Die Rosenlady und der Sekretär

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KAPITEL ZWEI

„Lady Ethel, wie oft muss ich noch fragen, ob ich den Earl Grey servieren darf? Ich befürchtete schon, dass Sie ein Nickerchen machen!“

Als Mrs. Smith, für die Essenszubereitung und für die Hauspflege der Gräfin zuständig, den Raum wieder verlässt, nippt Lady Esther mit ihren erdbeerfarbenen Lippen bei halbgeschlossenen Augen vorsichtig an der heißen dünnwandigen Blumentasse und muss dabei lächeln, geheimnisvoll, denn in dieser heutigen Zeit darf eine wirkliche Gräfin mit silbergrauen Haaren ihren Earl Grey auch von Herzen genießen. Lady Ethel summt eine leise Melodie. Das Vogelgezwitscher, das Summen der Bienen, das schwebende Vorbeigleiten der Zitronenfalter, der Rosenduft, der Herz und Sinne betörende, das Rot, das Feuer der Liebe entfacht, und das die anderen sich bescheiden zurückhaltenden Blumen beinahe schon ihrer Würde beraubt, das alles beflügelt ihre Sinne, denn wie auf einen Weckruf hin, hatten sich ihre Glieder zuvor verjüngt, um ohne viel eigenes Mühen ins Grüne entschweben zu können. Lady Ethel spürt in diesen frühen Morgenstunden ein Geschenk des Himmels: ein Hauch Unbeschwertheit, eine Leichtigkeit, die sie schon lange vermisst hat, ja, eine gehörige Vorahnung der Ewigkeit!

„Go forth my Heart, and seek Delight!“, und ganz im Hinterstübchen schlummert das deutsche Original: „Geh’ aus mein Herz und suche Freud …!“

Ihr Evel kannte noch die erste Zeile in deutscher Version und er wurde nicht müßig, immer wieder zu betonen, dass er ja schließlich deutsche Vorfahren gehabt habe.

Und als ihr Summen zu einem mächtigen Strom anschwillt, tritt ein Nachbar an das Gartentörchen, schwenkt seinen Hut und strahlt mit der Sonne um die Wette: „Hallo Frau Nachbarin! Sollen wir gemeinsam ein Duett zwitschern?“

Lady Esther macht das ein wenig verlegen. „Oh …“, meint sie darauf hin kleinlaut, „… meine krächzende Altdamenstimme passt bestimmt nicht zu ihrem klaren Tenor! Aber ein paar gelbe Teerosen werden auch in ihr Haus Sommerfreude bringen. Sie haben doch, wie ich weiß, keine Rosen im Garten. Aber dafür besitzen Sie eine richtige bunte Blumenwiese, auf der sich Schmetterlinge und alle möglichen Insekten ihr Stelldichein geben.“

Lady Esthers Rücken knackst ein klein wenig, als sie sich zum Rosenabschneiden hinunterbeugt, aber es tut wirklich nur ein klein bisschen weh, denn Sommerfreuden betäuben jedes Schmerzzentrum und lassen die Welt in einem alles andere als tristem Licht erscheinen. „Wie herrlich leuchtet mir die Natur! Wie …“

Ihr Evel wusste die ersten Strophen noch zu rezitieren. Sie stockt, weil ihr die weiteren Worte fehlen. Ein wenig beherrscht sie die deutsche Sprache zwar, aber das, wie gesagt, wirklich nur ein klein wenig. Mit dem Namen ‚Goethe‘ und einigen seiner Werke ist sie natürlich vertraut; zwar fühlte sie sich nie so eng mit dem Künstler verbunden wie Evel, aber sie mag generell Dichter, die ihr Herz streicheln und denen es mit melodiösen Textkreationen gelingt, ihre empfindsame Seele in das Reich der Träume zu entführen. Goethes Werke stehen in englischer Übersetzung in ihrem alten Schreibsekretär. Eine Berühmtheit wie Goethe, der bekannteste Dichter der Deutschen, er darf natürlich in dem Dichterreigen nicht fehlen, … und ehe sie zurück in ihr Wohnzimmer tippelt, überlegt sie sich, an welcher Stelle er im Sekretär seine Bleibe gefunden haben könnte. Ob sie ihn in den unteren beiden Fächern entdecken kann? Die Zeiten des ‚Auf-Stühle-Kletterns‘ sind endgültig vorbei!

