Die Rosenlady und der Sekretär

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„Oh, Grandma! Nein, nimm’ dir dafür um Gottes Willen alle Zeit der Welt!“ Adelaine hält plötzlich inne, um auf die Ziffern der Standuhr zu blicken, worauf ihr Körper von einem Kribbeln durchzogen wird. „Es drängt mich, meine Festtagsgarderobe, das ‚Ihr-Werdet-schon-sehen-Kostüm‘, anzulegen! Zehn Minuten vor sieben! Entschuldigt mich bitte!“ Mit einem flüchtigen Blick auf die Standuhr und ein kurzes Inaugenscheinnehmen der beiden Alten verlässt sie tänzelnd mit wippenden Rockschößen den Raum, ehe die schwere Eichentür hinter ihr ins Schloss fällt, die ewig knarrende, den Enkeln seit jeher vertraut wie das Quietschen der Holzbalken in der Diele. Ein Geräusch, das sogar vor Shakespeare-Freuden des Alten nicht Halt macht.

„Wie?“ Der erstaunte Ruf des Schwagers zieht pfeifenrauchgeschwängert durch den Raum bis er sich in dem „Wo? und Was?“ der Gräfinnen Worte fängt, ehe Lady Ethel, sich eine graue, verschwitzte Lockensträhne aus der Stirn streichend, ein gedehntes „Ach, ja …!“ ausstößt.

Adelaine ist ja eingeladen! Wie konnte ich das vergessen! Bei Sir Miller nebenan! Geburtstagsparty bei Sohn Ronald! Anständige Herrschaften! Kein Grund, sich zu ängstigen!

Schwager setzt sein Pfeifendampfgrinsen auf, das breit und von bedächtiger Natur ist. „Nun, meine Alte, jetzt müssen wir miteinander vorlieb nehmen!“ Die schwägerliche Schulter tätschelnd, zischt er: „Die hier war auch schon einmal besser gepolstert. Es wird Zeit, dass du wieder Fett an den Rippen ansetzt! Wo nur bleiben die gebackenen Austern? Oh, ich kann schon das Klimpern vom Essgerät vernehmen!“

„Mein lieber verhungernder Schwager! Ich habe da mal eine Frage jenseits von Austern und Entenbraten. Was meinst du? Die ganze weibliche Gelehrsamkeit! Wo soll sie bloß hinführen? Sicher nicht unter die Haube!“

Der Angesprochene nickt für einen Tattergreis sehr beachtlich. „Da magst du ja recht haben! Aber jetzt lass’ uns zunächst genüsslich speisen, ehe wir uns schwer im Magen liegenden Themen zuwenden! Auf leerem Magen sich diese einzuverleiben, wäre höchst töricht und unbekömmlich! Und danach heißt es ja unwiderruflich: Abschied nehmen!“ Der Schwager zieht sich auf die Tischplatte gestützt hoch, äußerst gemächlich, seine Knochen, Gelenke und all jenes mühsam sortierend, was einen alternden Rücken mehr schlecht als recht noch zusammenkittet.

Lady Esther stützt sich mit beiden Armen auf dem Tisch ab, den Kopf weit nach unten gebogen, um dann im Schneckentempo Wirbel für Wirbel hoch zu strecken bis zu diesem berühmten ‚Geht-nicht-mehr-Punkt‘, jener Körperstelle, auf die sie oft zeigt, diejenige, die nicht so will, wie sie es will.

„Dieser Höcker hier ist mein Hexenbuckel, solch ein Geselle ziemt sich doch einer feinen Dame nicht!“, so hat sie ihre Enkelin wissen lassen und dabei hörbar gestöhnt.

Doch schließlich schleichen sich die beiden Alten Zentimeter um Zentimeter ins verheißungsvolle Schlemmerparadies. Großonkel hantiert gerade mit Messer und Gabel und kämpft seinen Kampf mit einer widerspenstigen Auster, die bei jeder geringsten Berührung der Schneideklinge einen Sprung seit-, vor- oder rückwärts machen will, als sich ihm plötzlich eine zarte, junge Hand entgegenstreckt und Worte wie ‚Adieu, lieber Onkel!‘ an sein Ohr dringen.

„Eins nach dem andern!“, gebietet er kurz und knapp. Ohne auch nur den geringsten Blick auf die eingetretene Person mit der Sing-Sang-Stimme zu werfen, nimmt ihn der Austernkampf dermaßen in Beschlag, dass um ihn herum die Welt untergehen könnte, ohne dass er es bemerken würde.

