Die Rosenlady und der Sekretär

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KAPITEL VIER

„Grandma, wie herrlich ist es mit dir zusammen das Frühstück einnehmen zu dürfen! Wie unvorstellbar, in Abwesenheit deines köstlichen Gelees dejeunieren zu müssen! So wie dein lauschiger Kamin, in dem die Funken sprühen, aber sicherheitshalber nur, wenn Papa dabei ist, und erst recht ein Leben ohne deine Schatztruhe hier … alles zusammen genommen: ein ‚Ohne‘ wäre nicht auszudenken!“, und dabei zeigt sie auf den altgedienten Sekretär, der so viel zu erzählen weiß, besonders all jenes, das besonders auch junge Mädchen brennend interessiert. „Und bedenke, Grandma, mein Besuch bei dir, ohne deine Rosen und ohne deinen Frühstücksstuten, weißt du noch, wie ich früher die Rosinen herausgepickt und gezählt habe? – ohne alle diese Dinge ‚grandmother-like‘, wäre doch alles wie fade und nur halb so vergnüglich und todlangweilig dazu und überhaupt, ein Hiersein ohne meine verehrte Großmutter, meine Grande Dame, oh, wie sterbenslangweilig der bloße Gedanke nur daran! Na ja, ein Palast ägyptischer Art ist es nicht gerade, aber eben ein Landhaus fürstlicher Art, gerade zum Wohlfühlen wie für dich geschaffen! Immer wenn ich mit dem Postbus zu dir hergefahren komme, bewundere ich die riesigen Mohnflächen. Das alles sieht mir sehr nach geheimnisvollem Opiumhandel aus, der hier früher im wahrsten Sinne des Wortes Blüten trieb! Oder, was meinst du, verehrte Grandma?“

„Meine Liebe, jetzt aber mal nicht zu stürmisch! Du erdrückst mich ja bald! Aber eins kann ich bestätigen: die Sache mit dem Rauschgifthandel, das stimmt. Dein Großvater trat übrigens dem ungezügelten Opiumhandel mit dem Ausspruch entgegen: Der Liberalismus hat seine Grenzen. Er musste aber zwischen der Anti-Opium-Lobby in Indien und der indischen Wirtschaftshaltung, die um eine Insolvenz bangte und eine völlige Freigabe des Rauschgiftes forderte, vermitteln. Das geschah zu jener Zeit, als er Privatsekretär seines Cousins Thomas Baren in Indien gewesen war. Keine leichte Aufgabe, aber wählte er sich je einfache Herausforderungen? So, jetzt möchte ich dir mal berichten, wie wir früher unsere Großmutter erlebt haben. Damals galt für uns Kinder, ihr immer den größten Respekt entgegenzubringen! Der Kammerdiener geleitete uns zu einer buckligen alten Dame mit hagerem Gesicht, aber hellwachen himmelblauen Augen. Sie thronte meist in dem sogenannten ‚blauen Zimmer‘, das hieß so, weil die Sitzmöbel in einem Königsblau gehalten waren. Und erst nachdem sie uns Einlass gewährt hatte, durften wir ihr die Hand reichen. Immer in einem gehörigen Abstand, das schien oberstes Gesetz. Danach erfolgte der Knicks der Mädchen und der Diener der Jungen. Übrigens finde ich es auch als sehr lobenswert, dass eure Mutter euch Kinder auch noch nach gewissen Regeln erzogen hat. So wartet ihr auch immer solange, bis ich euch eine Sitzangelegenheit anweise. Es erfreut mich zutiefst, beobachten zu dürfen, dass meine Söhne und Schwiegertöchter euch Kindern ebenfalls eine, ihrem Stand gemäße, Erziehung gewährt haben. Mein Kind, gute Manieren machen einen kulturell hochstehenden Menschen aus. Vergiss das nie in deinem Leben! Bei meiner Großmama durften wir unseren Mund nur aufmachen, wenn wir gefragt wurden. Das wird heutzutage nicht mehr so steif wie zu früheren Zeiten gehandhabt, was ja durchaus vorteilhaft ist. Unsere Großmama trug ständig ein Häubchen auf dem Kopf. An Feiertagen oder beim Kirchgang thronte ein Brüsseler Spitzenhäubchen auf ihrem Haupt. Als es unerlaubter Dinge doch einmal ein wenig zur Seite rutschte, amüsierte uns Kinder das derart, dass wir unsere Hand möglichst heimlich vor den Mund pressten, um nicht laut losprusten zu müssen. Einmal, so erinnere ich mich, zog ich an einem Bändchen der Schleife so kräftig, dass die alte Lady aus einem vor sich hindösenden Zustand jäh aufgeschreckt uns ermahnte, doch mit ihr als alternde Dame nicht solchen Schabernack zu treiben. Und da senkte ich ganz schuldbewusst mein blondes Lockenköpfchen. Wie sehr ging es mir zu Herzen, dass sich meine liebe Großmutter über mich beklagen musste. Ja, Großmutter war eine kluge Frau. Sie bemerkte gleich, wer der Übeltäter gewesen war. Aber weil sie auch unendlich lieb war, streichelte sie meine Wange und sagte: Ich verzeihe es dir, mein Täubchen! Aber mach’ das nicht noch einmal! Du darfst gerne zu mir in aller Sittsamkeit sagen: Verehrte Frau Großmutter, ihr Häubchen ist etwas zur Seite gerutscht! Und dann vermag ich es wieder zu richten! Großmutter hatte sich um ihren Hals stets ein silberfarbenes Schälchen gewickelt und ihre Füße waren mit einem größeren Schal, in einem schwarzen oder weißen flauschigen Wollstück ummantelt. Großmutter war hager und sie fror ständig. Manchmal hüstelte sie vor sich hin und verlangte vom Butler eine Tasse Lindenblütentee! Ja, mein Kind, das waren noch Zeiten, aber durchaus liebenswerte! Bedenke aber eins: Nie und nimmer hättest du in jener Zeit studieren können. Du siehst es selbst heutzutage, dass so gut wie kein Mädchen neben dir ein Studium aufnimmt. Damals wäre das gänzlich undenkbar gewesen. Ein Mädchen wurde von der Gouvernante erzogen und auf ihr späteres Leben als repräsentierende Ehefrau vorbereitet, in denen es vornehmlich um die Einhaltung von Etiketten ging. Mein Kind, wir sprachen doch gestern über Malta. Da ist mir hinterher eingefallen, dass im Sekretär, zweite kleine Schublade von oben, noch eine maltesische Briefmarke sein muss. Guck’ mal bitte nach, mein Mädchen!“ Und weil ihr Mädchen ein ganz besonders Liebes ist, gehorcht diese ihrer Großmutter aufs Wort. „Meinst du das hier?“ Und mit ihren Fingerspitzen erfasst sie diesen kleinen Schatz und reicht ihn vorsichtig der Großmutter weiter. „Welche maltesische Königin ist denn hier drauf abgebildet?“, will sie von ihr wissen. „Oder hat Malta zu dieser Zeit …, 1885 steht hier drauf, … hat Malta zu jener Zeit irgendeine Herrscherin gehabt?“

