Die Rosenlady und der Sekretär

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„Der Schah von Persien“, ihre Augen weiten sich und blicken einen langen Moment wie gebannt durch das Butzenfenster hindurch in den tiefblauen Himmel – das tun sie immer, die Großmutteraugen, wenn sie inwendig auf Schatzsuche gehen. „Ja, der Schah, … stattlich wie es stattlicher nicht ging … bedenke mein Kind, dass sich mein Herr Papa über dieses imposante Mannsbild immer wieder bewundernd ausgelassen hat und so brannte sich das alles bei mir hier tief drinnen ein – hier, weißt du!“, und dabei stupst sie einmal kurz zwischen ihre Brüste. „… genau hier hat sich dieses für alle Ewigkeiten festgesetzt. Ein einziger Händedruck des Schahs – und das Lebensgefühl meines Herrn Papa schien explosionsartig zu expandieren. Damals in jenem denkwürdigen Moment! Hatte Mutter Natur ihn sowieso schon bezüglich seiner Statur nicht stiefmütterlich behandelt, so drohte in diesem besagten Moment sein Brustkorb vollends zu zerbersten. Und wie schön erzählte er später von dieser großartigen Erfahrung: ‚Mein eigener Körper strahlte im Glanz aller kaiserlichen Orden und goldenen Gehänge stärker als die wärmsten Sonnenstrahlen es je vermocht hätten!‘ Adelaine, mein Kind, du kennst doch einen Zylinder! Und dann stell’ dir mal vor, wie hoch drei Zylinder aufeinandergetürmt aussehen! Mit solch’ einem schweren Koloss auf dem Kopf liebte er es, durch die Gegend zu stolzieren. Auf ihm prunkte eine Diamanten-Agraffe ohnegleichen! Auf jedem Schulterstück funkelten drei große Smaragde. Doch der arme Kerl, welch’ jähes Ende war ihm beschieden, meine liebe Adelaine, denn schließlich fiel er einem heimtückischen Anschlag zum Opfer. Aller Welten Reichtum konnte das nicht verhindern. Ob es die gerechte Strafe gewesen war? Aber darüber möchte ich nicht urteilen, das dürfen wir getrost unserem Herrgott überlassen. Du musst nur wissen, mein Kind, dass er zig Jahre zuvor seinen Premierminister zur Strecke gebracht hatte. Nichts für zartbesaitete Gemüter! Und dann …“

Adelaine hält sich die Hand vor den Mund, weil sie nicht unanständig kichern will, ehe sie die Großmutter mit weit aufgerissenen Augen fragend anblickt und sich in einer Lachpause zu vergewissern sucht, ob ihre Vermutung stimmt: „Ist das nicht der Vierundachtzig-Frauen-Schah gewesen, wie es von ihm überliefert ist, oder?“ Amüsante ‚Harem-Schah-Geschichten‘ machten immer wieder die Runde im Familienkreis und falls jemand sich nur mit einer einzigen Silbe in eine ungehörige Richtung äußerte, warf Lady Ethel ihm einen Blick zu, einen der beschwörenden Sorte, die denjenigen wenn schon nicht töteten, ihn zumindest hochrot anlaufen oder erbleichen ließen.

Nur Großvater hatte da ein wenig mehr Narrenfreiheit genießen dürfen, so dass Großmutter, als er sie mit der Bemerkung frotzelte: ‚Na ja, alle vierundachtzig auf einmal werden ja nicht gerade Kopfschmerzen oder Migräne gehabt haben!‘, ihm zwar einen kleinen Schubs verpasste, aber, ehrlicherweise erwähnt, wirkte dieser kurze Stoß eher verschämt belustigt, denn schließlich, so glaubte sie felsenfest, konnte keiner der Enkel auch nur erahnen, was Großvater durch seine flapsige Äußerung da von sich gegeben hatte.

Nur Adelaine mit ihren siebzehn frischen Lenzen erspürte bereits gewisse Dinge, unaussprechlich Geheimnisvolles, das Großmutters Ansicht nach nur verheiratete Frauen erfahren durften. Auch Adelaines pikanter Einwurf hält sie jetzt nicht davon ab, gräflichen Anstand aufrechtzuhalten und ihre Bemerkung geflissentlich zu ignorieren.