„Ach, du meine Güte! Wagt es ein so widerspenstiges Knusperteufelchen doch tatsächlich, anstatt auf meine dafür vorgesehene Serviette auf das gute Tischlaken zu springen!“ Großmutter und der Schmetterling in Menschengestalt, gerade hereingeschwebt, schauen auf, blicken amüsiert auf den Austernkampf bis sich ihre Blicke treffen und Großmutter in neckenderweise etwas zum Besten gibt, das ihr als Relikt der Kinderzeit gerade bei Adelaines Anblick so in den Sinn fliegt: „Schmetterling, Flatterfalter, spiel’ im Sonnenlicht, eh vergeht das Abendrot, bist du doch schon kalt und tot!“

Großmutter zupft flugs am luftigen Ärmel des hellblauen Spitzenkleides ihres Schmetterlings, schon summt sie das alte Kinderlied vor sich hin und blickt mit schwärmerischen Augen der tänzerischen Gestalt entgegen, als sie plötzlich die harte Realität wieder einholt, und – sie erschrickt bei diesem Fund – sie erkennen muss, dass die Wirklichkeit in Gestalt eines ausgedehnten Fettfleckes sich des wertvollen Dutzend-Teiles bemächtigt hat. „Aber, das ist doch keine Katastrophe, Jacob!“, spricht ihr Mund, aber Adelaine, das hellblaue Schmetterlingswesen, blickt tiefer als alle anderen direkt in Großmutters Herz hinein. Und dort vermutet sie, dass sich gerade sämtliche Adern verkrampfen, denn die große Familienschar weiß seit Urzeiten, dass jeder noch so kleine Fleck für Großmutter eine riesige Tragödie bedeutet. Immerhin sollte jedes Dutzendteil vor dem Angesicht aller lupenrein erleuchten. Jetzt bleibt sie nicht bei der Wahrheit, meine geliebte Grandma, diese gottesfürchtige Frau! Aber eine fromme Lüge, die aus Rücksichtnahme geboren ist, darf doch wohl auch sein! Adelaine lächelt über ihre Gedanken, die festverschlossen in ihrem Herzenskämmerlein eingeschlossen bleiben. So schnell wie das Schmetterlingswesen in den Raum geschwebt war, so rasch flattert es wieder fort, nicht ohne zuvor Großmutters Wange und den Arm des Onkels liebevoll getätschelt zu haben.

Onkel Jacob schweigt, gänzlich versunken, mit der Serviettenecke den Schandfleck zu vertilgen.

„Ach, lass nur, Jacob!“ Lady Esther winkt kurz ab. In weiser Voraussicht hat sie sich gar nicht erst auf einen spritzigen Austernkampf eingelassen. Stattdessen greift sie mit elegantem Griff zu einem der attraktiven Schinken-Canapés, Schinkenröllchen in ein Salatblättchen gehüllt, auf einer Remouladenrosette thronend, das sie schon die ganze Zeit über angelacht hat. Bevor sich dieserart Genüsse ihrer ganz bemächtigen können, zieht sich ihre Seele erst einmal zurück, in eine Sphäre, die ihre ureigene ist und die sie so gut sie es eben kann von der Außenwelt abzuschirmen versucht.

„Oh, du mein geliebter Schmetterling, meine Augenweide, sanft wehtest du wie ein Windhauch durch diesen Raum! Möge die Leichtigkeit eines Schmetterlings dich durch dein weiteres Leben tragen!“

Großmutter beginnt sich aus ihrem Sessel zu erheben, nachdem sie Zwiesprache mit ihrem ganz und gar menschlichen Schmetterlingsliebling gehalten hat, der sie genauso flugs wie er eingeflogen war, schon wieder verlassen hat, und jetzt bewegt sie sich wie von unsichtbarer Hand gezogen zum geöffneten Fenster hin, allein von dem Wunsch beseelt, die Frische der Abendluft einatmen zu dürfen. Sie tut dieses, sicherlich auch von der Hoffnung getragen, einen letzten Blick auf einen der Bläulinge werfen zu können, die sich als Tagfalter allzu gern auf den grünen Blättern niederlassen. Am Fenster stehend, stützt sie sich mit beiden Händen am Fenstersims ab und versucht mit einem Ruck weiter nach unten zu ihrer rankenden Rosenhecke herunterzureichen, lediglich in der Hoffnung, einen sich Nektar saugenden Schmetterling zu Gemüte führen zu können. Wäre da nicht der feste Halt durch zwei starke Hände, der männliche Ruf: ‚Pass’ auf!‘, sowie das mit Rosemarin getränkte Tüchlein einer weiblichen Hand gewesen, die ihre Schläfen sanft kreisend berührte, die alte Lady wäre, wie schon so oft, aus ihrem Schwindel vermutlich in eine kurze Ohnmacht gestürzt. Dieses Unglück verhinderte letztlich die gute Fee in Gestalt einer Mrs. Smith, die, die ihr Anvertraute, noch rechtzeitig aufgefangen und sie fürsorglich zu ihrem Sessel zurückgeleitet hat.

