Die Rosenlady und der Sekretär

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„Adelaine, hast du den Brief von Paul denn gefunden?“ Großmutter wundert sich über der Enkelin Geschäftigkeit und schüttelt ihren grauen Knoten-Kopf, während der Großonkel bedächtig, wie er es über alle Maßen liebt, sich Tabak, den er zuvor aus der bunten Blechdose genommen hat, in sein Pfeifchen stopft. Jetzt bringt Großonkel nichts mehr so schnell aus der Ruhe, das weiß das junge Mädchen, denn genauso wie Großmutter ihre Glaubensrituale schätzt, so scheint Großonkel für das nächste halbe Stündchen in einen heiligen Raum der Ruhe einzutreten.

„Juchhu, da bist du ja endlich, du Ersehnter! Du wolltest mich wohl ein wenig foppen und hattest dich in die äußerste Ecke verkrochen!“ Adelaine greift nach dem Kuvert und trägt es, mit sich und der Welt zufrieden, zum Tisch hin. „Grandma, diese Schrift, sieh’ mal! Ich hab’ mehr geraten als dass ich es entziffern konnte. Das hier ist doch ein P, und dahinter, so denke ich mir mal, sind das a, u und das l. Grandma, würdest du uns bitte den Brief vorlesen? Du kennst die Schrift sicher besser!“ Adelaine hatte ihn vorsichtig entfaltet und hält ihn der Großmutter unter die Nase!

„Kind, reiche mir bitte mein Brillenglas!“ Genau dann, wenn Großmutter ihr Monokel mit ihrem Augenlidmuskel festklemmt, dann verzieht sie jedes Mal ihren Mundwinkel ein wenig nach oben, so als ob sie einseitig lächele. Wie ein gelehriger Herr Professor wirkt sie in solchen Momenten, ein Gelehrter in Kleidern, ach wie komisch! Einer, der, auch wenn er Ernstes vorträgt, im Gepäck oft auch Bruder Leichtfuß mitträgt. Adelaine muss lächeln, gedankenverloren wie sie es häufig ist.

„Also, ich beginne, meine liebe junge Dame und mein verehrter betagter Herr Schwager!“ Sie räuspert sich einmal. „Ich glaube, dass mir noch ein Krümelchen Brot im Hals stecken geblieben ist.“ Sie räuspert sich zum zweiten Male. Dieser Räusperer hallt noch lautstarker durch den Raum als sein Vorgänger und scheint dem Quälgeist im Hals endgültig den Garaus machen zu wollen. „Ich vermute, dass sich ein Teil des Quittengehäuses in meinem Schlund verfangen hält!“ Dame Ethel holt einmal tief Luft, lässt ihre Hand sich vorne fest um den Hals krallen und bittet, kläglich nach Luft schnappend: „Klopft bitte … hierhin!“, und zeigt dabei auf ihren Rücken.