„Adelaine, mein Kind, dieses Teppichglück verdanken wir allein der Tatsache, dass Großvater und ich in selbigem Jahr ein paar Wochen später zum Traualtar geschritten sind. Der Schah von Persien verweilte in dieser Zeit in London, um seinen wertvollsten Teppich überhaupt, dem Londoner Victoria und Albert Museum zu vermachen. Er ist jetzt bestimmt schon weit über achthundert Jahre alt! Die durch seinen Verkauf eingebrachte große Geldsumme wurde benötigt, um die Moschee, in der er gehangen hatte, zu restaurieren. Das war im Jahre 1876! Dieser Teppich, der eine Länge von über zwölf Metern aufweist, wird auch als ‚heiliger Teppich von London‘ bezeichnet. Es ist ein Ardebil-Teppich, ein Teppich, der in einer bestimmten Gegend besonders fein geknüpft worden war. Ja, und weil mein Herr Papa als bekannter Londoner Bankier bei der Übergabe zugegen weilte, antwortete er auf die höfliche Frage des Schahs nach seinem Befinden: ‚Oh, meine Tochter heiratet bald!‘, worauf dieser seinem Leibwächter etwas zuflüsterte, der daraufhin kurz verschwand. Der Schah zelebrierte höchst persönlich das Aufrollen seines Hochzeitsgeschenkes, dieses wunderbaren Prachtstücks dort oben!“ Adelaine sitzt während Großmutters Geschichte wortlos auf ihrem Schemel, bewegungslos dazu, ihren Blick unentwegt auf Großmutters Lippen geheftet. „Ja, Kind, dort an der Wand siehst du, da hängt er nun schon seitdem wir hier Wohnstatt bezogen haben und vorher schmückte er den Salon in Cromer … ja, das alles ist auch schon wieder so sehr lange her. Dem guten Stück sieht man nicht an, in welche großen Aufregungen er uns versetzt hat, damals, ein paar Tage vor unserer Hochzeit in London. Aber weißt du, ich erzähle dir das alles morgen weiter, mein Gott, eine alte Lady wie ich, sollte nicht zu viel aus dem Nähkästchen plaudern, denn das ermüdet doch gewaltig …“, Adelaine beobachtet, wie Großmutter sich die Augen reibt, „… und vernünftigerweise sollte ich ein Stündchen schlummern, bevor der Onkel uns mit seinem Besuch beehrt!“

KAPITEL SECHS

„Gnädige Dame, bitte mir zu bekunden, zu welcher Stunde Ihnen das Dinner zu servieren bequemt! Sind Froschschenkel als Vorspeise genehm? Wünschen Sie im kleinen Salon zu speisen?“ Mrs. Smith rückt sich ihr weißes Häubchen zurecht und streift eine vorwitzige graue Haarsträhne aus ihrem Gesicht, denn einer auf strenge Konventionen bedachten Hausdame geziemt es unter keinen Umständen, es ihrer Herrschaft gegenüber auch nur an einer Spur von Gepflegtheit mangeln zu lassen.

Lady Ethel und Kätzchen Käthe räkeln sich beide; der Mensch auf der Chaiselongue, das Tier auf dem flauschigen Schoß seines Frauchens. Mensch und Tier blinzeln der Eintretenden zu, der Mensch mit seinem rechten, das Tier mit seinem linken Auge. Die menschliche Kreatur, scheinbar aus einem tiefen Nickerchen jäh erwacht und noch ziemlich unleidlich in die Welt spähend, vermag vorerst nur einige Worte zu lallen, denn wie gewöhnlich, das wissen alle dienstbaren Hausgeister von Urzeiten her, braucht Lady Ethel gewöhnlich geraume Zeit, um ihre verschlafenen Sprechorgane wieder in Betriebsamkeit zu bringen. Die tierische Dame, Schnurrkätzchen Käthe, dagegen, zeichnet sich neben dem Augenzwinkern, dem linksseitigen versteht sich, durchs Spitzen beider Ohren aus, denn Mrs. Smith Auftreten erregt in ihr eine wahnsinnige Sehnsucht, durch die nur einen Spalt geöffnete Tür hindurch zu streifen, um sich anschließend in Küche und Keller gütlich zu tun, denn bisher war das Kätzchen dort immer fündig geworden und mit klitzekleinen bis beträchtlichen Leckerbissen verwöhnt oder mit winzigen lukullischen Fundsachen, gehamstert im aufgeplusterten Gaumen, vergnügt wieder von dannen gezogen.

„Meine Käthe! Mein Möpschen, ich liebe jedes Gramm an dir!“ Lady Ethel lässt auf ihr Kätzchen nichts, rein gar nichts, kommen! „Hauptsache, du bist mopsfidel!“, nimmt sie ihren Liebling in Schutz, wenn Lästerzungen über das Katzenmöpschen herzufallen drohen.