In Lady Ester erwachen sehr schnell die Lebensgeister wieder, so rasch, dass ihr das Schinken-Canapé förmlich in den Mund springt. Fleißige Kaubewegungen frischen ihr Gedächtnis zusehends auf, so dass frühere Schmetterlingserinnerungen an die Oberfläche gelangen können. Sie lächelt und wer sich ein Lächeln mit vollem Munde vorstellen kann, der wird sich ausmalen dürfen, wie sich ihre Miene grinsend verzieht und diese Mundakrobatik somit einer feinen Dame das Antlitz einer ziemlich gewöhnlichen Person verpasst.

Ihr Schwager, vor Schreck allen Austernkampfes entledigt, betrachtet die alte Dame mit sichtlichem Vergnügen und kann nicht umhin, eine spöttische Bemerkung zu machen. „Verehrte Frau Schwägerin! Da haben Sie bereits ein gesegnetes Alter erreicht, viel Lebenserfahrung gewonnen und so manche Tücke gemeistert, aber das Lächeln mit Schinkenröllchen im Munde, das gilt es durchaus noch zu erproben. Passen Sie auf, nach der Austernspritzgefahr droht jetzt die Schinkenspritzgefahr! Armes Tischlaken, möchte ich da bemitleidend ausrufen!“

Die alte Dame leert wie ein braves Kind zunächst ihren Mund, denn das hat sie mit der Muttermilch aufgesogen: Mit vollem Munde spricht man nicht!, ehe sich ihre Augen verklären und sich ihre ganz persönlichen Schmetterlingserinnerungen Bahn brechen können. Weitaus lieber wäre ihr jetzt ein weibliches Gegenüber, eines mit Sinn für Romantik, das eigene luftige Jungmädchenträume erinnern würde. Aber ein Mann bleibt eben ein Mann, der für solche Sperenzchen gewöhnlich nicht mehr als ein Lächeln übrig hat, ob mit oder ohne Austern oder Schinkenröllchen im Mund.

Also beschließt sie, ihre Erinnerung als Selbstgespräch aufzufrischen: „Ja, ich war damals im zarten Alter von vielleicht siebzehn Jahren. Mein erster Ball, wie aufregend! Unsere Hausschneiderin hatte ihr Glanzstück, einen dunkelblauen Reifrock, über und über mit glitzernden Pompons dekoriert. Meine Bluse, in leuchtendem schimmerndem Blau, eine schwarze Bordüre mit weißen Punkten zierte den Ärmelbund. Und aus dem gleichen Stoff trug ich ein Haarband, zur Bändigung meiner wilden Locken, die ich überhaupt nicht unter Kontrolle bringen konnte. Ich höre noch genau diesen rhythmischen Singsang der metallenen Absätze, die beim Hinuntersteigen der Treppenstufen eine gläserne Musik erzeugten. Dazu das verheißungsvolle Rascheln des Reifrocks, wie er in dem engen Korridor rechts und links das Geländer streifte. Und unten wäre ich bald meinem Traumprinzen in die Arme gefallen, als wie der blondgelockte Jüngling mit den blauen Augen mir damals erschien, oh, man bedenke, wie höchst unschicklich zu jener Zeit, wenn ich mich nicht noch in letzter Minute an dem Geländer festgekrallt hätte. Dieser Blondschopf im dunkelblauen Rock und einem farblich harmonierenden Beinkleid, er hielt in den festverkrampften Händen doch tatsächlich die Blume aller Blumen, eine rote Rose, in der Hand. Ob er damals schon um meine Rosenverrücktheit wusste? Oder, ob der Jüngling meine Rosenleidenschaft erst erwirkte? Jedenfalls berührte er meinen rechten aufgeplusterten Ärmel, als er mir recht ungelenk die Blume in die Hand drückte und ein Kompliment stammelte: Gnädige Dame, Sie erinnern mich an einen Schmetterling! Und dabei …“, jetzt fängt ihr männliches Gegenüber, das wider Erwarten – Oh, Wunder! – ganz aufmerksam gelauscht hatte, an, Töne von sich zu geben, unziemliche, eher einer gurrenden Henne als einem gelehrigem alten Herrn zuzuordnen.

 

„Und dabei wurde sein Gesicht sicher rot wie eine Tomate!“, tut er der lächelnden Schwägerin kund.