Lady Ethel ergreift wie immer ihr Monokel. Das ist ihr bereits in Fleisch und Blut übergegangen; jeder noch so kleinste Schriftzug wird von ihr genauestens inspiziert. Und das geschieht durch ihr kleines Einglas, das auf einem Auge festgeklemmt wird.

„Ach was, meine liebe Enkeltochter, ich gebe dir hiermit die Kunde, dass unsere große britische Queen Victoria an dieser Stelle abgebildet erscheint. Es ist eine Two-pence-halfpenny-Marke! Nun steck’ sie mir bitte wieder sehr sorgfältig in jene Schublade hinein, aus der du sie herausgeholt hast. Weißt du was?“

Adelaide blickt ihre Großmutter erstaunt an. „Ja, was soll ich denn wissen?“

„Moment mal, gerade ist es mal kurz weggehuscht, das was ich dir sagen wollte. Wie dumm! Warte mal einen kleinen Moment, gleich taucht es sicher wieder an der Oberfläche auf!“

Als Adelaine die Schublade mit der Schreibplatte dank des glänzenden Griffes – ach, ja, das sind die griechischen Elemente, fällt ihr dabei ein – als sie sie wieder schließt, ruft Grandma ihr schon freudestrahlend entgegen: „Ich hab’s! Jamaika ist wieder da! Großvater und sein Jamaika! Nachdem er auf Malta gedient hatte, wurde er anschließend nach Jamaika beordert. Er begleitete Sir Henry Storks dorthin, um wichtige Militärreformen durchzusetzen. Diese waren nach dem Krimkrieg bitter notwendig geworden. Großvater, der hat immer seine Meinung gesagt. So ist er nun einmal gewesen! Unsere Armee hat sich im Krimkrieg nicht mit Lorbeeren geschmückt, genau so hat er es viel später ausgedrückt. England und Frankreich waren den Osmanen zu Hilfe gegen die Russen geeilt. Jetzt muss ich mal nachdenken.“ Lady Ethel stützt wieder einmal ihren schweren Kopf in ihre Hände. „Mein Gott, was muss dort auch alles drin einquartiert sein. Ja, mein Kind, wenn ein Mensch so viel erlebt hat wie ich, dann quillt der Kopf bald über. Ja, wenn ich mich recht entsinne, dann war es zu jener Zeit, es muss so Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts gewesen sein, da ging es in Jamaika hoch her!“

