Großonkel gesagt sein!“ Der hungrige alte Herr fährt sich mit der Zunge über die Lippen, so von wegen Truthahnbrust und Wildschweinpastete, das hört sich vielversprechend an! Die nasse Zunge fährt über seine spröden Lippen, die eine feuchte Prise nur allzu willig entgegen nehmen, ehe er weiterspricht: „Adelaine, lies’ uns bitte den Brief bis zu Ende vor! Solange wird mein Lebensodem noch fließen, das erhoffe ich doch inständig!“

Das junge Mädchen streicht mit ihrem Zeigefinger über das Blatt und staunt: „Wie gestochen scharf die Schrift ist! Mir gefallen die Verschnörkelungen! Guckt mal das G hier und alle anderen großen Buchstaben besonders am Beginn jeden Satzes, welch’ Labsal für einen ästhetisch veranlagten Menschen! Wie viel Sorgfalt wurde dafür verwendet, um jeden einzelnen Buchstaben zu pinseln! Stellt euch nur mal vor, wie oft ein Federkiel in das Tintenglas getaucht und wie oft überschüssige Farbe abgestrichen werden musste, bis das Schreibwerk zur Zufriedenheit seines Schöpfers fertiggestellt war. Adelaine liest weiter: „Ich bemühe mich hierbei nach bestem Wissen und Gewissen, meiner großen Nachkommenschaft Kunde darüber zu geben, was mir durch meine Vorväter zu Ohren gekommen ist und was sie durchs Studium von Kirchenbüchern, alten Briefen oder Mitteilungen persönlicher Art in Erfahrung bringen konnten. FRANZ BAREN – der Name ist dick, mit geradem Stift unterstrichen, hervorgehoben – er ist als Vertreter des strengsten Luthertums in die Annalen eingegangen. In Geldern geboren (1522), besuchte er die Lateinschule und wurde Mönch, später achtzehnjährig Messpriester zu Köln, trat dann aber von den Theologen Melanchthon und dem Reformator Bruce beeinflusst, zum Protestantismus über. In der Universität Rostock trug er sich unter dem Namen ‚Franz von Geldern‘ in die Matrikel ein. Nach Predigeranstellungen in Elverdorf, Krempe (Holstein) und Buxtehude ersuchte ihn Herzog Franz I. von Lauenburg um eine Stellung als Superintendent. Er entsprach dieser Bitte anno 1564 nach Christi. Eine große Freundschaft verband ihn mit dem Hamburger Superintendenten Paul von Eltzen …“ Gehörig außer Atem gerät der alte Herr, als er seine Gehirnarbeit in zügigem Tempo offeriert. Die jüngere Frau kann sich schwerlich ein Lächeln nicht verkneifen, denn für einen kurzen Moment scheint der betagte Onkel in die Rolle eines rotwangigen Jünglings zu schlüpfen, der dem besten Freund seine neueste Eroberung präsentiert.

„Eitzen, mein Liebling, Eitzen, heißt dieser gute Mann! Evel erwähnte diesen Namen früher einige Male! Wir haben da doch noch … Ja, meine Käthe, was meinst du dazu?“ Lady Ethel krault Kätzchens Fell. Das Tier hat es sich im Faltengewand der alten Dame derweil gemütlich eingerichtet, wohlig schnurrend.

„Ja, Adelaine, wir müssten ihn gewissermaßen noch haben!“

Schwager Jacob, der bisher kopfnickend dem Vorgetragenen gelauscht hatte, spreizt seine eben noch gefalteten Hände, beugt sich zu Ethel mit seiner rechten Seite so weit hinüber, wie es sein altersschwacher Rücken ohne in die einzelnen Bestandteile zu zerbrechen, gerade noch erlaubt, und stellt die Frage: „Gnädigste, würden Sie bitte so gütig sein, Ihre Mitteilung in vollkommener Gänze darzubringen?“

„Oh, selbstverständlich verehrter Herr, ich werde das Vergnügen haben, Ihnen mitteilen zu können, dass dieser besagte Ochsenknecht-Brief des Herren von Eitzen sich in derselbigen Schublade befinden müsste wie die dargebotenen Schätze hier!“ Einer ihrer Finger zeigt auf den Tisch, während die andere Hand auf Käthchens Miauen hin, zu dieser Stelle zwischen den Ohren dorthin langt, wo es ihrer Katzenfreundin immer besonders behagt, liebkost zu werden. „Du bekommst auch gleich deinen Schmaus, meine Süße!“