„Und woher weißt du das?“, will sie von ihm wissen. „Und überhaupt habe ich doch nur vor mich hingemurmelt!“ Lady Ethel schüttelt ungläubig ihr weißes Haupt.

„Nun, ja, wenn du deine Herzensdinge auch so rezitierst wie eine Erzählerin, die um Aufmerksamkeit buhlt, dann wundere dich bitte nicht, wenn … Und übrigens hätte ich durchaus auch jener junge Mann sein können!“

„Hm! Du? Hm! Du? Und …? Dann wärest du ein rechter Verwandlungskünstler gewesen!“ Der Mund, der Erstaunen signalisiert, schließt und öffnet sich wieder und erinnert an mundgymnastische Übungen. Das weißlockige Haupt mit dem Haarkrönchen drauf, es wackelt dabei hin und her. Es wackelt auch noch, als die alte Dame gar nicht mehr wackeln will. „Manchmal hört der greise Körper einfach nicht mehr so auf mich, wie er es sollte!“

„Mein Tatterich, dein Tatterich, unser Tatterich, warum sollte es dir besser ergehen als mir?“

Lady Ethel nimmt den schwägerlichen Ball nicht auf. Ihre Hauptgedanken sind und bleiben Rosenkavaliersgedanken. „Und so tollpatschig wie der auftrat! Oh, du mein Gott? …“

„Was willst du damit sagen, erst recht, wenn du mich dabei so irritierend anstarrst?“ Wenn Tatteriche Ansteckungscharakter aufweisen, dann ist Gefahr im Verzug. Der Herr droht zu explodieren. Seine zwei Schneidezähne, einsame Überbleibsel eines einst wackeren Kauapparates, beißen sich auf seine spröden Lippen, nicht ein einziges Mal sondern im rhythmischen Gleichklang mit dem Kopftatterich. Seine Augen funkeln. „Die beleidigten Leberwürste von den verweichlichten Damen heutzutage, die sind unserem Menschengeschlecht unwürdig. Die Erziehung der jungen Dinger lässt sehr zu wünschen übrig! Beherrschtes Benehmen lernen ist unerlässlich!“

Jetzt wird sie schäumen, vermutet der Streitwillige, wohl wissend um eine immer wieder erfahrene Ruhe vor dem Sturm, die für ihn zweifellos eine empfundene Hilflosigkeit offenbart, ehe sie anschließend zum Schwadronieren ausholt und dabei wirsche Handbewegungen ausführt, so als ob sie gefahrvolle Ungeheuer mit Macht vertreiben wolle. Aber statt der erwarteten Böe weht lediglich eine sanfte Brise durch den Raum. Mit aller Kraft hatte sie sich dazu zwingen müssen, diese Äußerungen nicht allzu nahe an sich herankommen zu lassen. Schließlich kennt sie die Herren der Schöpfung und diesen hier, ihren Pappenheimer, besonders gut. Ein tiefer Seufzer durchfährt sie, als sie sich und dem Schwager etwas einzugestehen traut, was ihr alles andere als leicht fallen muss.

„Ja, wenn ich es mir recht überlege, dann kann ich jetzt selbst als eine erwachsene Frau meine damalige seelische Beschaffenheit im Jungmädchenalter nicht mehr nachvollziehen! Es ist eine schwierige Zeit, die auch Backfisch- oder Halbseidenes-Alter genannt wird! Und wie sollte sich ein männliches Wesen je dort hinein versetzen können?“ Nichtgeachtet dessen fährt sie fort, ihre ‚Reifrock-Treppen-Erste-Ball-Erfahrungen weiterzugeben, vielleicht in der Hoffnung, dass sie die emotionale Überlegenheit ihres weiblichen Geschlechts gegenüber den gefühlloseren Männern zum Ausdruck bringen müsse. „Jacob, das Schmetterlingskompliment ließ mich damals in den siebenten Himmel fliegen, das, was danach folgte, ließ mich aber ebenso schnell wieder auf die Erde plumpsen. Nicht, dass mir der Bub Böses gesagt hätte, oh Gott, nein, aber in der Hoffnung auf ein schmachtendes ‚Du bist mein Augenstern!‚ brachte er es fertig, mir eine Schmetterlingslitanei zu halten, die in etwa so klang: ‚Wie ein morpho peleides!‚ … als er das sagte, tippte er auf meinen Schmetterlingsärmel. ‚Sein Vorkommen: Wälder Mexikos, Südamerika, westindische Inseln‚ und danach schoss aus ihm ein Redeschwall hervor, der mich schmerzhaft auf den Boden der Realität plumpsen ließ, einer Wirklichkeit, in der ich nur als ein winziger unscheinbarer, wissenschaftlich zu begründender Punkt auf einem herrlichen Flatterwesen sein durfte. Und seinen Blick auf meine Schmetterlingsbluse gewandt, machte er mir zu allem Überfluss auch noch ein riesiges Kompliment: ‚Traurig müsstest du sein, wenn ich dich als rostbraunen Dickkopffalter bezeichnet hätte. Glaube es mir, den gibt es tatsächlich! Interessierst du dich nicht für Schmetterlinge?‘, fragte er ungläubig, als er sah, wie meine Kinnlade herunterklappte. Und dabei hatte ich mich für ihn so schön gemacht!“ Der Schwager hört wortlos den Ausführungen zu, ehe er zu bedenken gibt, dass er an ihrer Stelle Spaß an einem so wissbegierigen jungen Mann gehabt hätte. „Später ist der Schmetterlingsfan sicher Professor für Schmetterlingskunde geworden! Aber du hast ja auch keine schlechte Partie mit deinem Evel gemacht!“