„Grandma, du machst mich neugierig! Erzähl!“

„Soweit ich mich entsinne, ist da auch der Aufstand der Sklaven, der Landarbeiter, gewesen, meistens Schwarze. Sie haben damals sogar einen Brief an Queen Victoria geschrieben, dass sie Land zum Bebauen beanspruchen. Weil die Queen ihnen keine Hilfe angedeihen ließ, kam es zum blutigen Aufstand und viele Engländer erzürnten sich schrecklich darüber, dass die englische Armee den Aufstand niedergeschlagen habe. Das war vielen Briten zu radikal, zumal die Benachteiligung der Sklaven offiziell schon längst abgeschafft worden war.“ Die alte Lady stutzt für einen kurzen Moment, so dass Adelaine das Ruder übernehmen kann.

„Na, und wie war’s dort eigentlich mit deiner neuen Liebschaft?“

„Du bist mir ja die Richtige! Solch’ eine Frage geziemt sich einem anständigen Wesen eigentlich nicht! Hast du nur Liebelei im Kopf, Adelaine?“

„Aber, nein, nein!“ Ein bisschen verschämt lässt das Mädchen vornüber ihren Kopf herunterhängen – wie kann ich nur? Wie neugierig darf ich überhaupt sein? Jetzt bin ich wohl zu weit gegangen? Gedanken, die sich wie eine düstere Wolke in ihrem Inneren auftun, aber andererseits sind da Großmutters Augen, die wie vom Sonnenstrahl getroffen in höchster Lebendigkeit blinken, so registriert es das junge Mädchen jedenfalls beruhigt und mit sich und der Welt wieder im Reinen. Sieh’ mal da, registriert ihr aufmerksames Auge, greise Pupillen weiten sich und um zerfurchte Mundwinkel herum zuckt es verdächtig, wie bei einem jungen Mädchen, das verschmitzt seine kleinen Sünden beichtet, so amüsiert sich die Enkelin, natürlich ohne auch nur den kleinsten Mucks von sich zu geben.

„Der erste Kuss, ja, das war ein Jamaika-Kuss und der schmeckte nach der Süße des Jamaika-Rums, aber eigentlich schmeckt das Getränk gar nicht süß, oder? Egal, in der strahlenden Sonne und am blauen glitzernden Meer erschien mir alles voller Süße. Mein Herr Papa musste mich natürlich begleiten und für wenige Minuten haben wir uns dann doch aus seiner Umklammerung lösen können. Meinen Papa sehe ich noch deutlich vor mir. Mit Hut und Schirmstock bewaffnet, einen leichten knielangen Stoffmantel über seine Schultern gelegt, es war ja ziemlich warm, so flanierte er neben uns beiden her – wahrhaft majestätisch. Und Evels Orden an seinem Uniform-Frack befestigt, glänzten mit den Sonnenstrahlen um die Wette. Und die wunderbaren Mangrovenbäume, die an einigen Stellen ein wenig Schatten spendeten, die waren uns eine höchst willkommene Labsal! Einfach himmlisch!, und nun hocke ich hier mit meinem runden Buckel, mit meinen kaputten Knien, mit dem Monokel im Auge und bin so müde …“ Ein herzhaftes Gähnen überfällt sie, noch bevor sich ihre schweren Augenlider vollständig senken, flüstert sie ihrer Enkeltochter noch zwei Worte zu: ‚Hochzeit‘ ist das eine und ‚morgen‘ ist das andere! Und Kätzchen Käthe schnurrt zu ihren Füßen. Adelaine schiebt das Rosenkissen ein wenig seitwärts nach oben und lässt Großmutters Kopf vorsichtig drauf gleiten, um ihrem müden Haupt eine behagliche Ruheposition zu vergönnen.

 

KAPITEL FÜNF

Lady Ethel und ihre Rosen, eine Symbiose, die in die Familiengeschichte der Earls eingehen wird. Jeder Nachbar, der in Herrgottsfrühe das Sträßchen entlang der exquisiten Landgüter passiert, weiß, dass der in der Morgendämmerung wahrgenommene Schatten, zwischen Rosensträuchern gespenstig hin- und her wandelnd, der im wehenden Morgenrock umhüllten alten Lady, der Rosennärrin, zugeordnet werden muss. Und jeder Passant versucht möglichst lautlos von dannen zu schreiten, um die himmlische Morgenidylle des gräflichen Gartens ja nicht zu stören.