„In der vorletzten der breiteren, und zwar in der linken wirst du ihn finden!“ Adelaine amüsiert sich köstlich über die Konversation der Alten und angelt sich nach wenigen erfolglosen Bewegungen diesen sensationsversprechenden Brief hervor. „Aber erst später wird er studiert.“ Sie betont das ‚später‘ so sehr, dass die beiden anderen sie erstaunt ansehen, sich aber schließlich ihrem Wunsch wortlos fügen. „Ich möchte nämlich, dass mein verehrter Großonkel noch lange mit dem Lebensborn verbunden bleibt. Nur diesen begonnenen ‚Franzen-Brief‘ lese ich noch zu Ende, ehe wir uns auf Wildpastete & Co. stürzen. Und dank hervorragender Kooperation ihrer Augen und Finger gelingt es ihr bald, die richtige Briefstelle wiederzufinden.

„Ja, Adelaine, komm’ bald zu einem Ende, du hast recht, du weißt es …“ Der alte Herr reibt sich die Augen, ehe er weiterspricht. „… wenn sich zum Magenknurren noch Schläfrigkeit gesellt, dann kann es für alte Herrschaften nur eine Devise geben: Wachsamkeit allerorten!“

Weil zwei altersschwache Pferde nicht mehr genug Energien aufweisen, hastet die junge Vorleserin in ziemlichem Tempo ihrem Leseziel entgegen: „Franz B. durchlebte eine sehr schwere Zeit in Lauenburg. Schon zuvor hatten Herrscher des askanischen Uradelsgeschlechtes im dortigen Umkreis Kirchen überfallen und ausgeplündert. Bürger und Bauern vergriffen sich ebenso an kirchlichem Besitz. Der ihm als Superintendent zur Seite gestellte Diakonus verrichtete sein Amt nur mangelhaft, so dass Franz immer wieder vehement gegen die kirchlichen Missstände angehen musste. Streitereien der Theologen verschiedenster protestantischer Glaubensrichtungen versuchte er zu besänftigen. Als er sich 1581 weigerte eine neue Kirchengesetzordnung, basierend auf zwölf Punkten der Konkordienformel, auch ‚Bergisches Buch‘ genannt, zu unterschreiben, wurde er infolge dessen seines Amtes enthoben. Er blieb damit seiner streng lutherischen Glaubensüberzeugung treu. Anschließend als Pfarrer in der Gemeinde Lütau tätig, vermerkt er später: ‚Die Leute seind fleissig, zu Gottes Wort halten sie auch die Kinder dazu, sie sind willig, dem Pastor seine Gebühren zu geben.‘ Im Kreise seiner großen Familienschar verstarb er 1589. Sein genaues Sterbedatum ist nicht bekannt. Diese Zeilen verfasste Sir Francis Baren, Lord of Northbrook im Jahre 1800.“

„Amen!“ Der alte Herr faltet die Hände wie zum Gebet. Aber so ganz richtig stimmig vereinen sich die Finger nicht mehr miteinander. Seine Hände bewegt er nach oben, wobei die Fingerspitzen steil hoch gerichtet stehen. „Verdammt und zugenäht, das ewige Reißen in den Fingern! Es schaut ja so aus, als ob sie dem lieben Gott einen Stups verpassen wollten. Mich kannst du ruhig noch etwas vergessen!“, murmelt er nach dem Amen und ruft vorsichtshalber noch hinzu: „Hast Du’s auch wirklich gehört, lieber Gott? Ich habe nämlich hier unten noch einiges zu tun! Jetzt vor allem meinen Magen mit Deinen Köstlichkeiten füllen.“ Sein Blick gen Zimmerdecke streicht an seiner Schwägerin vorbei, die sich bekreuzigt und das wiederholt, was sie ihr gesamtes langes Leben getan hat, diesen Wunsch für die Verstorbenen auszusprechen, dass sie in Frieden ruhen mögen. Und wie inständig diese Bitte sein kann, wie sehr sie sich damals aus traurigsten Herzen nach oben quälen musste, das hatte sie bei Evels Tod erfahren müssen. Bettelnd hatte sie diese dem Allerhöchsten vorgetragen, um ja sicher zu gehen, dass sie bei Ihm auch Gehör findet.