„Oh, welch’ ein Glück! Ohne mich recken und strecken zu müssen, habe ich ihn – unseren verehrten Herrn Geheimrat Goethe! – schon gefunden! Und dann blättert sie und blättert, eine gefühlte Ewigkeit lang!

„Ich hab’s!“ Zufrieden beginnt sie mit der eigentlichen Arbeit, der Entzifferung der deutschen Sprache! Wie gerne hätte sie jetzt die Hilfe ihrer Enkelin in Anspruch genommen. Sie studiert in Cambridge Germanistik! Als eine der ersten jungen Mädchen überhaupt! Aber Cambridge ist zu weit weg, um kurz mal bei ihr Guten Tag sagen zu können.

„Also …“, murmelt sie, „… muss sich ein müdes Hirn selbst noch darum bemühen!“ Kätzchen Käthe schnurrt neben ihr auf dem Lehnstuhl. Ach, so ein Katzenleben ist wahrlich nicht zu verachten! Das geht ihr durch den Kopf, als sie versucht, sich den guten alten bewährten Herrn von und zu Goethe zu Gemüte zu führen. Es geht im Schneckentempo, aber wo ein Wille ist, ist bekanntlich auch ein Weg.

„Wie herr – lich leuch – tet mir die Na – tur! Wie gl – gl – änzt die Sonne! Wie lacht die Flur! Es drin – gen Blüten aus jedem Zweig wie tau – send Stim – men aus dem Ge – sträuch, … Ach, verehrter Herr Goethe! Ihr ganzes Gedichtwerk in der Ursprungssprache zu lesen, das ist mir jetzt zu anstrengend! Bitte, geschätzter Herr, verehrter Dichter, bitte haben Sie dafür Verständnis!“

Das in grünes Leinen gebundene Buch stellt sie wieder ins Regal zurück. Die Gedanken kreisen um ihre große Anzahl von Büchern, um Evels geliebte Schriften, so auch um beide von ihm selbst verfassten Werke wie ‚Modern Egypt, Teil 1 und 2‘. Sie nimmt sich vor, öfters mal darin zu blättern. Schließlich hatte nicht zuletzt dieses umfangreiche Werk ihren Gatten unsterblich gemacht. Auch wenn sie dabei eine noch stärkere Lupe zu Hilfe nehmen muss. Altwerden ist eben kein Kinderspiel! Mütter sprechen oft aus Erfahrung, auch wenn wir es in unserem jugendlichen Übermut früher nicht glauben konnten. Ihre Mutter, auch ihre Großmutter, sie alle, ja, nun muss sie es sich eingestehen, sie sagten nichts anderes als die Wahrheit; sie alle schöpften aus einem großen von Weisheit geprägten Erfahrungsschatz. Das spürt sie auf Schritt und Tritt. Ja, das Alter ist durchaus eine Bürde, wie recht die Altvorderen gehabt haben, alle diese, damals von einer jungen Göre wie sie belächelten Alten. Aber heute ist heute, nachtrauern gilt nicht, und heute strahlt die Sonne. Nur dieses Heute, es soll mir heute genügen! Und schon streckt sie ihren wackligen Hals wieder in Richtung Garten. An ihren Blumenlieblingen hat sie sich noch nie sattsehen können. Mutter Natur hat die bezauberndsten Einfälle gehabt, bei deren Erschaffung, dessen ist sie sich gewiss, und kein Mensch wird es ihr je nachmachen können, auch wenn die Menschheit sich noch so klug gebärdet. Groß hervor preschen, ja, das können Menschen durchaus, vor allem, wenn es darum geht, Kriege anzuzetteln und ihre Macht spielen zu lassen. Aber, jetzt reiß’ dich zusammen, Ethel! Nicht weiter denken! Heute scheint die Sonne, … du weißt schon, Ethel …