Selten geschieht es, dass die alte Lady aufschaut, weil sie ein Knistern oder Knarren vernommen hat, welches ihr Gehör, zu dieser frühen Morgenstunde noch traumselig, als Störenfried ausmacht. Streckt sie ihren Kopf dennoch ein wenig in die Höhe, der weiblichen Neugier wegen, die schließlich doch über ihren Unmut triumphiert, weil sie einer Person gewahr wird, die nicht wie Dr. Goldman oder Mr. Miller zügig zur Arbeit eilt, sondern mit einem mehr oder weniger braven Vierbeiner vom Hundespaziergang zurückkehrt, dann ergreift sie manches Mal besonders flink die Gartenschere, um dem dazu gehörenden Zweibeiner einen einzelnen Duftling zu präsentieren. Dieser Rosenduft auf dem Frühstückstisch, wie betörend muss er auf Ihre Sinne wirken – den ganzen Tag lang!“ Bei diesen Worten spürt sie, wie Herr Nachbar oder Frau Nachbarin ihren morgendlichen Rosengruß aufs Höchste schätzen! Das verschönert nicht zuletzt auch Rosenladys Tag mit seinen rituellen Gepflogenheiten. Ihre Rosen tragen Namen wie ‚Portland‘, ‚Gallica‘ und ‚Bourbon‘. Lady Ethels Ansicht zufolge drücken diese Namen nicht annähernd solcherart Herrlichkeit aus wie diese Blütenfülle in natura. Diese Pracht schätzt sie stets als ein Geschenk von oben, ihrem einfühlsamen und begeisternden Herzen in die Arme gelegt. Dornenstachel, die ganz schön pieken können, machen ihr immer wieder bewusst, dass das Lebensglück nicht ohne Blessuren zu haben ist. Ihre Rosen blühen zwar nur sechs bis acht Wochen im Jahr, aber oft denkt sie, dass ein Mensch diese Überschwänglichkeit gar nicht länger ertragen könnte. Wie ein kleines Kind am Heiligen Abend in Begeisterungstürme ausbricht, nein, nicht so lautstark, eher still verzückt, so lässt sie jede neu entdeckte Knospe, die sie hervor brechen sieht, durch ihre Hände gleiten, dann, wenn sie im zeitigen Sommer ihren morgendlichen rituellen Rundgang durch den Garten vollzieht. So flüstert sie der einen oder anderen Blume eine Liebeserklärung zu: „Innig freut sich mein Gemüt, eine neue Rose ist erblüht!“

Einen Nachklang der füllig rankenden Rosen darf sie jeden Morgen tagein, tagaus neu erfahren, auch meist dann noch, wenn Väterchen Frost sich rau und unerbittlich zeigt. Rosenranken schmücken nämlich das Innere der Porzellanschüssel und ein paar Tropfen Rosenöl verleihen dem Brunnenwasser, das Miss Adelheid allmorgendlich aus dem Rosenkrug in das Waschgefäß schüttet, einen besonders betörenden Duft. Ladys morgendliche Toilette erfolgt anschließend durch das Besprengen diverser Körperteile mit wenigen Tropfen, die auf ihrer abendlich eingesalbten Haut abperlen. Die alte Dame mag ihr ‚La nuit de Chanel‘, weil sie spürt, wie ihre spröde Haut diesen Feuchtigkeitsbalsam gierig aufsaugt. Lady Ethel liebt eben ihre täglichen Rituale. Weil ein altes Frauchen ihrer Meinung nach klapprige Knochen und schlaffe Muskeln hat und ihren Zopf nicht selbst flechten und hochstecken kann, so hat sie sich nach einem dienstbaren Geist umgesehen, der ihr allmorgendlich das Kämmen und Hochstecken der Haare abnimmt, meiner Silberfädchen, wie sie die ihr noch verbliebene schüttere Haarpracht nennt. Miss Adelheid, eine Arbeitsmagd vom benachbarten Kensington-Gut hat sich in der Nachbarschaft als eine Person mit fleißigen, geschickten Händen einen Namen gemacht. Hier und da verpasst sie der Lady auch einen leichten Stups, um ein Kleid ohne große Halsöffnung über ihren Kopf stülpen zu können, vor dem Frisieren, versteht sich, und erst nachdem das letzte Kleidungsteil, wie etwa ein wollenes Schälchen gekonnt um ihren Hals drapiert auf sich aufmerksam macht, erst dann wird der große ovale Spiegel an der Wand als letzter Ratgeber hinzugezogen. „Oh, mein Lieber!“ Wenn sie sich unbeobachtet fühlt, dann verwandeln sich sämtliche, meist alte vertraute Hausgegenstände zu Gesprächspartnern, deren Geduld beim Zuhören keine Grenzen zu kennen scheinen und die, Lady Ethel schätzt das besonders, ihr keine Widerworte geben. Und da sie sich heute noch unbeobachtet fühlt, weil Adelaine immer schwer aus den Federn kommt, flüstert sie ihrem Gegenüber weitere Worte zu, diesem Gegenüber, das unverwechselbare Züge ihres eigenen Ichs trägt, und das jetzt festtagsmäßig mit einem Hermelin besetzten Kleiderkragen punktet. Sie möchte sich heute in vollem Staat präsentieren, weil, so hofft sie es jedenfalls, dieser Tag ein besonderer Tag zu werden verspricht.