Wie gesagt, Lady Ethel muss jetzt nicht nur ihre Sprechwerkzeuge sortieren, sondern ihre gesamte Statur wieder in Ordnung bringen. Sich aufrichten, jedes Bein dorthin verstauen, wo es hingehört, sofern man aus der waagerechten in eine senkrechte Lage kommen möchte, beschwerlich für solcherart Menschen, deren Gelenke reißerische Attacken mit allem Drum und Dran im Gepäck haben. Und beim Aufschlagen der Seidendecke merkt Lady Ethel zu allem Überfluss noch, dass ihr Kleid beim Liegen so weit hochgerutscht ist, dass sich ihr Oberschenkel zur Schau stellt, wenigstens ist aber weit und breit noch kein menschlicher Detektiv zu erblicken.

Noch einen Griff nach ihrer Haarnadel, die ebenso verrutscht wie die Trägerin selbst in die Weltgeschichte blickt, und erst dann wagen sich vier Worte aus ihrem Munde, zwar ziemlich schlafentstellt, aber für Mrs. Smith als perfekte Kennerin der gräflichen Lage durchaus deutbar. Sie drücken jedenfalls aus, dass sie den Salon als Begegnungsstätte wünscht, Froschschenkel, aber auch Truthahn sowie das Wedgwood bevorzugt. Letzteres bedeutet ihr besonders viel, denn mit dem alten barocken englischen Porzellan hat sie schon viel Furore machen dürfen. Frauenherzen schlagen gewöhnlich höher, wenn sie ihr Süppchen aus einer rosenumrankten Terrine oder aus einer mit Goldbrokat verzierten Suppenschüssel schöpfen dürfen. Und Truthahn ist sowieso das Lieblingsessen von Schwager Jacob. Brüder teilen nun mal öfters die gemeinsame Vorliebe für ein bestimmtes Gericht und so ist es für ihn, wie es auch bei Evel der Fall gewesen war, von allergrößter Wichtigkeit, dass der Truthahn goldbraun gebacken mit einer Pflaumensoße serviert, appetitlich auf dem Tische angerichtet zum Gaumenschmaus einlädt – und zwar musste es bei Evel immer Punkt dreizehn Uhr sein!

„Ja, wann wird uns der Gast denn beehren, Lady Ethel?“

„Zwölf Uhr dreißig, wie gewöhnlich!“, lautet deren schnelle Antwort – kurz und schmerzlos, lediglich eine mehr beiläufige Erwiderung auf eine rhetorische Frage von Mrs. Smith, weiß sie selbst doch nur zu gut, dass dieser uralte Herr die Pünktlichkeit in Person ist. Ja, schließlich kennt sie ihren Pappenheimer, denn sein Herrenfahrer hält stets auf die Minute genau seine Droschkentür sperrangelweit auf, so dass der Gentleman mit seinem Stock in der Hand möglichst mühelos dem Gefährt entsteigen kann. Mrs. Smith erinnert sich noch allzu gerne an ihre eigene Jugendzeit, als vor jeder Kutsche ein Mann mit einer roten Fahne herlaufen musste, um alle, die dem Fahrzeug gefährlich in die Nähe kamen, eine Warnung zu signalisieren.

 

„Nun, aber flugs!“, spornt sie sich selbst an und entnimmt der Vitrine eine kreisrunde weiße mit Schwänen bestickte Decke. Und das Wedgwood natürlich, denn sie ist eine zuverlässige Person, die weiß, dass Speiseetikette über Wohl und Wehe eines edlen vergeistigten Hauses entscheiden. Und die schönsten Exemplare von der Dutzendware gehören selbstverständlich auch dazu, sind sie doch für den betagten Gast eine Vergewisserung, dass in diesem Hause noch althergebrachte Traditionen gehegt und gepflegt werden.

KAPITEL SIEBEN

Ein erwähltes Duft-Duo erfüllt den Raum. Das liebliche Wildrosen-Odeur, dem betörenden Blumenbukett in der Tischmitte entströmend, versucht, um die Gunst der Speisenden zu buhlen. Der ernst zu nehmende Mitstreiter, ein knusprig gebratener Truthahn, auf einer Wedgwood-Fleischplatte mit geschwungenen Füßchen platziert, er liegt in mächtigem Wettstreit mit der buttergelben Gartenschönheit, dem von Großmutter eigenhändig gepflücktem Rosenstrauß; dabei prescht der aromatische Truthahngeruch gewaltig die Nasenwände der drei Genießer empor und lässt die zarteren Düfte verblassen.