„Gestatten, meine Herrschaften! Der Chauffeur ist gerade vorgefahren!“ Mrs. Smith steht in der Tür, die Hände voll bepackt mit Herrenmantel, Zylinder und Regenschirm! Das gewöhnliche Wink-Ritual, der beschwerliche Gang zum Sessel, das Falten der Hände, der Blick nach oben und der wie immer sich beim Abschied einstellende tiefe Seufzer, verbunden mit der von ihm feierlich rezitierten Lebensweisheit ‚Alles hat seinen Preis, nur der Tod ist umsonst!‘, lässt sie geduldig wortlos über sich ergehen, wobei sie plötzlich ein starkes Verlangen nach der himmlischen Gemeinschaft mit ihrem Evel verspürt; fernab der anstrengenden buckligen Verwandtschaft; sie lächelt bei diesem Wunsch: Dabei habe ich selbst einen Buckel! Sogar einen viel buckligeren als Schwager Jacob ihn sein eigen nennt!

„Und trotzdem, Herrgott, du siehst alles, du hörst alles, nichts bleibt dir verborgen! Du schickst uns manches Mal richtige Störenfriede ins Haus. Und dann, lieber Herrgott, müssen wir kämpfen und fühlen uns von dir oft ziemlich allein gelassen. Aber heute beim Abendbrot habe ich doch Deine Güte erfahren dürfen, denn mein Herz hier …“, und während ihrer Worte streicht sie über die füllige Brust, in einem hochgeschlossenen Samtkleid versteckt, „… das brodelte dermaßen vor Wut bei Schwagers Worten, dass ich am liebsten …“ Jetzt macht sie dabei eine Bewegung, die an ein ‚In-die-Mangel-nehmen‘ erinnert. „… Aber, du hast mir in diesem kritischen Moment Ausgewogenheit geschenkt. Dankeschön!“ Und nach einem kurzen Moment des Innehaltens führt sie ein inwendiges Gespräch mit einem anderen lieben Menschen: „Adelaine, wie freue ich mich, dass ich dich noch drei Tage lang ganz allein unter meine Fittiche nehmen darf – und danach …“, sie holt dabei tief Luft, „und danach habe ich nur noch dich, meine liebe kleine Käthe.“ Das Tierchen hatte die Trostbedürftigkeit seines Frauchens gespürt und ihren Lieblingsplatz aufgesucht, die schmale Kuhle zwischen den Beinen der Lady, auch wenn es dort ein bisschen staksig ist. „Und die Rosen sind auch bald verblüht, wie traurig!“, sind die letzten Sesselworte, ehe sie von einem Nickerchen übermannt wird. Erstaunlich, wie schnell aus einem Nicken ein Nickerchen wird.

KAPITEL ZEHN

„Oh, Grandma! Diese hier dürften auch bald ihr Leben aushauchen!“ Adelaine zerreibt ein gelbes Teerosenblatt zwischen Daumen und Zeigefinger. „Der letzte Duft, wie wunderbar, bis zum letzten Atemzug verströmen ihn meine Lieblinge, diese Königinnen aller Blumen!“

„Ja, meine Kleine, so sollte es auch bei uns Menschen sein! Wer wünschte es sich nicht, bis zum letzten Moment seine Duftnote versprühen zu dürfen?“

Ihr Gegenüber hat das zerriebene Rosenwürstchen neben den kleinen Rosenstrauß auf die Tischmitte gelegt, der letzte in diesem Jahr, wie Grandma traurig konstatiert, ehe sie Adelaine und sich selbst eine Tasse Earl Grey eingießt; sehr bedächtig lässt sie die goldgelbe Flüssigkeit auf den Porzellanrosenboden tröpfeln.