„Mein goldiges Stück …“, so spricht sie den großen Spiegel an, während sie mit ihren spitzen Erdbeer-Fingernägeln seine seitliche Goldeinrahmung streichelt. „Ich habe dich besonders gerne, weil du mir immer deine voll erblühte Rose offenbarst!“

Und jetzt fährt sie besonders liebevoll über die an dieser Stelle ein wenig erhabenere Schnitzarbeit.

„Du blühst zwar nicht in den wunderbarsten Farbnuancen, wie deine Schicksalsgenossen dort draußen, und auch dein Duft entbehrt jeder Romantik, aber du bist verlässlich immer für mich da. Ja, in deiner Geburtsurkunde steht: Barockstück aus dem 18. Jahrhundert. Dein Geburtsort ist Bologna! Und in deiner Girlande, die sich wie eine Blumenranke von der einen bis zur anderen Seite erstreckt, ist eine Shakespeare-Weisheit verewigt, die besagt: Kein hübsch Weib hatte je ein Gesicht ohne Falsch!“

Teils verschmitzt, teils verdrießlich richtet sie nun ihre Maßregelung an den großen Meister: „William, welch’ eine Schmähung allem weiblichen Geschlecht gegenüber! Spricht daraus nicht Ihre eigene Erkenntnis? Aber …“, sie stutzt milde lächelnd, „vielleicht steckt in dieser Weisheit doch ein Fünkchen Wahrheit?“ Lady Ethel betrachtet die Falten auf ihrer Stirn. Ihr von strahlendem Glanz leuchtendes Gegenüber verdeckt nicht die kleinste Runzel ihres Gesichtes und des Halses – schonungslos bringt es sogar jeden Pickel ans Tageslicht, vorausgesetzt, dass er auch ohne Monokel für ein an Sehkraft geschwächtes Auge erkennbar ist. „Ja, mein Lieber …“, und jetzt ist ihr William, auch der ‚Shakespeare‘ genannt, wieder gemeint, „… ich will mich mit dir versöhnen und nicht mehr meinen Schmollmund aufsetzen. Damengesichter ohne Falsch, da werden Sie, verehrter Dichter recht haben, laufen nur selten über Gottes schöne Erde! Aber Männer ohne Falsch, sie kann man gewiss auch zählen! Wer …“, und da wendet sie sich wieder an den goldumrandeten Spiegel, „wer mag sich hier schon alles an Dämlichkeiten seiner Schönheit versichert haben? Oder wer mag sich gar der Ernüchterung gebeugt haben, dass es mit seiner Schönheit nicht zum Besten bestellt ist? Wie viele betagte Damen haben hier eine Träne oder gar einen ganzen Tränenbach vergossen und im Lauf der Zeit ihrer verblichenen Anmut nachgetrauert? Du allein weißt es und verstummst! Oder handelst du nach der Devise: Da schweigt des Sängers Höflichkeit? Höflichkeit hin – Höflichkeit her! Warum verrätst du uns nicht dein Geheimnis? Oder glauben Sie gar …“, jetzt ist der verehrte, längst verblichene Spiegelspruch-Meister wieder angesprochen, „… dass das Falsch sich nur auf unsichtbare weniger liebenswürdige dämliche Seelenzustände bezieht? Da mögen Sie vielleicht auch ein klein wenig recht haben, sind aber die Herren als Krone der Schöpfung …“, ein leichtes Räuspern bleibt nicht aus, „… sind sie nicht ebenso dem Fluch der Vergänglichkeit und der Bruchstückhaftigkeit ausgesetzt? Zwar zeichnet sich diese Sorte Mensch gewöhnlich nicht durch übermäßige Spiegelbetrachtungsprozeduren aus und scheint vor Creme-Tüpfelchen-Auftragen gefeiter zu sein als ihr Pendant, eine Versicherung allerdings, ob mit dem Bart beziehungsweise seiner gewünschten Abwesenheit alles in bester Ordnung sei, mag auch für manchen Gentleman eine Beruhigung gewesen sein.“