„Erst einen Schluck Tee nehmen! Ethel! Dann rutschen die Kernlein auch dorthin, wo sie hingehören!“ Nachdem der alte Herr über Jahre gelernt hat, seinen Tatterich als einen freundschaftlichen Lehrmeister des sich näher und näher heranschleichenden Gevatter Tods zu akzeptieren, so stört es ihn auch wenig, dass nicht alle Tröpfchen dorthin fließen, wo sie eigentlich hingehören, nämlich aus der Wedgwood-Tasse, die Mrs. Smith in ihrer flinken Weise bereitgestellt hat, in seinen Schlund. Großmutter, mit erhobenen Händen die befreienden Rückenschläge ihrer Enkelin erwartend, kehrt sich jetzt reichlich wenig um die braunen Spritzer auf der Spitzendecke, zu sehr ersehnt sie aus dem Zusammenspiel der beiden Akteure am Tisch, dass sie den Störenfried in ihrem Hals endlich los wird. Und – oh, Wunder – Adelaines Bemühungen scheinen doch von Erfolg gekrönt zu werden. „Fort ist er, fort, tatsächlich fort, dieser Eindringling!“ Großmutter klatscht in die Hände, vernehmlich nach oben gewandt spricht sie: „Lieber Herrgott! Danke! Danke! Wie schön ist das Leben, wenn ein Mensch wieder zum Leben notwendige Luft schnuppern darf! Oder …“, die alte Dame stützt ihren Kopf auf ihre Finger, „… liegt das Luftwegbleiben sogar an einem schrecklichen Gedanken, der mich gerade überfallen hat, als ich an Paul dachte, an den Freund unseres Vorfahren? Aber jetzt lese ich erst einmal den Brief vor, diesmal, so hoffe ich wenigstens, ohne diesen Quälgeist! – Lieber Freund! Jetzt möchte ich aber nicht länger verweilen und Dir auf Deinen Brief antworten. Mein aufrichtiges Mitgefühl bringe ich Dir hiermit entgegen. Du hast Dich mit zu viel Unbill herumzuschlagen, wie allerorts Kunde gegeben wird. Dass Du mit tiefster Trauer erleben musst, wie Deine zweimalige, mit unzähligen Mühen erstellte Kirchenordnung den Wirren des Landes zum Opfer gefallen ist, das rührt mich zutiefst. Gerade kommen mir die Worte vom Luther in den Sinn: ‚Nehmen Sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: lass fahren dahin, sie habens kein Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben!‘ Jesus Christus wird für uns und den rechten Glauben streiten. Daran lasst uns mit allen unseren Kräften festhalten! Es tut mir aufrichtig Leid, dass Du nur halb so viel Lohn erhältst, wie es Dir versprochen worden war. Du musst so viele Mäuler stopfen und außerdem dafür Sorge tragen, dass Deinen Söhnen eine gute Gelehrsamkeit zu Teil wird und Deine Töchter eine stattliche Mitgift aufweisen können. Wie gekränkt musst Du Dich gefühlt haben, dass Du die Geringschätzung eines Ochsenknechtes ertragen musstest! In Rostock läuft alles ohne besondere Schwierigkeiten. Meinen Studenten versuche ich den lieben Reformatoren Flacius nahezubringen, um bei ihnen die wahre lutherische Lehre zu stärken. Von meinem Eheweib und den sechs Kindern ist nichts Schändliches zu berichten. Nur meine Margarethe, jetzt in dem schwierigen Alter des Übergangs vom Mädchen zur Frau, erweist sich manches Mal als ziemlich störrisch. Sie ist kein so hübsches Mägdelein wie die andere Tochter, eher klein und von gedrungener Statur. In allen Dingen, die uns hier auf Erden nicht so sehr behagen, in allem Kampf lasst uns wie Luthern beten: ‚Ach, Gott, vom Himmel sieh darein und lass dich des erbarmen!‘ In freundschaftlicher Verbundenheit von Haus zu Haus verbleibe ich Dein Dir stets verbundener Paul.“

Stille! Der alte Herr und Adelaine, seine Großnichte, sitzen auf ihren vier Buchstaben angenagelt wie auf Kirchenbänken, andächtig, so aufmerksam, als ob sie des Herrn Pastors Auslegungen Silbe für Silbe inhalierten. Ihre Hände halten sie brav über dem Schoß verschränkt, als Lady Ethel sich als erste zu Wort meldet: „Ob es jetzt das Krümelchen Brot oder Teilchen vom Kerngehäuse der Quitten gewesen ist, das mir die Luft zum Atmen nahm, ist jetzt einerlei. Oder sollte es etwa doch die Schauergeschichte gewesen sein, die hier …“, und dabei zeigt sie, den Brief noch auf ihrem Schoß haltend, auf diese Seite ganz unten, auf der in Form einer Notiz, in einer anderen Schrift, mit Griffel gemalt, etwas angefügt worden steht. „Hier liest man schwarz auf weiß: ‚Die jüngste Tochter Paulus von Eitzens, namentlich Margarethe, wurde zusammen mit ihrem Gatten, dem Amtsschreiber, anno 1610, hingerichtet. Das Urteil erfolgte wegen Mitschuld an der Ermordung des Schwiegersohnes aus Apenrade. Dies fügt unter Berücksichtigung aller Nachforschungen in Gemeindeämtern der Ururenkel des Sohnes vom Superintendenten Paul von Eitzen, anno 1730, hinzu.‘ Unterschrieben ist mit Magnus von Eitzen, Domherr zu Lübeck.“

Stille – die beiden Zuhörer verharren in Schockstarre, bis die alte Dame erneut das Wort ergreift – sehr still und traurig klingt das nun, was sie jetzt zu sagen hat: „Da hat der Herrgott aber noch ein Einsehen mit dem Paulus gehabt, dass er diese Schmach nicht mehr selbst erleben musste. Die eigene Tochter! In einer Familie, in der Gottesfurcht und Gottesliebe zuhause gewesen sind – solch’ ein Verhängnis! Unglaublich!“ Adelaines Seufzer durchbricht die sekundenlange Stille, die nach Ethels Wehklage eingetreten war, bis sie erleichtert feststellt: „Wie gut, dass ich heute leben darf!“

Der Großonkel zuckt augenblicklich seine Schultern, während sich seine Nasenflügel zum tiefen Luftholen rüsten und dabei noch verschrumpelter aussehen als im gelockerten Zustand sowieso schon. „Mich deucht, hier duftet es nach Schweinebraten! Sogar nach einem besonders saftigen in kross gebratener Ummantelung! Adelaine, würdest du mir bitte aufhelfen?“

Und die Folgsame springt schnurstracks aus ihrem Sessel auf, um ihre Hand um das Armgelenk des Hungerleiders zu legen und diesen wahrlich nicht ausgehungert wirkenden Mann zum Genuss versprechenden Mahl zu führen – und jetzt heißt es: Schritt für Schritt dem dampfenden Schwein entgegen.