Die alte Dame beobachtet draußen einen Zitronenfalter durch die blauen Lüfte gleiten. Er umkreist eine ihrer orangefarbenen Rosenlieblinge. Ob er darauf wartet, Einlass gewährt zu bekommen, wie sehr ähnelt sich solches Verhalten beim Menschen, wenn sie darauf erpicht sind, dass ihr mühsames Werben beantwortet wird. Oh, ja … alle Märchen beginnen mit ‚Es war einmal …!‘ Auch eine Weisheit, der sie sich selbst an einem der herrlichsten Sommertage nicht verschließen kann.

KAPITEL DREI

„Grandma! Grandma! Ich glaube, dass es da ist! Ich hab’s gefunden!“

Adelaine ist für einige Tage bei ihrer Großmutter zu Besuch auf dem Land. Gerade zeigt sie auf ein Brieflein, ehe ihre Hand über einen kleinen Kasten streicht, aus dem sie es genommen hat, es ist einer von fünfen an der Zahl. Sie streicht nicht nur einmal darüber, nein, das ebenmäßige Holz schmiegt sich so fest in ihre weichen Hände, dass sie nimmer müde wird, es immer wieder zu befühlen und zu betasten.

„Guck’ mal, hier, solch ein klitzekleines Ringlein ist zudem noch so fein verziert, obwohl es doch nur als Griff zum Aufschieben des Schubladenkästchens dient! Wie liebevoll haben die Handwerker die Feinheiten gestaltet.“

Die großmütterliche Erwiderung lässt nicht lange auf sich warten: „Hör’ gut zu, Adelaine! Der Sekretär entstammt der ‚regency period‘ und in dieser Zeit Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts wurden erste Möbel und Kunstwerke maschinell hergestellt. Zuvor sind diese Möbel noch handwerklich geschnitzt worden. Unser Sekretär ist im klassizistischen Stil gestaltet, mit griechischen Elementen verbunden!“ Lady Ethel erzählt stolz, was sie von ihrem Mann über das Erbstück aus Elternhand noch in ihrem alten Kopf, im hintersten Winkel einquartiert, behalten hat. „Aus griechischen Elementen sind die Beschläge der Griffe!“

Adelaine, ein junges Mädchen mit schwarzen bis auf die Schultern fallenden Locken und dunklen wachen Augen, ergreift einen Messingbeschlag und spürt, wie glatt er sich der Bewegung ihrer Hand anpasst. „Grandma, mir kommt gerade der Gedanke, wer alles schon diesen Griff in der Hand gehalten haben mag und mit welcher Erwartungshaltung die Schubladen geöffnet worden waren. Deine Schwiegereltern oder vielleicht deine Ur-Schwiegereltern haben das gute Stück doch, soviel ich weiß, erstanden, oder? Und jedes Mal verstauten sie wichtige oder weniger wichtige Familiendokumente dort hinein und, wie uns heute ersichtlich, waren auch so manches Mal geschäftliche Briefe mit von der Partie. Ich finde es einfach amüsant, mir vorzustellen, welche Hinterteile, ob gut gepolsterte oder schmächtige, in stattlichen Schreibtischsesseln davor gehockt haben mögen! Männer mit dicken Bäuchen vielleicht, solche, die aufpassen mussten, dass sie zwischen Schreibplatte und Sessel nicht eingequetscht wurden. Mit hochrotem Kopf verfassten sie unter Umständen Drohbriefe an Geschäftspartner oder lasen mit hochrotem Kopf an sie gerichtete Ermahnungsschreiben. Mein Urgroßvater war doch, soviel ich mitbekommen habe, auch im Bankwesen tätig gewesen, Grandma, oder?“

Großmama nickt, heftig sogar. Dabei glänzen ihre Augen wie Kinderaugen, die den leuchtenden Weihnachtsbaum bewundern. „Dein Ururgroßvater, ja, das war der Francis, der Sohn vom John, der sogar als der Gründer seiner eigenen Bank über alle Landesgrenzen hinweg Furore machte!“