„Nehmen Sie bitte auf dem Ohrensessel Platz, da thronen Sie komfortabler als auf dem Stuhl!“ Mit diesen Worten bot Mrs. Smith ihm, dem uralten Mann, zuvor die bequemere Sitzgelegenheit an, nachdem sie seinen Kragenmantel, Hut und Stock in der Garderobe pfleglich in Obhut genommen hat.

Adelaine kennt die Vorliebe des vornehmen Onkels für ein ihm ebenbürtig bekleidetes Gegenüber. So trägt sie heute ihre spitzenbesetzte weiße Festtagsbluse, eine silberne Fischkette, ihr Taufgeschenk, scheint in baumelnder Weise dem Onkel seine Aufwartung machen zu wollen. Werden der einstige Meeresbewohner und der Froschschenkel zur Harmonie befähigt sein? Adelaine lächelt ob ihrer phantasievollen Denkabschweifungen. Neben barockem Teller und Silberbesteck glänzen heute drei Exemplare von Großmutters Dutzend auf dem Festtagstisch, als blütenweiße Servietten, in höchst gestärkter Zurschaustellung ihrer unumstößlichen Werte! Und weil Adelaine heute ein wenig verschnupft ist, zieht sie ihr Taschentuch, keineswegs eines aus ‚Großmutters-Dutzend-Sortiment‘, sondern ein besonders luftiges, mit zartbunten Vögelchen bestickt, aus ihrem Ridikül, wie der Handgelenkbeutel einer feinen Dame vornehm genannt wird. Oh, Onkels Rabennase! Sie ist bestimmt für die feineren Düfte nicht in derselben Weise empfänglich wie Grandmas’ und meine wohlgeformten Riechorgane es sind. Aber das würzige Rebhuhnaroma wird es auch in seine Nase schaffen und ihn nach Mehr lüstern lassen. Seine Nasen-Besonderheit war ihr schon als Kind aufgefallen und einmal, da musste sie sogar lachen und Schwester Marie hat ihr den Mund zuhalten müssen. Wie hochnotpeinlich! Was war passiert? Onkels Gabel mit dem schwarzen Klecks Johannisbeergelee als Krönung drauf, war mit seiner Adlernase so kollidiert, dass der Klecks sich unter den beiden Nasenlöchern in seinen feinen Nasenhärchen verfangen musste. Das sah einfach sehr lustig aus, erinnert sich das junge Mädchen und muss jetzt als junge, beherrschte Dame zwar nicht mehr wie früher lauthals losprusten, aber ein Schmunzeln kann sie sich nun doch nicht verkneifen. Und dieses Schmunzeln verstärkt sich noch, als sie den Großonkel jetzt ins Visier nimmt, der ganz der Alte zu sein scheint, in seiner unverwechselbaren Art, wie er, völlig vertieft in das Hantieren mit Messer und Gabel, dem Rebhuhn kräftig zu Leibe rückt, …

Adelaine amüsiert dieser Anblick nicht wenig, besonders in diesem Moment, als ihm, ja, als dem uralten Herrn vor Anstrengung die Gesichtsröte in die Wangen steigt und Schweißtropfen sich auf seiner Stirn ein Stelldichein geben, ehe sich der eroberte Hahn, in kleinen Häppchen ausgebreitet, vor ihm aalen darf. Die Serviette steckt wie immer gekonnt in seinem Hemdkragen. Der Latz präsentiert sich nicht mehr in reinem ursprünglichem Weiß, ja, es war einmal; nein, vielmehr hatte die vibrierende Hand des Alten, beim Schlürfen aus dem Weinglas einen leichten Seegang bewerkstelligend, die perlenden Rosé-Weintropfen genüsslich auf der ganzen Serviettenoberfläche versprengt. Adelaine und Großmutter, letztere in ein anthrazitfarbenes Kostüm gehüllt, alle beide wissen es nur zu gut, dass der alte Herr sich in diesem geheiligten Moment absolute Ruhe wünscht, nämlich dann, wenn er mit Messer und Gabel hantierend oder seine Suppe löffelnd, sämtliches Weltgeschehen um sich herum zu vergessen scheint. Genauso wird es auch gleich sein, wenn er sich seine Vanillecreme genießerisch im Gaumen zergehen lassen wird. Beide schweigen in der Vorahnung, dass seine Redezeit erst nach einem kurzen Nickerchen auf dem Kanapee volle Fahrt aufnehmen wird. Wie recht sie doch haben?