Adelaine, das Traumland hält sie noch gefangen, sie bewegt das Messer, mit goldgelber klebriger Fruchtmasse besprenkelt, in schlaftrunkenen gleichmäßigen Bewegungen hin und her, vermutlich, um den verstärkt herausschwebenden Quittenduft, der ihr wohlig durch die Nase weht, noch zu verstärken. Die Großmutter spürt: Ein langes Gespräch nach einer durchtanzten Nacht – selten wird es Bestsellerqualitäten aufweisen! Das ist ihr durchaus bewusst. Während die heißen Teetropfen gleichermaßen Ladys Gemüt wie ihren Magen erfreuen, lässt sie sich ihre Duftweisheitsworte nochmals gründlich auf der Zunge zergehen. Einer aromatisierten Zunge, deren Papillen, in Duft und Wohlgeschmack eingelullt, noch kritische Signale an Hirn und Mund weiterleiten können, muss das besonders hoch angerechnet werden, urteilt das empfindsame junge Ding, als das die Großmutter sie leider viel zu oft bezeichnet, dieses feinste seelische Erregungen erfassende junge Wesen, das Flöhe dort husten hört, wo andere nicht einmal ein Bienensummen registrieren würden.

Großmutter hat nicht ganz Unrecht, sie überspitzt nur allzu gerne, befindet die Enkelin, behält solcherlei Gedanken wie gewöhnlich aber in ihrem Inneren eingeschlossen. Und tatsächlich äußert sich Großmutter als Teegenießerin jetzt erstaunlich selbstreflektierend: „Abschiedsduftnote, meine Liebe, das ist sinnbildlich gemeint, natürlich, wie sollte es anders auch sein …?“, und schaut dabei ihrer Enkelin in die weit geöffneten Augen.

„Ja, ja, Großmama, ich verstehe sehr gut! Ich bin schließlich kein Dummerchen!“, entfährt es ihr aufbegehrend.

„Damit meine ich wahrlich nicht jenen Duft, der uns bei uralten Menschen oft entgegenströmt, sobald wir deren Türen nur einen Spalt weit öffnen! Ich möchte nur von dem inneren Duft sprechen, der von einem Menschen ausgehen kann, quasi von seinen ganz individuellen inneren Werten, Adelaine!“

„Aber du, meine liebe Grandma, versprühst einen gleichermaßen zauberhaften inneren und äußeren Duft! Und das liebe ich einfach an dir!“ Und dabei lässt sie Quittenmund Quittenmund sein, als einen ganz und gar schmierigen sogar, als einen, der wunderbar duftend, sich auf der zauberhaften Wange eines zerfurchten Gesichtes verewigt, als einen, der klebrige Rillen in die Furchen pressen darf, eine gefühlte Ewigkeit lang, na ja, solange Zeit jedenfalls bis zum abendlichen Reinigungszeremoniell, denn dieses – das weiß die Enkelin durchaus – pflegt aus einem mit Röschen bedruckten, leicht angefeuchtetem Waschtuch zu bestehen, mit dessen Hilfe Großmutter Gesicht und Hände benetzt. „Grandma, bevor ich abreise, weißt du, hast du mir noch einiges versprochen, auf das ich äußerst neugierig bin. Erinnerst du dich noch?“

„Selbstverständlich, mein liebes Mädchen! Wie sollte ich das je vergessen können, das, was mir das größte Erzählvergnügen bereitet, mein Schatz! Ach ja, lass’ uns mit der Teppichgeschichte beginnen.“

„Das habe ich mir natürlich gedacht!“

„Du kennst sie doch noch nicht, mein Kind, oder?“

In gewissen Fällen dürfen Menschen doch lügen, entscheidet Adelaine ohne Zögern, dann nämlich, wenn die Wahrheit nicht annähernd so viel Freude bereiten würde wie die Unwahrheit: Deshalb fällt Adeline diesmal das Flunkern alles andere als schwer. „Nein, natürlich nicht! Meine Ohren sind gespitzt! Meine Nerven sind gespannt wie Drahtseile!“

Und während sie spricht, erhebt sie sich, um der Großmutter beim Aufstehen behilflich zu sein. „Komm’ herüber! Ich muss in deiner Schatztruhe nach der geheimnisvollen Ledertasche suchen!“

„Adelaine, die Vierte war’s, ich bin mir ziemlich sicher, die vierte rechts, sieh’ dort bitte mal nach!“

Als die Angesprochene die Schreibfläche des Sekretärs aufklappt, behält Großmutter ihre Enkelin unverwandt im Auge. Ein wenig zuckt die Alte zusammen. Adelaine starrt mit weit aufgerissenen Augen ebenso unverwandt auf einen einzigen Punkt der Schreibfläche, eine gefühlte Ewigkeit lang, ihre Augen verdrehen sich derart, dass Großmutter zutiefst erschrickt.