KAPITEL NEUN

„Hier siehst du, Adelaine, das sind die Kinder vom Franz; ein in jeder Hinsicht fleißiger Mann – als da sind zehn Stück an der Zahl! Zwei Frauen waren an der Hervorbringung nicht unmaßgeblich beteiligt. Das hier ist die Magdalene und die zweite Frau hier hieß Margarita.“ Er zeigt dabei auf zwei rechteckige kleine schwarz umrandete Rechtecke. „Da stehen nun wie bei all den vielen anderen nur zwei Zahlen, manchmal ist aber nur ein Name angegeben, in zackigerer, weich, ästhetischer oder auch linkischer Weise verewigt, von unterschiedlichen Schreibern verfasst“, resümiert die aufgeweckte junge Dame, die das philosophische Nachsinnen wohl mit in die Wiege gelegt bekommen haben muss.

„Jede der unscheinbar wirkenden Figuren steht für ein Leben, wie lang oder kurz, wie sinnvoll oder auch unbedeutend es auch gewesen sein mag. Aber immerhin ist das Kästchen, in dem ein Kind, das mit wenigen Tagen, Wochen oder Monaten die Erde schon wieder verlassen musste, genauso groß wie die Tintenbilder, in denen ein langes Leben festgehalten wird. Mein Gott, besteht ein Menschenleben denn nur aus zwei waagerechten und zwei senkrechten Linien, die mal mit Kantel, mal mit freier Hand aufs Papier gebracht werden? Guck’ mal hier, da macht die schwarze Linie einen klitzekleinen Schwenker nach oben!“

„Ja, warum denn nicht?“, unterbricht der Großonkel das junge Mädchen. „Vielleicht war einem Vorfahren beim Schreiben, so auch wie bei mir eben gerade, der köstliche Geruch von Schweinebraten in die Nase geweht oder der Betreffende hatte zu tief ins Weinglas geguckt! Wer weiß das alles schon? Denen war auch nichts Menschliches fremd!“

Die alte Dame muss lächeln. Der kurzen Anmerkung, an die Adresse des Schwagers gerichtet: „Ach, ihr Männer immer … mit euren oft so unpassenden Kommentaren!“, folgt ein verständnisvoller Blick auf ihre Enkelin, die im gleichen Moment ihre Großmutter ins Visier nimmt und die Ohren dabei besonders spitzt, als diese sie in fürsorglichem Ton ins Gebet nimmt. „Mein liebes Kind, beachte bitte, was ich dir jetzt zu sagen habe! Ich spürte schon wenige Jahre, nachdem du unsere Erdenbühne betreten hattest, dass du mit einer besonderen Empfindlichkeit ausgestattet worden bist. So edel dieserart Veranlagung auch sein mag, so führt sie doch andererseits allzu leicht zur Melancholie. Ich weiß um diese Trübsinnigkeiten und ich habe nach besten Kräften versucht, diese Unglückshäher zu vertreiben. Sieh’ mal, diesen Blumenzauber hier …, dieser betörende Duft …, diese filigranen Blütenblätter …, sieh mal, diese hier, rosarot getupft sind sie, sind sie nicht himmlisch?“ Großmutter berührt voller Inbrunst ein einziges Blättchen, das sich in ihre Handfläche schmiegt. „Erlabe dich an der wunderbaren Natur, umgib dich mit geliebten Menschen. Und wenn du dann noch einen guten Draht nach oben pflegst, dann wird der Herrgott dir seine Aufgabe für dich zeigen, und zwar diejenige, die er auf Erden für dich vorgesehen hat, das dürfte dann der beste Schutz gegen das Eindringen der dich auflauernden Schwermut sein.“

 

„Ja, ja meine liebe Kleine, pass’ du mal tüchtig auf, dass du nicht eines Tages mal in einer Anstalt landest so wie die Maria! Die ist sogar …!“

„Schwager!“ Selten hat Adelaine ihre Großmutter bisher so entrüstet aufschreien gehört. „Gib endlich Ruhe! Hast du denn kein Herz im Leibe?“