Zwei bis drei Tassen des Wundermittels Kaffee, nach einem Nickerchen wohlig geschlürft, erwecken wie immer Onkels Lebensgeister derart, dass er sich in seinen gewohnten Redeschwall hingeben lassen kann: „Na, Adelaine, mein junges Fräulein, was macht der Herr von Bismarck?“

Die Angesprochene weiß um seine Vorliebe, die nicht nur dem Truthahn gilt, sondern auch dem deutschen Reichspräsidenten Bismarck. Und weil er mit seiner Großnichte einen Anknüpfungspunkt sucht, ist es einzig und allein der Herr von Bismarck, der auf dem Präsentierteller landet, weil er weiß, dass sie sich für alles, was mit ihrem Studienfach Deutsch zu tun hat, interessiert.

„Aber, mein lieber Jacob, sei dir bitteschön im Klaren darüber, dass der Herr von Bismarck schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilt! Sein Tod ist schon bald nicht mehr wahr! Seitdem hat sich die Welt mächtig weitergedreht! Zu Bismarcks Todeszeit lebte mein lieber Evel sogar noch! Und …“

Großmutter mischt sich in das Gespräch zwischen beiden ein, spürt aber schon genau, was ihr Schwager mit seinem Bismarck bewirken will, wie immer, wenn das Gespräch auf den ersten bekannten Vorfahren der Familie gelenkt werden soll. Und tatsächlich fährt der alte Jakob fort und beendet Großmutters Satz: „…Ja, ja, ich weiß das doch natürlich alles! Unser Franz ist Superintendent in einer Elbstadt gewesen und der Herr von Bismarck besaß dort in jungen Jahren ebenfalls ein großes Landgut. Dort nannte man ihn den ‚Wilden‘! Den Herrn von Bismarck, so versteht sich! Er fungierte damals schon als Landtagsabgeordneter. So könnt ihr euch vorstellen, dass er nicht gerade als einer der Scheuesten gegolten hat. Adelaine, mein Fräulein, du weißt als kluges Mädel doch sicher, dass wir auch deutsche Vorfahren aufweisen können.“ Der Onkel nickt seiner Großnichte zu.

Deren Miene gaukelt wie immer eine gewisse Unwissenheit vor. Das gefällt dem Großonkel ebenso wie es der Großmutter zusagt, konnte sie doch ihre ‚Teppichgeschichte‘ sicher zum hundertsten Male auftischen. Und wer weiß, so sinniert Adelaine, wie ich später einmal als kuriose alte Dame wirken werde, dann, wenn ich meinen Enkeln zum hundertsten oder gar tausendsten Male meine besten Episoden zum Besten gebe und mir dabei jedes Mal erhoffe, ihr größtes Vergnügen damit herauskitzeln zu können.

„Ethel, lass’ uns unsere matten Glieder hinüber ins andere Zimmer bewegen! Ich möchte nämlich etwas Bestimmtes aus dem Sekretär holen, um es Adelaine zeigen zu können. Mrs. Smith, ich bitte Sie mir freundlichst den Stock zuzustecken! Adelaine, reich’ du mir bitte deine Hand zum Aufstehen!“

Ja, … geht es seiner Großnichte durch den Kopf, … so ist er und so wird er bis zu seinem Ende bleiben …, der Onkel Jakob, eben ganz der Alte!

„Man schiebe mir bitte diesen Schreibtischstuhl vor den Sekretär! Ich muss mir das gute alte Stück noch einmal genauer betrachten!“ Der alte Herr zeigt auf den braunen Ledersessel und nach dem braven Gehorchen seiner hilfreichen Geister lässt er sich, auf die Seitenlehnen gestützt, dort hinein plumpsen. „Mein Gott, das gute alte Stück!“, wiederholt er sich, um dann das Möbelstück sanft zu berühren. „Adelaide, zieh’ bitte mal die Schreibunterlage hervor, ich möchte mal sehen, ob die alte braune Lederunterlage mit der goldenen Blumenranke als Verzierung noch an den Rändern zu bewundern ist.“

Noch bevor Adelaine zu Werke gehen kann, fällt sein Blick ins untere Bücherregal des Sekretärs, wo ihn in der Mitte ein dicker roter Leineneinband anlacht. „Du meine Güte! Diesen da! …“, und während des Sprechens greift er mit seinem neben dem Sessel stehenden Stock, erhebt ihn, um genau an der richtigen Stelle dort oben einmal nicht sehr sanft gegenzustoßen. „Mein Gott, Jacob, das Glas! Das wertvolle Kristall! Das alte gute Glas! Ich habe es immer wie meinen Augapfel gehütet und du, was machst du jetzt?“