 

„Na, dann beruhige dich mal, mein Kind! Du brauchst dich nicht immer wieder über den Tintenfleck auf der Schreibfläche aufzuregen!“

Das junge Mädchen schreckt bei diesen Worten auf. Seine Augen scheinen geblendet und müssen sich erst wieder durch die Hand über ihre Stirn gedrückt, ans Tageslicht gewöhnen. Sein Brustkorb streckt sich mit einem Ruck, weil die Lunge zu tief nach Luft schnappen muss, um aus seiner Bewegungslosigkeit erwachen zu können.

„Was war? Was ist? Wie ist dir?“ Großmutterfragen, wie von der Tarantel gestochen, haben keinen Seltenheitswert.

„Grandma, nein! …“, die Wiedererwachte schüttelt den Kopf, nebulös gleitet ihr Blick zunächst wie durch eine gläserne Wand hindurch, ehe er sich im großmütterlichen Antlitz festsetzen kann. Die Stimme erwacht nach und nach aus ihrer Schläfrigkeit, um zusehends an Ausdrucksstärke zu gewinnen. „Nein, der Tintenklecks war’s jedenfalls nicht!“

Großmutter sitzt mit gefalteten Händen und scheint den Blick auf Käthchens Spiel mit dem Plüschball zu verfolgen. Es sieht lustig aus, wie das Kätzchen mit seinen Pfoten tapsig das Spielzeug vorwärts kollern lässt. ‚Mutter, stochere nicht zu viel in Adelaines Seelenleben!‘ Der Sohn sprach erst kürzlich ein ernstes Wort mit seiner Mutter. Die Gehorsame schweigt zwar, aber ihre Augen erzwingen in dem wiedererwachten Gegenüber eine Gedankenspringflut ohnegleichen: „Nein, es war mir so, als ob ich in einem einzigen Moment von Hunderten von Menschen eingekesselt worden wäre. Ich erkannte keine einzige Menschenseele! Nicht ein einziger individueller Gesichtszug ist mir in Erinnerung geblieben. Nur eine einzige Hand erschien mir deutlich vor Augen. Aus der Menge aller Hände erhob sie sich im Schneckentempo, vergleichbar mit einer Filmaufnahme, bei der ein Gegenstand ganz nahe an den Betrachter herangeführt wird. Die Hand wuchs und wuchs, in wenigen Sekunden entartete sie zu einer Riesenpranke. Ich hätte vor Angst schreien können, wenn nicht, ja, wenn bei ihrer ersten Berührung mich nicht ein wohliger Schauer durchfahren hätte! Stark, warm und voller Leben war die Hand, so dass ich mich mit einem Male unendlich geborgen fühlte. Diese Wunderhand glitt zärtlich über meine Wange.“ Adelaine stockt der Atem, als sie für einen kurzen Moment inne hält.

Großmutter schüttelt den Kopf, wie von einer Schüttellähmung gepackt. Aus ihrem weit geöffneten Ostereier-Mund kommt nur ein einziges Wort, das zugleich drängelnde Frage ist: „Großvater!?“

Dabei hängen sich ihre Lippen an jeden inständig ersehnten Laut aus der Enkelin Mund, nachdem das vorgetäuschte Katzeninteresse einer wachsenden Neugier gewichen war. ‚Aber, mein Sohn, ich gehorche dir und schweige, beinahe jedenfalls, bis auf dieses eine Wort!‘ Sich ihrer Zusage bewusst, die sie ihm gegeben hatte, vor kurzem noch, hält sich ihr Mund zwar verschlossen, aber ihre Augen sprechen eine herausfordernde Sprache. Wie lange muss ich noch warten, bis sie weiterspricht?

Ein bezwingendes Augenzwinkern lässt schließlich den Redefluss ihres Gegenübers weitersprudeln.

„Ja, du sagst es, jetzt ist mir ganz bewusst, dass es nur Großvaters Hand gewesen sein kann. Dieser unvergleichbare Händedruck hatte sich vermutlich von frühester Kindheit an in mein Herz eingebrannt. Dieser Händedruck voller Kraft und Wärme! Ich wollte seine Hand nie, nie mehr loslassen. Aber eine unsichtbare Macht hat ihn mir schließlich sanft entrissen!“ Adelaine fährt sich abrupt mit dem Finger über den Mund, so als ob sie ihn fest verschließen müsse, oh nein, nur nicht weitersprechen!, durchfährt es sie, denn Großmutters tieftrauriger Anblick lässt sie aufhorchen und ängstigen zugleich, denn mit einem Male, oh Gott, nein, nein, wo ist auf einmal meine Großmutter? Das Märchen von Hänsel und Gretel überwältigt sie mit einem Schlag. Sicher hunderte Male musste ihr Grandma früher von der bösen Hexe erzählt haben. Und nun? Eine Halluzination oder Wirklichkeit? Jetzt hockt an ihrer Stelle eine alte Hexe vor mir, faltig und zittrig das Gesicht, mit geschätzter hundertjähriger Erfahrung im Buckelgepäck. Und eine runzelige Hakennase hat sie noch obendrein! Großmutters Nase dagegen schien im Nasenschönheitswettbewerb ein Spitzenplatz sicher! Bin ich jetzt …?