„Liebe Schwägerin! Sei nicht so schlimm erbost! Ein junger Mensch muss gewarnt werden, denn du weißt es selbst, was die ganze Familie mitgemacht hat, als Maria in die Themse gegangen ist!“

„Nein, so nicht! Nein, so nicht! Du verängstigt die Kleine ja bis aufs Blut! Wo bleibt deine Einfühlungsgabe, oh du mein Gott?“

Adelaine schweigt und zeigt Verwirrung. Sie versteht weder Großmutter noch Großonkel. Er malt den Teufel an die Wand, einen ganz großen, aber Großmutter mischt mit einem Teufelchen, einem ziemlich kleinen, einem schwermütigen, ebenfalls mit, wenn sie meine Gefühlslage dramatisiert. Adelaine schweigt noch immer, aber die Frage wie: Bin ich schwermütig, wenn ich übers Leben nachsinne?, schwirrt in ihrem Kopf herum und sie nimmt sich vor, beim nächsten Mal, wenn sie mit Grandma alleine ist, ihre geheimsten Ängste zur Sprache zu bringen. Großonkels Unbesonnenheit kann sie dabei überhaupt nicht gebrauchen, nein, wirklich nicht, nie und nimmer!

„Adelaine, sieh mal hier!“ Der runzelige Finger, der mit dem Tatterich, tanzt zwischen zwei Tinten-Rechtecken hin und her. „Hier wird’s für uns eigentlich erst interessant! Ab hier spaltet sich der Familienzweig in eine englische und in eine deutsche Linie. – Großonkel, meinst du diesen Franz hier oder etwa diesen Menschen hier, mal ausnahmsweise einen Johann?“

Adelaine beobachtet, wie sein Finger zwischen beiden Namen hin- und herpendelt. „Du zeigst mal mehr hier, mal mehr dort hin. Dein Finger wackelt hin und her.“

Der alte Herr kann es schwerlich ertragen, wenn ihn ein Mensch auf irgendeine seiner Unzulänglichkeiten hinweist. Energisch greift er nach dem zierlichen Obstmesserchen, das Mrs. Smith den dreien samt einem Korb glänzender, rotbackiger Äpfel auf den Tisch gestellt hatte. Und genauso energisch stupst er mit der Messerklinge, der schmaleren goldbesetzten Seite auf den Namen: Johann. „Warte mal ab, junges Gör, wenn du mal in solch’ eine Lage kommen solltest, dass du deine Gliedmaßen nicht mehr unter vollständiger Beherrschung hast!“

Großmutter und Enkelin werfen sich vielsagende Blicke zu, ehe Adelaine ausruft: „Oh, seht mal hier …!“ Dabei zeigt sie auf die beiden Herren Franz und Johann. „Das ist aber seltsam. Betrachtet euch mal die Zahlen genauer! Bei dem einen steht 1697 als Todesdatum, bei dem anderen als Geburtsdatum.“

„Ja, du hast recht, der Vater Franz ist vier Wochen vor der Geburt seines Sohnes gestorben!“

„Mein Gott, wie traurig!“ Adelaine macht ein bekümmertes Gesicht, als der alte Herr ihr unsanft über den Mund fährt.

„So war das eben! Geburt und Tod waren eng miteinander verzahnt. Ihr seid heute eben viel zu sehr verweichlicht! Schreib’ es dir hinter die Ohren: Das Leben ist wahrlich kein Zuckerschlecken!“

Großmutters Blick zur Enkelin spricht Bände; Bände, die nur ihr sehr vertraute Menschen entziffern können. Sie sagt keinen Ton; ihre Erregung zeigt sich lediglich darin, dass sie ihren Apfel sehr fahrig behandelt. Anstatt mit liebevollen Augen in gleichmäßige Stücke geteilt zu werden, spürt der rotglänzende Jonathan kreuzweise liederliche Einschnitte in seinem Fleisch, wobei zornige Augen ihm entgegen funkeln.