„Ethel, beruhige dich, das ist noch beste Wertarbeit und was soll ihm solch ein kleiner Stoß schon schaden? Adelaine, streck’ dich mit deinen jungen Knochen mal hoch und reiche deinem Großonkel mit seinen alten Knochen diesen Bucheinband dort mal herunter! Ich möchte darin etwas nachsehen!“

Adelaine, folgsam wie sie sich stets gegenüber den alten Herrschaften verhält, stellt sich auf ihre Zehenspitzen, um seinen Wunsch erfüllen zu können. Der Großonkel fährt wenig später mit seiner knorrigen großen Hand über den roten Ledereinband auf seinem Schoß, nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder, ja, so zärtlich berührt er das weiche Leder, gerade so liebevoll wie er einst seine Enkelkinder gestreichelt hat. Adelaine erinnert sich an die hübsche kleine Amabel, ein Kind mit einer Unmenge schimmernder brauner Locken auf dem Kopf. Seine Lieblingsenkelin trug zu festlichen Gelegenheiten oft ein rosafarbenes Hütchen, das durch die forschen Bewegungen der Kleinen ein wenig zur Seite gestupst, ihr einige widerspenstige Löckchen über die Stirn bescherten. Großvater zupfte manchmal an den feinen Härchen, ganz leicht neckend und Amabel hatte ihren Spaß daran, wenn sie jedes Mal wie am Spieß schrie: ‚Hilfe! Du ziepst mich!‘ Aber genau dieses Zeremoniell gehörte einfach dazu, wenn die Kleine ihren Grandpa besuchte. Und genau solche hübschen dunkelbraunen Locken besitzt jetzt Amabels jüngstes Töchterchen. Aber diese liebt es überhaupt nicht, von anderen Leuten liebkost, geschweige denn, geziept zu werden. Und außerdem wohnt sie viel zu weit weg, als dass sie und ihre zwei Geschwister dem Urgroßvater sehr vertraut geworden wären.

Adelaine beobachtet Großonkel Jacob mit Vergnügen, denn seine Augen blinken und blitzen wie Sonnenstrahlen, als er zunächst zaghaft, dann immer rascher hier und da eine Buchseite umschlagend, blättert und blättert, neugierig, genauso, als warte er voller Vorfreude auf etwas Entscheidendes. Dazwischen nickt er mit dem Kopf, einige Male, um schließlich mit seinem Finger auf dicke, fette Lettern zu tippen und freudig auszurufen: „Ich hab’s! Ich hab’s!“ Sind die Alten manchmal nicht wie schwärmende Backfische?, durchfährt es Adelaide, ihren Großonkel beobachtend, wie er wild in seine Hände klatscht, ehe er seine knorrige Hand auf die runzeligen Lippen legt, sicherlich um seinem Mund doch lieber einen Riegel vorzuschieben. „Mein Geheimnis, allein meins! Ich werde es mit ins Grab nehmen.“

Sie spürt: Der alte Mann ist da und ist doch nicht da. Wie sonderbar! Seine Augenlider schließen sich für einen kurzen Moment, während es um seinen Mund leicht zuckt und die Lippen sich zu einem Schmunzeln verziehen. Wie himmelwärts gewandt – dieser Gedanke kommt Adelaine – in seinem Traumland küsst er jetzt bestimmt ein blutjunges Mädchen, liebestrunken wirft es sich an seine behaarte männliche Brust. Jung ist er und jung ist die Maid und die Welt um ihn herum tanzt und schwebt im Reigen. Warum denkt sie plötzlich an eine Maid? Wie ein Schlag durchfährt es sie. Hat es in Onkel Jacobs Leben nicht eine Tragik gegeben, die flüsternd, von einer zur anderen Generation weitergegeben worden war? Eine Liebe, von Beginn an dazu verdammt, unglücklich zu enden und Leid über die Maid und ihren Bastard zu bringen. Armer Onkel, durchfährt es sie, ich würde dich jetzt so gerne trösten und dir sagen, wie Leid es mir für dich, deine Angebetete und euer geliebtes Kindchen tut. Und jetzt wird dieses, dein dir fremdes Kind, auch schon Kinder haben, die du nicht streicheln und ziepen darfst. Wie schlimm muss es für einen Vater sein, sein eigenes Fleisch und Blut verleugnen zu müssen. Aber, es ist dein ureigenes Geheimnis! Du hast es selbst gesagt. Und so soll es bleiben!