„Adelaine, bitte reiche mir meinen Stock! Stütze mir bitte meine Arme! Ach, mein Gott, oder wäre es doch nicht besser, wenn … Alles ist so beschwerlich im hochbetagten Alter … Aber, nein, lieber Herrgott, es bleibt doch dabei, oder ….? Ich rieche schon den Wildschweinduft! Komm’ Adelaine, kommen Sie verehrte Schwägerin, es ist alles für uns bereitet, wie ich mit Freuden sehen darf!“

Mrs. Smith hält die Türe zum Esszimmer geöffnet und alle drei werden der Köstlichkeiten gewahr, die ihnen die vorzüglichen Hände der Frau Köchin zubereitet haben. Dieser Duft!

KAPITEL ACHT

„Ethel, Mamas Quittengelee schmeckte irgendwie runder! Und Marys auch! Sie hat nämlich das Rezept ihrer Mutter mit in unsere Ehe gebracht! Und das mundete genauso gut wie dasjenige unserer Mutter!“

Bums, das saß aber!

Adelaine spürt wie Großmutters Buckel noch etwas mehr in sich zusammensackt. „Grandma, höre bitte, ich prämiere dein Gelee als das Allerbeste, was ich je genossen habe!“ Die Enkelin streckt ihre Hand aus, führt sie gemächlich über den Großmutter-Buckel und spürt bei ihrer Berührung wie die Schulterblätter ein wenig pieken. Ihr Rücken hat schon bessere Zeiten erleben dürfen. Stark wie eine Eiche! Es war einmal, so fangen alle Märchen einmal an! Adelaine spinnt ein Gedankennetz: Mit Großmutter im Garten Fangen spielen, als Huckepack auf ihrem strammen Rücken durch Feld und Wald laufen, gegen ihren warmen Körper gepresst, auf Großmutters Schoß ‚Hoppereiter-Schaukeln‘ und ihren kuscheligen Bauch dabei spüren, all das war so wunderschön und ist unwiederbringlich! Aber auch wenn ihr Rücken runder und runder wird – so zeigt sie durchaus noch Rückgrat, gerade so wie in alten Zeiten! Haltung beweisen, wenn es hart auf hart kommt, wenn es darum geht, Prinzipien zu verteidigen … ja, dabei ist sie ganz die Alte – ihre verehrte Grandma! Adelaine zuckt sekundenlang zusammen. Ach, ja, … jetzt, heute ist es auch schön, anders schön! Ich sollte doch nicht …, ich sollte das Gedankenkarussell stoppen!

„Meine Grandma! Meine liebste Grandma!“ Und frisch und forsch wie ein junges Erdenwesen es sich noch erlauben darf, auch wenn es gewissen Kreisen nicht schicklich erscheint, so befreit sie sich jetzt von jeglichen konventionellen Zwängen, springt auf, um einen herzhaften Schmatzer auf Großmutters Stirn zu drücken, genau dorthin, wo sich jetzt Schweißrinnsale gebildet haben. Großmutter transpiriert mehr als früher, das vertraute sie einigen Wenigen in einer stillen Stunde einmal an. Und Schwagers Despektierlichkeit wirkt sicher nicht gerade schweißtötend, vermutet das junge Mädchen, das daraufhin eine großmütterliche Verwandlung erleben darf: Die alte Dame lächelt und die junge Dame merkt, wie sich ihr Rücken mehr und mehr wieder hebt, soweit dies einem Buckel, der in die Jahre gekommen ist, noch möglich ist.

„Über unseren Urvater Franz etwas zu erfahren …, wieder etwas zu hören“, verbessert sie sich „… das ist aufregend für mich und wunderbar, auch wenn er wahrlich kein leichtes Leben gehabt hat. Ich stelle mir dann immer vor, wie die hochwürdigen Theologen vor ihre Gemeinde getreten sind: Mit langem wehenden Talar, mit einer so eng in Rüschen gefassten Halsbekleidung, dass man Angst bekommen musste, dass den Geistlichen die Luft zum Atmen genommen wird. Auf dem Kopf des Reformators Luther – das habe ich auf einem Bild so gesehen – da thronte solch’ ein großer schwarzer Hut, der so aussah, als ob der hohe geistliche Herr schon allerhand Kopfnüsse über sich hatte ergehen lassen müssen, denn der Hut wirkte oben herum sehr eingequetscht. Ja, mir gefällt es, dass unser Vorfahre absolut kein Draufgänger gewesen ist. Bei all den elendiglichen Zuständen in der Pfarrgemeinde und beim Adel wäre ich sicher nur zu gerne mit Pauken und Trompeten gegen die Missstände vorgegangen, aber Franz vertrat seine Meinung zwar vehement, er war jedoch höchst besonnen stets um Ausgleich maßloser Überzeugungen bemüht geblieben. Meine Hochachtung!“