Der alte Herr rutscht derweil in seinem Sessel ein Stück nach hinten und zieht genüsslich an seiner Pfeife: „Ja, manchmal kann Alter eben auch ein Vorteil sein! So verhinderte es, dass ich 1914 eingezogen worden bin. England hat den größten Fehler aller Zeiten gemacht, dass es mit ins grauenvolle Kriegsgetümmel eingestiegen ist.“

Adelaine weiß nur zu gut, dass das Stichwort ‚Krieg‘ einen nicht endenden Redeschwall beim Großonkel auszulösen imstande ist! Und sie reagiert sehr geistesgegenwärtig. „Onkel Jacob! Sieh hier! Dein Namensvetter hat seine Namensänderung vollzogen. Aus Johann wird John. Ein Deutscher wird zum Briten. Und Johns gibt es eine Menge bei unseren Altvorderen! Der erste Sohn eines Johns wird mit eben diesem Namen ausstaffiert!“

Oh, Thema Krieg – erfolgreich besiegt, Thema Sohn; offenbar eine erneute Bedrohung? Oh, wie konnte ich auch? Dass ihr ihre Unbekümmertheit nicht immer zum Segen gereicht, spürt sie beim Anblick des Gegenübers. Großonkels ‚Zipfel vom Paradies‘, so pflegt er sein Pfeifenstündchen meist schelmisch zu nennen, droht augenscheinlich mit Flugkraft ein finsteres Terrain anzusteuern, denn der würzige Pfeifenrauch verändert zusehends seine Beschaffenheit, so dass eine säuerliche Duftnote mehr und mehr den Raum erfüllt.

„Darf ich dir einen Ratschlag geben, Jacob? Übe dich weiterhin in Geduld mit deinem schwierigen Sohn, mein Schwager! Manches Kind entwickelt sich erst später. Pflege deine Zuversicht, dass auch das deinige, das widerspenstige Kind, eines Tages würdig in deine und in deiner Vorfahren Fußstapfen treten wird!“

Oh, manchmal ist Grandma doch ein wahrer Engel und nicht das winzigstes Teufelchen scheint in ihr verborgen, so wie ich es eben noch geglaubt habe. Wie oft hat Großmutter nicht schon eine brenzlige Situation retten können? Sie hebt ihren wenigstens einer Sorge enthobenen Kopf wieder hoch, als Großonkel sich erneut zum Stammbaum hinunterbeugt, um die Reihe von fünf Kästchen abzugrasen, von links nach rechts verfolgt er, diesmal mit seiner ledernen Griffelhülle, die Kinderschar seines Namensvetters, der mit Elizabeth, der Frau verheiratet war, die, das ging von Generation zu Generation weiter, eine Mitgift von sage und schreibe 20.000 Pfund mit in die Ehe gebracht haben soll.

„Ja, mein Kind, hättest du in dieser Zeit gelebt, du wärest auf Gedeih und Verderb von der Gunst deiner Eltern abhängig gewesen. Zwischen Eltern und zukünftigen Schwiegereltern wurde ein regelrechtes ökonomisches Tauziehen veranstaltet und die Ehe glich einem Artikel, der bestmöglich versteigert werden musste. Wohlunterrichtete Teezirkel der Damen höheren Geblüts fanden ihren Gefallen daran, mit ihrer Einbildungskraft der Reihe nach alle zur Verfügung stehenden Heiratskandidaten zu verkuppeln. Das artete in ein beliebtes Gesellschaftsspiel aus. Ja, mein Kind, das waren noch Zeiten …!“

Kaum, dass der alte Herr zum Luftholen kommt, unterbricht Adelaine seinen Wortschwall. Scharfsinnig zu sein, das ist ihr eine keineswegs in die Wiege gelegte Gabe, die sie nach Verlangen abrufen kann. Aber nun? Tauben, die auf Marktplätzen lästig fallen, versucht jeder zu vertreiben, doch Tauben, die einen Funken Heiligen Geist versprühen, sind ersehnte, himmlische Begleiter, die wie in unserem Falle, dem jungen Mädchen das richtige Wort zur rechten Zeit eingeben. Adelaine weiß nämlich um die gefährlichen Redeschlachten mit dem Großonkel, besonders auch, was das Thema ‚Heirat‘ betrifft. Das Unangenehme an der ganzen Angelegenheit ist, dass er dabei so gut wie immer als Sieger hervorgeht.

„Lieber Onkel Jacob“, etwas Possierliches zu sagen, das kann nie verkehrt sein, befindet sie dankbar, „… bereite mir bitte eine große Freude und erläutere mir diesen wunderbaren Stammbaum! Vier Söhne und nur eine Tochter!“, konstatiert Adelaine etwas verwundert, auf die fünf dicht nebeneinander stehenden Rechtecke tippend, sie zeigt sich insgeheim aber erleichtert darüber, dass sie selbst nicht mit vier Brüdern gesegnet worden war, wo ihr doch einer von der anstrengenden Sorte schon mehr als genügte. „Der eine von ihnen, war der nicht jener, welcher …?“

Lady Ethel murmelt etwas vor sich, so als habe sie Angst, das Unglaubliche laut auszusprechen, denn Ungehöriges zu erwähnen, ja, auch nur anzudeuten, das verbietet sich eigentlich in ihrem anständigen Haus … Ja, das Unvorstellbare wurde doch immer hinter vorgehaltener Hand meistens von Ohr zu Ohr über die Damen weitergereicht, und niemand wagte so recht, dieses gewisse ‚Es‘ über seine Lippen kommen zu lassen, das Unaussprechliche, aber in der Weise wie der weibliche Klatschmund sich dabei zu einem versteckten Grinsen verformte und wie dieses geheimnisumwitterte ‚Es‘ die Damen zu erregen schien, das spricht Grandma in diesem Moment doch tatsächlich aus.