 

Adelaine rühmt sich mit stolzgeschwellter Brust ihrer Vorfahren; beinahe gleichzeitig spürt sie jedoch einen Schauer über ihren Rücken laufen, der alles andere als Begeisterungsstürme in ihr entfacht. Ob sie ihren Vorfahren einmal das Wasser wird reichen können? Aber …, so arbeitet es in ihrem Kopf weiter, … ich bin ja eine Frau und eine Frau wird immer noch in erster Linie dafür verantwortlich zeichnen müssen, ihrem Mann eine stützende Kraft und ihren Kindern eine treusorgende Mutter zu sein. Ihr Universitätsstudium, ja, es bedeutet eine Auszeichnung für sie, ohne Zweifel! Ob es aber eine Eintrittskarte in das Bildungsbürgertum bereithält, das steht auf einem völlig anderen Blatt, wie sie im Stillen sinniert. Vielleicht wird es sie lediglich dazu befähigen, ihrem Ehemann eine geistig ebenbürtige Frau Gemahlin zu werden? Der Beginn der zwanziger Jahre verheißt zwar neue Möglichkeiten, aber sie, sie schluckt heftig, als sie ihren Gedanken weiterspinnt, Mutter von vielen Kindern, nur nicht gerade einem Dutzend, möchte ich aber unbedingt auch werden! Bisher hatte sie sich um ihre Zukunft nicht allzu viele Gedanken gemacht. Jetzt reißt sie der Blick auf den glänzenden Messinggriff, den sie andächtig streichelt, erneut abrupt aus ihrem tiefsinnigen Gedankengang.

„Hier musste sicher massenhaft Geschäftspost erledigt werden. Ob dieser riesige Tintenfleck noch von daher stammt?“

Die Großmutter lauscht jedem Wort ihrer Enkelin, spürt sie doch ihr langes In-Sich-Gekehrt-Sein, sie schweigt jedoch, während Adelaine weiterspricht und das in einem Galopp, der aufsehenerregend ist. Ob sie erregt ist? Sicher empfindet sie die Geschichte ihrer Vorfahren als sehr faszinierend!, so sinniert die alte Dame, ehe sie fortfährt: „Vielleicht hat sich mein Vater als kleiner Bub ja an das Tintenfass begeben und wollte wie die Großen auch mit dem Federkiel schreiben! Und dann ist womöglich das Tintenfleck-Malheur passiert! Oder junge Männer, vielleicht auch der Großvater, könnten über einem Liebesbrief gebrütet haben, wer weiß, aber solcherlei Gefühlsduselei scheint wohl mehr Weiberkram gewesen zu sein. So war es, ist es und so wird es wohl immer bleiben! Du kommst aber auch auf kreative Ideen! Du hast Phantasien, meine Kleine!“ Lady Ethel betrachtet ihre Enkelin mit verschmitztem Blick. Sie lässt gerade wieder einen Schwall Earl Grey in ihre Tasse laufen und fordert Adelaine auf, es ihr nachzutun. „Deinen Vater, Evel im Kleinformat, den muss ich unbedingt in Schutz nehmen! Nie und nimmer kann er der Übeltäter gewesen sein! Den Fleck hatte dein Großvater nämlich schon mit in die Ehe gebracht, verstanden? Wer weiß, wer da so stürmisch zu Werke gegangen und wem dabei das Tintenfass-Missgeschick passiert war?“

Die Großmutter liebt es, mit ihren Enkeln beisammenzusitzen und über frühere Zeiten zu plaudern, wobei Adelaine zugegebenermaßen als ihre Lieblingsenkelin gilt, denn beide verbindet eine starke Seelenverwandtschaft miteinander.