 

„Mein Mädchen, ja, da siehst du, dass Vernunft und Einsicht die Männer unserer Familie ausgezeichnet haben. Ich bin erfreut darüber, dass du, als junges Wesen, deinen bedeutenden Vorfahren ebenso viel Wertschätzung entgegen bringst wie unsereins.“ Der Großonkel scheint voller Lob für das große Interesse, das seine Großnichte für seine Familiengeschichte aufbringt. „Nicht wahr, meine verehrte Schwägerin, du zollst deiner Enkelin doch ebensolchen Respekt wie ich es tue? Wenn eine sehr alte Frau noch so schnell reagieren kann, dann kann es nur Großmama sein, bedenkt Adelaine, denn der Greisenkopf mit den Silberfädchen, wie Grandma ihn selbst tituliert, wendet sich flink wie ein Wiesel zur Seite, um ihr, der Enkelin, einen Blick zu schenken, einen ganz besonderen, einen ganz und gar liebevollen, einen solchen Blick, der nur zwischen zwei Seelenverwandten möglich ist. Worte bedarf es dabei keiner mehr! „Großonkel, eine Frage habe ich da noch an dich: Der Francis schreibt über Franz, der unter der Herrschaft von Franz dem I. lebte – so viele Franzens auf einmal, wirklich unglaublich! – dass unser Franz, der aus Deutschland, die zwölf Punkte, die Ko… ich weiß nicht mehr, wie sie richtig heißen, diese Ko…formeln nicht unterschrieben hat. Weißt du da Näheres, Onkel Jacob?“

Der Angesprochene bleibt für Sekunden still, was selten genug geschieht und seine Nachdenklichkeit zeigt. Dabei zieht er seine Nasenflügel so lustig zusammen, bemerkt Adelaine, in der Art wie er seine Stirn dabei runzelt und die Augen so starr nach oben geblickt hält, es sieht ganz danach aus, als inspiziere er inwendig seine Gehirnregionen aufs Gründlichste.

„Hm! Adelaine! Mein armer, alter Kopf! Aber ein Gedanke, der ist mir aus der Tiefe entgegen gekrochen gekommen, denn damit habe ich mich früher einmal beschäftigt.“ Seinen Kopf ein wenig gesenkt, fährt er mit dem Reden fort, während die Fingerspitzen der rechten Hand seinen Gedankenträger und Ideensortierer, sprich ‚Kopf‘, abzustützen suchen. „Kon – hm! – Konkor – hm! Konkordienformel heißt das berühmte Exemplar mit den zehn Punkten, wenn ich mich nicht täusche! Einen davon habe ich mir besonders gemerkt, weil er meine Aufmerksamkeit und mein Interesse auf sich gezogen hat. Dabei ging es um die Höllenfahrt Christi, da heißt es also, dass Christus nach seinem Tode zur Hölle gefahren ist und dort gegen den Teufel kämpfte, um ihn schließlich besiegen zu können, damit er selbst in den Himmel gelangen konnte. Alles in allem stritten Vertreter der protestantischen Kirchenrichtungen um den rechtmäßigen Glauben.“

„Oh, das Ganze klingt ja wirklich höchst befremdlich für jetzige Ohren! Christi Himmelfahrt – ja, aber Christi Höllenfahrt zuvor, obwohl er doch der Sohn Gottes ist. Ja, aber andererseits ist er auf Erden ja auch vom Teufel versucht worden. Ach, mir ist das alles viel zu kompliziert. Ich bin froh, dass ich nicht in dieser Zeit gelebt habe. Aber als weibliches Wesen damals überhaupt ein Theologiestudium zu erwägen, das wäre ja sowieso schon völlig abwegig gewesen.“ Adelaines Blick bleibt unverwandt auf den Großonkel gerichtet, als dieser nach einer längeren Schweigeminute seinen Mund wieder öffnet, um sein ‚war ja auch gut so!‘ zum Besten zu geben. Geistesgegenwärtig und weit vorhersehend wie Großmama es noch immer ist, wendet sie sich ihrem Schwager zu und fragt abrupt nach seinem weiteren Wunsch für den heutigen Nachmittag.