Als der alte Mann wieder zu sich kommt, tippt er wieder auf diese eine Seite in dem, ihm so wertvoll erachtetem Buch. „Von Shakespeare! Ich hab’s damals abgeschrieben!“ Hastig verschließt er wieder seinen Mund. Wie er jetzt sehr gefasst und würdevoll den Vers liest „Heiß rollt ihr die Träne und erweicht das Gestein! Sing Weide, grüne Weide!“, überfällt Adelaine ganz viel Mitleid, ganz viel Trauer, ganz viel Liebe für diesen Menschen; so seltsam er auch war und es immer bleiben wird, der so wie alle anderen Männer, die sie kannte, unter den widrigsten Umständen stark sein musste. Eine Träne sah ich bei keinem einzigen Mann, das heißt nur eine halbe Träne bei meinem Vater, die er verlegen wegtupfte, damals an Großvaters Grab, so geht es ihr durch den Kopf, aber dafür erlaube ich es mir jetzt, einer geweinten Träne ihren Lauf zu gewähren und sie, wer weiß wohin, kullern zu lassen. Aber dieser einen Träne leisten schließlich noch einige ihrer Kameraden Gesellschaft, die allesamt an ihren truthahnfettgeschwängerten roten Lippen abprallen. Mitleid zeigen durch ein herzhaftes An-sich-Drücken eines männlichen Respektwesens, allein schon dieser Gedanke erschiene ihr als ein unverzeihlicher Regelbruch. Der Großonkel spürt nur zu gut, dass er sich schnellstens auf unverfänglicheres Terrain begeben muss.

 

„Was macht dein Bismarck, Adelaine?“

„Oh, der Bismarck … Ja, der Bismarckhering schmeckte ausgezeichnet. Ich habe ihn bei meinem Deutschlandbesuch genossen!“ Oh, Dank sei dir, du Himmel! Adelaine freut sich über diese Eingebung von oben, hat sie sich doch oft genug bitter darüber beklagt, dass Schlagfertigkeit ihr wohl nicht in die Wiege gelegt worden zu sein scheint. „Ja, der Herr von Bismarck und seine Leidenschaften …!“

Onkel Jacob lacht laut auf, als er das Wort wieder ergreift; Adelaine schmunzelt und Lady Ethel hat sich die ganze Zeit nicht offen an der Unterhaltung beteiligt. Stattdessen hält sie ihren Kopf an Adelaines Schulter gepresst. „Flau im Magen wird es mir, auch wenn wir vor kurzem erst gespeist haben“, flüsterte sie ihrer Enkelin gerade noch zu, die blubbernde Gegend mit beruhigenden Handgriffen umkreisend.

„Truthahn, wo bist du geblieben? Hast du dich schon in tiefere Gefilde begeben? So, jetzt aber muss selbst ein Schwerhöriger vernommen haben, wie der große Stein von meinem Herzen geplumpst ist. Aber … der Schlussakkord deutet nun in eine friedsame Richtung, dank unseres Bismarckherings!“, stellt das junge Mädchen erleichtert fest. Ihr Mund hatte Großmutters Ohr berührt – Adelaine fährt nun mit ihrem Finger über jene Stelle ihres rechten hinteren Ohrläppchens, das die Hinterlassenschaft von Großmutters feuchter Tuschelei abbekommen hat und das sie jetzt mit ihrem Taschentuch abzutupfen versucht. Zum Schwager gewandt, richtet sie kluge Worte; nicht zum ersten und einzigen Mal kramt sie Aussprüche aus dem Vermächtnis ihres geliebten Evels hervor: „Der deutsche Reichskanzler von Bismarck soll gesagt haben: Wenn Heringe genauso teuer sind wie Kaviar, werden ihn die Leute weit mehr schätzen!“

„Ethel, bitte tue mir einen Gefallen!“ Die alte Lady wird auf diese Weise mitten aus ihren tiefen Gedankengängen gerissen. „Alles Menschenmögliche wird dir geschehen!“ Ihre Worte – laut gesprochen, langsam betont, mit einem Lächeln gepaart – mögen sie doch die Seele des Schwagers erreichen. „Ist der angestammte Platz von Mutters Bild, vom Schreibsekretär aus gesehen, nicht immer der in der vorletzten der breiteren Schubladen gewesen, und zwar in der linken, soweit ich mich recht entsinne?“

Adelaine reagiert prompt. Sekunden später liegt Uronkels gewünschtes Bild auf seinem bügelgefalteten Hosenschoß.