„Aber die Sache mit dem Liebesbrief! … äh, ja, eigentlich ist das nicht von der Hand zu weisen, dass dein Großvater mir einen von dieser Sorte geschrieben hat. Damals nach unserem Kennenlernen auf der Insel Malta, das heißt wenige Wochen später habe ich doch tatsächlich ein Briefchen von ihm erhalten und da wusste ich, dass es bei ihm auch eingeschlagen hatte, aber mächtig mit Donner und Doria, so wie ich es beim ersten Treffen im Park schon bemerkte!“

„Handelt es sich da etwa um dieses Briefchen hier, aus dem untersten Fach links? Ich habe es gerade gefunden!“

Wenn Omas rot werden, dann ist das das höchste Warnsignal, überlegt sich die Enkelin, plötzlich leicht bis mittelmäßig verlegen. Wie konnte sie dieses pikante Thema überhaupt vor ihrer Großmutter ausbreiten?, fragt sie sich, denn sie beobachtet, wie sich Omas Haut sichtlich von ihrem blassen rosa-weißen Teint in einen dunkleren Farbton verwandelt.

„Lass’ mich ihn erst einmal still lesen! Gib’ ihn mir bitte mal!“ Lady Ethel nimmt schnell wieder Haltung an. Schließlich darf sie sich doch auf keinen Fall gehen lassen, allein im Stübchen mag das noch angehen, aber wenn ihre Kinder und Enkel bei ihr sind, darf sie sich das nie und nimmer erlauben! Sie überfliegt das Briefchen im Nu! Das vergilbte Papier lässt einige der wenigen Buchstaben kaum noch entziffern. Aber sie, die Verblichenen, hatten sich Jahrzehnte zuvor schon längst in ihr Herz eingegraben. Mit dem Kopf nickend und erleichtert darüber, dass seine Liebesschwüre gekonnt sachlich, voller Ehrerbietung und Anstand ausgefallen waren, sinniert sie: Typisch Evel, denn Gefühlsdinge anzusprechen, das passte so ganz und gar nicht zu ihm.

„Adelaine, mein Kind, hör’ mal, wie gewählt er sich hier ausdrückt: Mein höchst verehrtes Fräulein, der gewisse Herr, der auf der Insel Malta Ihre werte Bekanntschaft machen durfte, sinnt darüber nach, diese freundschaftliche Beziehung zu intensivieren, da er nach reiflicher Überlegung zu der Auffassung gelangen konnte, dass eine Fortsetzung derselben im Interesse der männlichen wie weiblichen Seite sein dürfte! Bitte teilen Sie mir in gnädiger Weise mit, wie Ihr Standpunkt zu dieser Thematik ausfällt! Mit hochachtungsvollen Grüßen verbleibe ich als Ihr werter Herr Evel Baren!“

„Grandma, du machst mich richtiggehend neugierig! Jetzt musst du mir aber auch erzählen, wie ihr euch auf Malta kennengelernt habt! Oh, ich glaube, ich ahne es schon!“

Familiengeheimnisse werden gerne untereinander weitergereicht, flüsternd natürlich, hinter vorgehaltener Hand, mit einem verschämten oder verschmitztem Lächeln, vielleicht auch einem fragenden Blick, der nur schwer glauben kann, was der Mund des Gegenübers im Flüsterton artikuliert. Großmutter Ethel, gerade noch auf der äußeren Kante des Sessels hockend, wie zum Absprung bereit, rückt mit ihrem Gesäß zurück in ihre gemütliche Kissenkuhle. Ehe sie gedenkt, sich in aller Ausführlichkeit ihrer Enkelin mitzuteilen, zupft sie in aller Seelenruhe ihr Spitzentuch aus ihrem Ärmel, um einen Teetropfen auf ihrem Dekolleté abzutropfen, einen einzigen, der gerade das Ziel verfolgt, zwischen ihren Brüsten entlang zu träufeln.