„Ja, der eine von ihnen, der soll sich doch mit einem Mann abgegeben haben, das tuschelte man doch ständig, oder, welche Meinung hast du denn dazu, mein lieber Schwager?“

„Ich kann und will es mir einfach nicht vorstellen, dass in unserer hoch angesehenen Familie solcherart Abartigkeiten vorgekommen sind. Beruhige dich, Ethel, das sind Weibergeschichten mit Pikanterie und Effekthascherei!“ Für den Alten scheint damit dieses delikate Thema abgehakt zu sein.

„Ist schon seltsam, dass sich jemand so etwas nur eingebildet und weitergegeben haben soll. Das wäre ja schließlich Rufmord gewesen! Und vielleicht ist sein Freund doch nur ein guter Kamerad gewesen, mit dem er aus wirtschaftlichen Gründen zusammengelebt hat.“ Großmutter scheint von ihrem Schwager eine Reaktion zu erwarten.

Aber er behält sich eisernes Schweigen vor.

Adelaine fühlt sich sehr verunsichert, was sie von dem ganzen unappetitlichen Thema halten soll. Großmutter hätte es lieber in Zweisamkeit mit ihr zur Rede bringen sollen. Nur ganz schnell einen anderen Gesprächsfaden knüpfen, das junge Mädchen bietet seine ganze Kraft auf, dieses brisante Thema abzuschütteln: „Sieh mal hier, Onkel Jacob, dein Namensvetter Jacob und der übernächste der Herren, Charles mit Namen, ist mit einer schwungvollen Linie verbunden. Kannst du das entziffern, was dort in kaum lesbaren Ziffern vermerkt ist?“

Der Großonkel fährt mit seiner Stielbrille, auch Lorgnette genannt, die winzigen Buchstaben ab und erklärt nach kürzester Zeit sehr sicher: „Die beiden Brüder haben zusammen ein großes Bankhaus gegründet. Das war, wie hier steht, 1762 in London passiert. Bald schon galten sie als die wohlhabendsten Familien in West-Country. Aber verfolgen wir mal diese Linie hier weiter: Unser Zweig ist das hier!“ Und sogleich tanzt Großonkels Griffelhülle eine Reihe tiefer und vollführt dabei einen rechtsseitigen Knicks. Sein Gesicht scheint leicht errötet, nur die Schläfenadern plustern sich mächtig auf, die feuerroten geschlängelten Rinnsale signalisieren eine Erregung, die in Adelaine ein Gefühl der Bangigkeit entstehen lässt. Von der Gefahr, dass im Kopf Äderchen platzen können, hatte sie schon gehört, aber diese hier sind mächtigere Schicksalsgefährten, die … oh, nein! Nur nicht! Nicht jetzt! – Ob Großmutter nicht doch ein klitzekleines bisschen recht hat mit ihrer melancholischen Besorgtheit? – Nein und nochmals nein, solche Gedanken scheuche ich jetzt einfach weg! Aber, eine blutüberströmte Fast-Leiche in einem Landhaus inmitten einer Pampa, weit und breit ohne Doktor in greifbarer Nähe, ein rotfleckiges Obstmesser in der Hand, die Äpfel haben eine rote Schale, sowie zwei Damen, die in größter Bestürzung das Weite suchen, um Hilfe zu holen, wobei das Hilfesuchen durchaus als ein Flüchten verdächtig erscheinen könnte. All dieserart Phantasien lassen sich nicht, mir nichts dir nichts, aus einem Gehirn vertreiben.