Lady Ethel muss schmunzeln, als sie vor ihrem argwöhnischen Gegenüber feststellen muss, dass sie mit einem Lächeln auf den Lippen weitaus attraktiver aussieht als mit ihren Sorgenfalten auf der Stirn. Rituale schenken Geborgenheit. ‚Mein Seelentröster-Ritual‘ nennt Lady Ethel die kurze Zeit, die sie jetzt nicht mehr auf den Knien verbringt, weil dieses verflixte Ziehen und Stechen bei jeder kleinsten Kniereibung auf dem Fußschemel sie in ihrer morgendlichen Andacht ziemlich gestört hatte. „Ein klein wenig Pein bringe ich meinem Erlöser gerne als Opfergabe dar!“

So dachte und sprach sie zunächst, als sie auf den Knien vor dem Messingkreuz auf ihrer Kommode auf den Knien hin- und her rutschte, ehe sie sich zu der Erkenntnis durchrang, dass ihr Herrgott schon genug Opfer für sie und für alle Gläubigen erbracht habe, so dass sie sich keine blutende Knie mehr zu holen bräuchte, um vor Gott als gerecht dazustehen. Und von diesem Moment an setzt sie sich nun allmorgendlich auf einen weichen Lehnstuhl, den Blick auf das Messingkreuz gerichtet, wobei sie ihrem himmlischen Vater dafür dankt, dass sie Ihn, nun so schön behaglich, ohne Schmerzen erleiden zu müssen, anbeten darf. Das uralte Gebet, das sie ein wenig verschlankt hat, ohne ein schlechtes Gewissen dabei zu haben, denn wie sollte das eine Sünde sein, sich auf das Wesentliche ihres Glaubens zu besinnen? Und ohne es sich selbst und den anderen einzugestehen, schnuppert sie bereits den herrlich frischen Kaffeeduft aus der Küche, das köstliche Aroma der lebenspendenden Bohnen, die Mrs. Smith, ihre treue Perle, zuvor frisch gemahlen und mit kochend heißem Wasser überbrüht hat. Und jeden Morgen hofft sie erneut, dass der Duft sich, bitteschön, bis zum Ende des Gebetes Zeit nehmen möge, ehe er gedenkt, durch die Ritze der Tür in ihre Nase zu ziehen und ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt.

„Ich stehe auf in Gottes Kraft. Ich stehe auf in Christi Segen. So behüte mich Gott, die allerheiligste Dreifaltigkeit, die mich aus Nichts erschaffen hat, es behüte mich Gott, der Sohn, der mich mit seinem rosafarbenen Blut erlöset hat. Es behüte mich Gott der Heilige Geist, der mich …“

(Was klirrt da nebenan? Verzeihung, lieber Gott, immer diese unpassenden Gedanken zwischendurch!)

Lady Ethel hält kurz im Gebet inne und danach geht einfach alles ein wenig schneller als gewöhnlich, ja, im Sauseschritt, ohne, dass sie es bewusst steuert, diesen rituellen Gebetsfluss; er strömt dem Ende entgegen, ohne dass sie ihn aufhalten kann. (Neugierde, dein Name ist Weib! Wer hat das noch gesagt? Warum belästigen mich immer wieder diese Störenfriede?) Sie fährt fort! (Von diesen Bösewichtern lasse ich mich doch nicht unterkriegen!)

„… in der Heiligen Taufe geheiligt hat. Gott, dem Vater ergeb’ ich mich! Gott, der Heilige Geist, unterweise mich! Maria, Mutter Gottes, stehe für mich! Alle heiligen Engel beschirmet mich!“

Lady Ethels Hand bewegt sich schließlich noch purzelbaumartig im Kreis, beim hastigen Kreuzzeichenmachen, bevor sie die Türe zum Wohnraum zu öffnen versucht. Bei diesem Vorhaben knacken allerdings hörbar ihre Knochen, so dass sie mit der verpatzten Kreuzhand sogleich ihr eigenes Kreuz abzustützen sucht, denn eine zu eng geschnürte Gürtelschnalle beeinträchtigt sie in ihrer Beweglichkeit.