Nein, Adelaine, deine Phantasie geht jetzt vollends mit dir durch, ermahnt sie sich streng, Hexen sind bitterböse! Natürlich kann Großmutter nur eine gute Fee sein, die ihren Spazierstock neben sich stehen hat, diesen Stock, mit dessen Hilfe ich sie eben noch zum Tische führte. Ist es vielleicht ein Zauberstock, der mich in die Welt unserer Ahnen verhext hat? Ein schlimmer Querulant muss mich überwältigt und mich so sehr in Aufruhr versetzt haben, dass ich nicht zur Ruhe komme. Adelaines Verwirrung um die Buckelfrau lässt ihr Herz wilde Sprünge machen, sie verfolgt jede Veränderung der Alten, nein, es ist keine gute Fee, nein, denn Augen, die so gierig starren, müssen Hexenaugen sein. Sie registriert jeden einzelnen Wimpernschlag mit großer Bangigkeit, ja, sie befürchtet verschreckt ein zu Bodenplumpsen des gekrümmten Rückens, der die gesamte Statur zu Fall bringen könnte, während ihre Augen, weit aufgesperrt, sich an den Mund ihres Gegenübers heften, so fest, wie sie gewöhnlich mit Klebstoff ihre geheimsten Briefe versiegelt, damit Herzensergüsse nicht nach draußen gelangen können. Wie seltsam, die sie anstierenden funkelnden Augen lassen auf jeden Fall verhexte Qualen vermuten.

„Hilfe! Höllenfeuer!“ Ihr eigener Aufschrei gefolgt von mächtigem Herzklopfen lässt das junge Mädchen erzittern, ehe es sich mit aller Strenge zur Bedachtsamkeit ermahnen muss, damit sie hilfebringend die Hexenhand ergreifen kann. Nur ich vermag sie noch zu retten, durchfährt es sie, wenn nicht ich, wer sonst? Zunächst widerwillig, dann vorsichtig ertastend gleiten ihre Finger über das leblos erscheinende grellweiße Stück Fleisch. Warzen und verknöcherte Gelenke, Gefahr einflößende Fingerkrallen lassen sie erschaudern. Aber dort drinnen im tiefsten Pupillendunkel, sie starrt gebannt auf das schwarze Augeninnere, da glitzert doch … Oder phantasiere ich wieder? Ja, dort glimmt ein helles Pünktchen, gleich einem Sternchen, das einen Funken Helligkeit versprüht. Halluzination? Wirklichkeit? Das junge Mädchen erstarrt in ihrer zögerlichen Streichelbewegung über die sich erwärmende Hand, deren fein zerklüftete rosige Äderchen zu ihrem Erstaunen neuerwachendes Leben erhoffen lassen, zumal auch das Augensternchen ihres Gegenübers ihr lebendige Signale zusendet, solange bis dieser glimmende Funke vor ihren Augen gleichsam zu einer Flamme explodiert, einem wärmenden behaglichen Feuer, das nicht verzehrt, sondern Lebensglut ausstrahlt.

So zögert sie nicht lange, ihre Wange diesem Wärmespender entgegenzuhalten, um dann mit ruhigen Bewegungen über die knittrige Warmwange zu streicheln, ganz so wie eine Mutter, die ihr Kind liebkost, um es zu beruhigen! Ruhige, tröstende Worte kommen ihr über ihre Lippen, sind sie ein Geschenk des Himmels? Himmel, Hölle, Himmel, Hölle – wie oft hatte sie dieses Spielchen mit Lily gespielt, solange bis sich Himmel und Hölle vermählten – und wie von Zauberhand berührt, verwandelt sich in diesem einen Augenblick jetzt die Märchenhexe – SIMSALABIM! – zusehends wieder zu jener beherrschten, vornehmen alten Lady, die ihre Enkelin besorgt anblickt und fragt: „War dir nicht gut, mein Kleines? Du gucktest die ganze Zeit so angsterfüllt und verklärt?“

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