Und jetzt wird Großonkels Stimme auch noch lauter; sie schwillt mächtig an, als er loszudonnern beginnt: „Ja, es waren alles furchtbare Idioten in der Geschäftswelt, die dem Francis das Leben schwergemacht haben. Mit Schurken und Narren zurechtkommen zu müssen, das musste für ihn höchst aufreibend gewesen sein. Als solche hat er diese Männer nämlich selbst bezeichnet. Wir wissen das von unserem Vater, der das schließlich über seinen Großvater erfahren haben soll. Und der Francis muss auch ein höchst erregbarer Mann gewesen sein, einer, der bei Auseinandersetzungen blutrot angelaufen ist. Als sein Verdienst kann es gelten, dass er neben vielen anderen Leistungen auch Handelsstationen in Vorderindien gegründet hat! Aber dass er sich seinen Erfolg unter, zum Teil sehr erniedrigenden Umständen, erkämpfen musste, das ist zu Herzen gehend, das ist richtig bedauernswert.“

 

Die beiden Damen schweigen. Adelaine beobachtet intensiv, wie sich Großonkels Rinnsale kaum merklich verändern und muss feststellen: Ja, ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Gleichzeitig schlägt sie ihren Zeigefinger fest auf ihren Mund, um ihm einen Riegel vorzuschieben, damit auch ja nicht der kleinste Wortfetzen daraus entfleuchen kann.

„Aber Schwager Jacob!“ Dame Ethel krault Kätzchen Käthe hinterm Ohr. Das schmusebedürftige Tier schmiegt sich behaglich an sein Frauchen. Jetzt bahnt sich etwas an, mag das ahnungslose kleine Wesen denken, gehen wir mal todesmutig davon aus, dass eine Miezekatze dazu in der Lage ist, ihren Erfahrungsschatz konditionieren zu lernen. Frauchens holt so tief Luft, dass sie glaubt, gleich vom Schoß fallen zu müssen. Aber im Schutz fürsorglicher Hände fühlt sie sich dennoch geborgen. Wenn nur Frauchens Herz nicht so toll bibbern würde, das gefällt Käthchen gar nicht und sie ahnt, dass Frauchen sogleich ihr Herz erleichtern wird.

Und dann purzeln, wie erwartet, die Worte nur so aus ihr heraus: „Der Erfolg ist zumeist auf steinigen Wegen zu erlangen, mein Schwager Jacob! Wie heißt es so treffend: Der Erfolg wird immer auf Schlachtfeldern erzielt! Ich bin nur zutiefst erzürnt darüber, dass du mit deinem Bruder Evel keinerlei Mitleid empfunden hast, damals als er sich in seiner Stellung äußerst bloßgestellt und gedemütigt gefühlt hat!“

Bum – Bum – Bum – Bum macht das Frauchen – Herz laut vernehmbar und Kätzchen Käthe empfindet jeden einzelnen Schlag wie einen Stromstoß, der durch seinen kleinen Körper flutet. Wie beruhigend für aufgewühlte Menschen und Katzenseelen, wenn Gestreicheltwerden und Streichelndürfen Besänftigung bringen. Schwager Jacob verstummt und pustet seinen Pfeifenrauch länger als gewöhnlich aus, ehe er sich seinem Shakespeare zuwendet, äußerst gebannt, wie es scheint, denn er achtet in keinerlei Weise darauf, dass Adelaine ihren elastischen Körper hin und her windet, so, als ob Brennnesseln unter ihrem Hinterteil ihr Unwesen trieben.

Anscheinend ruhig beugt sie sich über den Stammbaum, lässt ihre Finger über die unteren Gefilde des Blattes gleiten, ehe sie sich mit beherrschter Stimme der alten Dame zuwendet: „Großmutter, dort unten, das zweite Kästchen von links, das dürfte meines sein. Sieh’ hier, bei Adelaine ist zwar das e nach dem d verloren gegangen, aber das macht doch nichts, oder? Ich weiß doch, wer gemeint ist. Mein besonderer Name ist sicher in der Familienchronik bisher noch nie aufgetaucht, so vermute ich es mal!“ Adelaine verstummt, ehe sie sich ihrer Großmutter wieder persönlich zuwendet und ihr etwas zuflüstert, das, wie es scheint, nur für ihre Ohren bestimmt ist: „Geboren am 1.1.1905! Mama hat mir immer erzählt, dass ich ein verspäteter Silvesterknaller sei.“

„Ja, sie hat recht, du hast mit deinem Erscheinen das neue Jahr eingeläutet; fünf Minuten nach dem Ende des Glockengeläutes bist du auf der Bildfläche erschienen!“ Großmutter strahlt dabei wie die mittägliche Sonne: „Über alle Maße haben wir uns über deine Ankunft gefreut. Und du winziges Bündel Mensch hast mich schließlich zur Großmutter gemacht. Zu einer sehr stolzen obendrein! Wie wunderbar!“

„Grandma! …“ Adelaine stockt beim Weitersprechen. Und Großmutter spürt wehmütig, dass eigene Freudenstrahlen nicht immer auf entflammende Herzensgründe anderer treffen. „Grandma! …“