„Ach, du mein Gott …!“, entfährt es ihr beim Herunterdrücken der Klinke, „… auch das noch …?“ So schnell wie das Wehwehchen gekommen war, so schnell hat es allerdings auch wieder Reißaus genommen, als ihr eine strahlende Frau entgegen lacht, die gerade den dampfenden Kaffee in zwei goldverschnörkelte Tassen eingießt. „Wenn der Himmel uns dereinst solche wunderbaren Düfte bescheren sollte, dann kann ich’s kaum erwarten, zur Himmelspforte zu gelangen!“, ruft die Großmutter, wie ein Honigkuchenpferd strahlend zu ihrer Enkelin. „Was für ein Duft-Potpourri! Rosen, Kaffee, Quitten!“

 

Adelaine trägt an diesem Morgen eine spitzenbesetzte weiße Bluse, weil heute ein alter Herr mit ihnen zusammen dinieren wird, einer der Sorte Mensch, der besonderen Wert auf Etikette legt. Dieser Tatsache gebührend Rechnung zu tragen, das hatte ihr die Großmutter schon vor Tagen ans Herz gelegt. „Onkel Jacob liebt frische Muscheln! Und die soll er auch bekommen!“, lässt sie ihre Enkeltochter wissen, die sich gerade ihre Scheibe Weißbrot dick buttert, um anschließend einen Berg des köstlichen Quittengelees darauf zu verteilen. „Betrachte dir diese butterfarbigen Wildrosen! Dieses Farbenspiel, ist es nicht ein Gedicht?“ Und während Großmutters Augen sich an ihrem Gartenschatz nicht sattsehen können, an diesem Blumenschmuck, der seine schweren, doppelt gefüllten Blüten tief, fast bis auf die weiße Leinendecke, eine besonders edle von besagter Dutzend-Sorte, herunterschweben lässt, da flüstert die alte Lady ihrer Enkelin zu: „Jetzt schlägt’s aber dreizehn! Thema ‚Hochzeit‘ ist angesagt!“

„Grandma, du hast dich vertan! Die Uhr hat gerade neune geschlagen!“ Adelaines Blick geht zur Großmutter, die ein Lächeln nicht unterdrücken kann, und streift dann die Wanduhr, ehe er schließlich auf der Wanddekoration haften bleibt.

„Adelaine, mein liebes Kind, kennst du die Teppich-Geschichte von unserer Hochzeit schon?“

Adelaine schüttelt den Kopf. Es ist ein Kopfschütteln zwischen zwei Welten, genauer gesagt, ein Kopfschütteln zwischen einem Ja und einem Nein, ein undefinierbares Oben-, Unten-, Rechts- und Links-Schütteln, denn das junge Mädchen scheint ein deutliches Ja oder ein noch deutlicheres Nein umgehen zu wollen. Schließlich möchte sie allzu gerne ihre Großmutter zum Erzählen herausfordern, auch wenn diese ganze Teppich-Geschichte schon geschätzte Dutzende Male innerhalb der Familie preisgegeben wurde.

„Ja, bitte, bitte, Grandma! Erzähle nur, ich lausche!“, fordert sie ihre Großmutter auf, denn Adelaine liebt es immer aufs Neue, wenn sich Großmutters sprühende Erzähl-Fontaine über sie, die luchsende Zuhörerin, ergießt.

„Adelaine, mein Kind, würdest du dich freundlicherweise erheben und Schublade Nummer vier öffnen, dort zwischen der dritten und vierten Unterteilung, da ziehe bitte die dunkelrote Leinentasche hervor!“

Und während sie ihren rechten Zeigefinger zu strecken versucht, so gut es eben mit dem Höcker geht, wenn einem das Zipperlein plagt, sortiert die folgsame Enkelin derweil ihre übereinandergeschlagenen Beine, zunächst jedenfalls, um sich anschließend mit frischem Schwung aus dem Sessel zu erheben.

„Na ja, ich will es ja nicht gesehen haben, junges Fräulein! Es geziemt sich für eine Dame einfach nicht, Rockschöße wie ein Wirbelwind hoch wehen zu lassen!“

Enkeltöchterchen schluckt, schuldbewusst schlägt sie wortlos ihre Augen nieder. Dann ergreift sie brav den Messinggriff der vierten Schublade, öffnet sie und erspäht ganz unten auf dem Holzboden eine dunkelrot glänzende Angelegenheit. Großmutter hält ihre Hand ausgestreckt, sie giert regelrecht danach, das Gewünschte endlich in den Händen halten zu können.