„Ach, ja …“, gerät der alte Herr ins Schwärmen, „… ich sehe hier ein Lichtbild, das mich zutiefst beglückt: Unsere verehrte Frau Mutter sitzt an diesem Sekretär und erledigt ihre Post. Ihr Kopf ist über die Schreibplatte gebeugt. Einzelne dunkle Haarlöckchen umspielen ihr Ohr, das dem Betrachter zu allererst ins Auge sticht. Sieh’ mal hier! Mamas Fledermausohren! Wie oft verwünschte sie diese Schönheitskiller!“ Der uralte Herr streicht mit seinem tanzenden Finger über die filigrane Hand seiner Mutter. „Diese passen so gar nicht zu ihren Riesenohren! Seht mal, wie die weißen Armrüschen im Kontrast zu dem schwarzen Kleid ihre dunkle Erscheinung auflockern! Ihrem Briefeschreiben, ihrer Lieblingsbeschäftigung, der widmete sie sich am liebsten zur Zeit des Sonnenuntergangs, vornehmlich dann, wenn rotgoldene Strahlen das ganze Zimmer in warmes, anheimelndes Licht versenkten. Unsere Mama, die gute, mit ihrer Feder malte sie so wunderbare Blumen auf Pergamentpapiere. Sie war eine rechte Könnerin auf diesem Gebiet! Ganz besonders liebte sie es auch, einzelne Blumenblüten aus dem Garten zu pressen … Ethel, sie schwärmte auch, wie du es tust, von Rosen in allen Facetten …“

„Ja, meine Schwiegermutter, sie hat mir ihre Rosenliebe in jungen Jahren eingepflanzt!“ Dankbar fällt Ethels Blick auf die gelbe, voll erblühte Pracht in der Wedgwood-Vase. „Ich glaube, ihr dürstet wieder nach feuchtem Element!“ Mit Hingabe streichelt sie über eine Blüte, die schon fast eine ihrer ‚Dutzend-Decken‘ berührt.

Der alte Herr lässt sich nicht gerne unterbrechen und fährt fort, seine Erinnerungen kund zu tun. „Unsere Mama, ja, sie legte oft Vergissmeinnichtbünde zwischen Löschpapier und verstaute sie zwischen diesen Büchern …“, dabei gleitet sein Blick weiter von den Schubladen des Sekretärs bis zu den Glasscheiben hoch, hinter denen die farbigsten und die farblosesten Buchbände zumeist einen langen Schlaf halten dürfen. „Einigen von ihnen war die besondere Ehre zuteil geworden, als Plätteisen für Blüten und Gräser zu dienen. Mama klebte die filigranen Trockenblumen danach fein säuberlich auf Büttenpapier, so dass sie damit Verwandte sowie gute Freundinnen gerne mit ihren individuell gestalteten Grüßen erfreuen konnte!“

Adelaine, über die Schreibtischablage gebeugt, versucht, ihre Gedanken zu sortieren. Vergissmeinnicht und Co., Löschpapier und Federzeichnungen erst einmal adé! – jetzt muss zunächst die Schatzsuche nach dem Stammbaum beginnen, jetzt muss die Fährte aufgenommen werden! „Grandma, die vorletzte? Richtig so? Wie weiter?“

„Bei dir, oh, du mein Kind, da müsste doch noch ein frischer Wind im Oberstübchen wehen, oder? Aber … ich gebe es unumwunden zu, … ich bin diejenige, die sehr viel mehr Sekretär-Erfahrungen hat! Adelaine, ziehe bitte die vorletzte der breiteren Schubladen heraus! Und zwar die linke!“

„Grandma, guck’ mal hier! Meine neueste Entdeckung! Wie reizend! Eine wahre Schatztruhe, dein Sekretär! Eigentlich euer Sekretär! Und ganz eigentlich auch der meinige!“ Und während sie eine Lobeshymne auf ihren unbeabsichtigten Fund ausstößt, tippelt sie mit tänzerischen Schritten, die luftige Entdeckung zwischen ihren Fingern, ihrer Großmutter entgegen.

„Um Himmelswillen!“ Großonkel, auf Stammbaumfreuden geeicht, wird ungeduldig. „Immer diese Weibergeschichten!“ Sein Blick richtet sich auf das zierliche Ding da, das ihm irgendwie bekannt vorkommt, nicht dieses spezielle hier, sondern solcherart weiblicher Spielerei im allgemeinen, die mit seiner Jugendzeit untrennbar verbunden gewesen war, der Walzerklang, Rosalias Lippen in erreichbarer Ferne und der hauchdünne aufgefaltete Fächer als Tugendwächter dazwischen. Aber nein, weg mit diesen weibischen Angelegenheiten! Sein Blick fällt auf den Shakespeare-Band vor ihm auf dem Tisch – oh, nur nicht schon wieder irgendwelche Rührseligkeiten …, gemahnt er sich und beginnt darin zu blättern.