Adelaine holt tief Luft, ehe sie ihren Gedanken freie Bahn gestattet: „Ich würde ja so gerne mal Mäuschen spielen und wissen wollen, welches Datum hier dereinst an der zweiten Stelle stehen wird! Das klingt zwar neugierig, das weiß ich wohl! Aber ist der Mensch seit Anbeginn der Welt nicht schon immer von Neugier getrieben? Es ist der Grenzbereich von Neugier und Erschauern, mit dem er nur allzu gerne jongliert.“

„Adelaine, meine Kleine, natürlich weiß ich um das Vorrecht der Jugend, in unbekannte Welten vorzustoßen. Lass’ es dir von einer alten Dame wie deiner Großmutter jedoch gesagt sein, dass der Herrgott es sehr weise eingerichtet hat, die menschliche unvollkommene Sicht auf die Zukunft im Dunkeln zu halten. Zukunftspläne dürfen wir zwar machen, deren Treffsicherheit liegt jedoch nicht allein in unseren Händen.“

Adelaine nickt ihrer Großmutter zu; mit einer vagen zustimmenden Kopfbewegung, die ihr Gegenüber äußerst gezügelt erreicht, ehe sie mit dem Finger auf ein kleines, ihr vorbehaltenes Stammbaumfeld tippt. Diese besagte Stelle wird wohl noch eine Weile vor Leere gähnen, hoffentlich, so geht es ihr durch den Kopf, ehe ihr ein hoffnungsvoller Gedanke Auftrieb gibt. Und weil sie in gewissen Situationen Worte liebt, die wie Sprudelwasser vor sich hin glucksen, erhebt sie ihre Stimme in eine hohe Lage: „Tja, Ehemann und Kinder müssten hier eng zusammenrücken, wie ich sehe, bei diesem Platzmangel, die Ärmsten! Ich darf mir allerdings keinen Mann mit ‚von und zu‘ auswählen und muss für meine Kinderchen kurze und knappe Namen wählen. Am besten nur Bens oder Mias!“

Adelaine räuspert sich, ihre Stimme entschwebt wie ein Schmetterling in geheimnisvolle Weite.

„Das heißt wir, mein Mann und ich, die wir uns auf immer und ewig miteinander verbandeln werden!“ Sie lächelt geheimnisvoll, während sie dabei auf die leere Stelle unter ihrem Namen zeigt.

„Aber, Großmutter! …“ In Adelaines Stimme schleicht sich ein Mollton ein, der ihre gute Stimmung schlagartig dämpft. „Grandma, vielleicht muss ich ja auch alleine durchs Leben wandeln. Männer werden zu oft von Kriegen dahingerafft. Wir leben in aufregenden Zeiten. Die Vormachtstellung der Deutschen macht unseren Leuten Angst. Sind wir mit unseren deutschen Vorfahren da nicht in einem Zwiespalt?“ Adelaine betrachtet die Großmutter mit kummervollen Augen, sie spürt, dass diese ein Schweigen vorzieht, ehe sie weiter spricht: „Grandma, wir sollten uns nicht schon vorher … Wie heißt es so schön: Angst ist ein schlechter Ratgeber! Aber du hast mal wieder recht, meine lebenserfahrene Großmutter, Schreckliches auf uns Zukommendes sollte für uns Menschen besser im Ungewissen bleiben. Oh, Großmutter, nie und nimmer möge es über uns hereinbrechen, aber …“ Ihr Herz, zentnerweise mit Molltönen beschwert, sehnt sich nach Trost, das spürt die feinfühlige alte Dame, denn wie sonst sollte ihre Enkelin so plötzlich aufspringen und sie so fest an sich drücken wollen? Nur darf sie dabei nicht zu ungestüm ans Werk gehen, denn Kätzchen Käthe möchte keinesfalls von seiner angestammten Stelle weggedrängt werden, denn dieses, ihr Katzenliebling, ist eben ein eifersüchtiges Tierlein. Mit Erleichterung stellt sie fest, dass Adelaine die eine Hand von ihrer Schulter wegzieht, um Käthe auch ein zärtliches Kille-Kille verpassen zu können.

Und das Tierchen scheint die Liebestat durchaus zu würdigen, denn sie schnurrt noch behaglicher als zuvor, während sein Frauchen die stürmische Enkelin lauthals lachend ermahnt: „Aber, sachte, sachte, mein Fräulein, ich möchte noch ein bisschen leben! Alles, was Großvater lieb und teuer gewesen ist, das muss ich noch sichten, das habe ich ihm schließlich hoch und heilig versprochen. Dann erst kann ich mich auf meine große Reise zum ewigen Wiedersehen begeben!“