„Hier, Adelaine, schau dir mal diesen Brief an!“

„Oh, Grandma, ein rotes Wachssiegel!“

„Ja, meine Kleine, wenn du das Band mit dem Siegel entfernst und das Pergamentpapier aufwickelst, dann, sieh’ mal hier, da kommt ein Stück Seidenstoff hervor, welches dereinst einmal als weißes Läppchen an der Wandteppichrückseite angebracht war. Inzwischen hat es sich als gräuliches Gebilde mehr und mehr vom Teppichvater abgenabelt. Betrachte mal, was hier drauf gestempelt steht! Es lässt sich nur mit Adleraugen entziffern!“

„Grandma, ich glaube, dass ich Adleraugen, vielleicht sogar Luchsaugen habe. Die brauche ich hier wirklich, denn die Schriftzeichen sind schon kaum noch auszumachen. Das hier könnte ein N sein, dann kommt vielleicht ein a und ein s…“

„Du, ich glaube, ich entsinne mich, es muss der Naser ad-Din, der Schah von Persien sein, der hier verewigt worden ist.“

Mein Gott, … immer dann, wenn Großmutter verzückt ist, dann ist sie nicht voll bei Sinnen, geht es Adelaine durch den Kopf, stillvergnügt registrierend, wie sich Großmutters erdbeerrote Lippen dem angegrauten Seidentüchlein in voller Zartheit nähern und ihr Mund dabei beschwörende Worte haucht: „Oh, du Herrscher aller Herrscher! Du hast mit hoheitsvollen Händen schon dieses unscheinbare Stück Stoff berührt und diesen da erst recht, denn du hast ihn vor meinem Herrn Vater eigenhändig ausgebreitet, diesen unseren Teppichschatz, der schon seit Ewigkeiten unsere Wand ziert!“

Adelaines Augen folgen wie gebannt dem Blick ihrer Großmutter zur Wand hin. Betrachte ich mir dieses Kleinod jetzt nicht zum ersten Male in gebührender Weise? Eigentlich hatte sie in ihren zwanzig Erdenjahren den Wandschmuck mit den Jägern, Tieren und Pflanzen nie bewusst wahrgenommen. Hatte die sich immer wieder als indigofarbige mit Petrolschattierung über den Wandteppich erstreckende Pflanzenranke je ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen? Nein, eher nicht, denn dieser Teppich gehörte wie selbstverständlich in Großmutters Reich, er war einfach vorhanden, hing immer an vertrautem Ort und an gewohnter Stelle und dort war er einfach nicht mehr wegzudenken, ebenso wenig wie der Kinder Masernpunkte nach einem herzhaften großmütterlichen Schmatz auf Kinderstirn oder Kinderwange oder der liebevolle großväterliche Schultertatsch bei der Begrüßung. Zum Landhausinventar zu gehören war auch einem geheimnisvollen Möbel, dem Schreibsekretär vergönnt, dessen Innenleben sich vor den Kindern keineswegs in ständiger Sicherheit wähnen durfte. Ebenso wenig wegzudenken war der Klaps auf die Finger bei zu ungestümen Vorgehen der Kleinen, der konsequenterweise erfolgte, sobald die streng untersagte Sekretär-Inspektion der Innereien erfolgte und weil Kinder nun mal Weltmeister im Rein und Raus, im Hoch- und Runterschieben sind, kurzum im Bewegen allermöglichen und unmöglichen Dinge, haben Schubladen für sie höchsten Aufforderungscharakter. Auch die ‚Bim-Bam-Standuhr‘, kindliches Faszinationsobjekt erster Güte, gab es so und keineswegs anders nur im Landhaus. Im Gegensatz zum besagten Teppich machte sich diese jedoch viertelstündlich durch einen glockenähnlichen reinen Klang bemerkbar. Der Wandschmuck fristete dagegen ein von den Kleinen kaum beachtetes Dasein, bis er mit zunehmendem Alter und Interesse der Kinder als ein Stück lebendiger Großmutter-Vita stärker in Erscheinung trat, denn Großmutter liebte es ihren vernünftig werdenden Enkelkindern ihre spannende Teppich-Geschichte darzubieten.

„Einhundertzwanzig mal einhundertachtzig, das müsste die Größe sein und dann steht hier noch eine Zahl, ob mit drei oder vier Nullen dahinter, das ist hier gar nicht mehr zu erkennen! Das ist sicher die Anzahl der Knoten.“

Jetzt betrachtet Adelaine das sich vom Teppich abgenabelte Seidentüchlein aus dem Sekretär überaus sorgfältig, und beim Entziffern der Druckbuchstaben erinnert sie sich nur an eines: Je mehr Knoten, desto wertvoller ist das Stück! Das hatte sich durch die wiederholten Teppich-Erzähl-Geschichten in ihrem Schülerkopf damals festgesetzt.