„Adelaine ist so wissensdurstig. Sie möchte ganz bestimmt nochmals in die Familiengeschichte eintauchen, so wie ich sie kenne. Nicht wahr, meine junge Dame? Wir werfen nochmals einen Blick auf den großen Stammbaum. Er liegt ja noch drüben auf dem Tisch ausgebreitet. Und schließlich werde ich gegen siebzehn Uhr von meinem Chauffeur heimgebracht.“

„Wollten wir uns nicht auch noch den Brief von Franzens Freund zu Gemüte führen? Ich bin wahrlich neugierig auf den ‚Ochsenbrief‘ geworden.“ Adelaine fasst sich einen Moment auf den Mund, als ob sie ihre Lippen schließen möchte. Sie war dem Großonkel ins Wort gefallen. Oh nein, ob er es gemerkt hat und aufbegehrt oder ob er so sehr mit seinen eigenen artikulierten Wünschen beschäftigt ist, dass ihm ihr Vorpreschen entgangen war.

„Wie schön, dass ich solch eine neugierige Nichte mein eigen nennen darf! Ja, komm bitte, reiche mir deine Hand und führe mich hinüber zum Tisch!“ Der alte Herr erhebt sein fülliges Hinterteil, die eine Hand auf die Armlehne gestützt, die andere sich der ausgestreckten Hand der Nichte entgegen streckend. Wie eine Ewigkeit erscheint es dem jungen Mädchen bis ihre beiden alten Herrschaften um den runden Tisch Platz genommen haben.

„Wo hast du diesen Familienschatz das letzte Mal gesehen, Grandma? Versuche bitte, dich zu entsinnen! Mir kommt gerade der Gedanke, dass du gestern irgendetwas von der vorletzten Schublade, der breiteren, gesagt hattest. Ich werde dort mal nachsehen, wenn es dir genehm ist!“

Dame Ethel nickt, Kätzchen Käthe hat es sich wieder auf ihrem Schoß gemütlich eingerichtet und scheint sich, vom schwarzen luftigen Chiffon umhüllt, geborgen zu fühlen, zumal die morgendlichen Streicheleinheiten zu beiderseitigem Vergnügen fester Bestandteil des landhäuslichen Rituals geworden sind. Diesmal dauert es ein wenig länger; das Stöbern im geheimnisumwitterten Sekretär. „Das nicht, das nicht, oh, das dürfte auch interessant sein, Briefe aus Ägypten, aber, warte mal, nicht zu ungestüm, ich werde nicht das letzte Mal hier auf Entdeckungsreise gehen! Alles der Reihe nach!“, spricht sie sich selbst zu, klugerweise, so überlegt sie, während ihre Finger durch Papierstapel wandern und ihre Augen auf Absender und Aufschriften von Umschlägen gerichtet sind, aber ich lasse meine Gedanken besser nicht nach außen dringen, denn, wer weiß, ob nicht Großonkel daraufhin wieder seine speziellen Kommentare abgäbe, ganz und gar nicht zu meinem Gefallen. Sie spürt im Hintergrund zwei Luchsaugen auf sich gerichtet und erinnert sich an die Onkel-Bemerkung: „Na, meine kleine Schnüfflerin! Wieder eine Fährte gefunden?“

„Findest du den Umschlag nicht, mein Kind? Sieh mal bitte in dem senkrechten Fach, dem zweiten von rechts nach! Vielleicht hast du da mehr Glück!“

Großmutters Worte im Ohr gleiten Adelaines Finger in die oberen Gefilde der Schatztruhe, treffender gesagt, in dieses, ungeahnte Schätze offenbarendes Schreib-Mobiliar, das jedem auf Stöberjagd gehenden Eiferer faszinieren muss. Adelaines Kopf beginnt auf Hochtouren zu arbeiten. Gab es da nicht dereinst auch das Verwirrspiel um König Georges, III, der in der Zeit der ‚regency period‘ gelebt hat? In dieser Epoche, in der das gute Stück aus Mahagoniholz entstanden war? Ob hier vielleicht noch Briefe zu finden sind, in denen meine Vorfahren, vornehmlich weiblichen Geschlechts, ihre Herzensergüsse über diese Tragödie um diesen englischen Herrscher zum Besten gegeben haben? Adelaines Hirn arbeitet sichtlich auf Hochtouren! Es läuft nämlich puterrot an. Oh da, ja, auf einem Kuvert, der schon wie von Mäusen zerfressen scheint, mit verblichenen gestochenen gemalten Buchstaben, oh, hier, Moment mal, hier steht es vorn doch drauf: von Mary an Elisabeth, Datum vom 6.7.1821. Wer auch immer diese beiden Damen sind, ich werde diesen Brief später einmal mit Großmutter lesen; denn Großonkel würde bei dieser Angelegenheit nur stören, befindet sie insgeheim, denn er liebt solchen Weiberkram überhaupt nicht.