„Ja, in Malta war dein Großvater als Adjutant für Sir Henri Storks tätig gewesen. Dieser hochstehende Generalleutnant bestand, wie dein Großvater immer schmunzelnd betonte, fast nur aus Orden und Medaillen, die, an seiner Uniform befestigt, glänzten. Ernst und erhaben befehligte er seine Armee. Ja, so war das eben und so ist es noch, auch jetzt noch sechzig Jahre später, in mir lebendig! Und genauso wird es für mich auch in alle Ewigkeiten bleiben!“

Adelaine kann nicht umhin, einen Einwurf zu machen: „Dass hinter diesen Herrschern Menschen mit Herz und Seele stecken, das merkt man sicher, wenn überhaupt nur, beim engerem Kontakt mit ihnen. Und dabei werden bestimmt auch oft genug unüberwindliche Abgründe sichtbar. Aber wer darf schon in tieferer Verbindung mit Hochwürdigen treten, ausgenommen der eigenen Familie und einigen engsten Freunden? Übrigens …“ Adelaine stützt ihren Kopf ein wenig auf die Finger ihrer rechten Hand, ehe sie fortfährt, „… stand Malta zu diesem Zeitpunkt nicht unter Kolonialherrschaft von England?“

„Ja, sie dauerte sogar, … warte mal, ich muss jetzt mal tüchtig überlegen …!“ Und jetzt ist es Lady Ethel, die ihren alten Kopf auf beide Hände stützen muss, um dort noch etwas herauszubefördern, was ihr über Jahrzehnte lang präsent geblieben, aber in diesem Moment weggehuscht zu sein scheint. „Oh, ich hab’s! Mein Dickschädel kramt doch noch hier und da etwas Sinnvolles hervor. Die Kolonialherrschaft dauerte genau 164 lange Jahre an!“ Ein einziger Gehirnstups genügte also, um ihre grauen Zellen vollends zu aktivieren und somit einen ganzen Wasserfall aus ihrem Munde sprudeln zu lassen. „Mitte des 19. Jahrhunderts, da blühte die Insel richtiggehend auf. Die Landwirtschaft entwickelte sich und Werften wurden errichtet. Die Malteser waren ein arbeitsames Volk. Anstelle der Segelschiffe fuhren Dampfschiffe und nachdem der Suezkanal gebaut worden war, galt Malta als Zwischenstation zum Nachladen der Kohle!“ Lady Ethel spürt, dass ihre Adelaide nur mit halbem Ohr bei der Sache ist.

„Grandma, spann’ mich nicht zu lange auf die Folter! Du weißt, wie sehr ich darauf brenne, alles über euch, über euer Kennenlernen und die erste Liebe zu erfahren!“

Lady Esther muss lächeln. Irgendwie kommen ihr solche Gefühlsregungen und Fragen bekannt vor! „Ja, die ganze Prozedur Kennenlernen zeigte sich ziemlich verwirrend, mein Schatz!“

Und dann lacht die Großmutter, aus vollem Hals sogar, wie ein Backfisch, alle Konventionen abschüttelnd, so dass Adelaine sie erstaunt und belustigt ansieht.

„Grandma! So gefällst du mir! Erzähl’ nur, erzähl’, ich kann es kaum vor Neugierde aushalten!“

„Ja, Kind, das ist so gewesen: Stell’ dir mal vor …“ Und dabei sprudelt wieder ein besonders herzhafter Lacher aus ihr heraus. „Stell’ dir das nur mal bildlich vor! Er hat mich zuallererst mit den Füßen getreten!“

Bei Adelaine beginnt es zu dämmern. Irgendetwas Fußiges war es also, das Großvater mit Großmutter in Kontakt gebracht hatte!

„Seltsam! Seltsam! Aber erzähl’ …!“, drängt sie ihre Großmutter.

„Ja, mein liebes Kind, das hat sich alles so begeben: Mein Patenonkel, Onkel John, der diente auch zu jener Zeit dort in der Armee als Hauptmann. Und wie es das Schicksal so wollte, kamen Großvater und Onkel sich bei einem Gläschen Wein ein wenig näher! Und da in meinem Elternhaus schon lange erörtert worden war, wie es am besten anzustellen wäre, die Tochter Ethel unter die Haube zu bringen, so trug, wie alle Welt im Nachhinein erfuhr, dieser, mein Onkel, ganz zufälligerweise natürlich, ein Bildnis mit meinem Antlitz bei sich. Damals gab es nur in begüterten Familien die Möglichkeit, sich entweder malen oder von einem der seltenen Photographen mit einem großen schwarzen Kasten ablichten zu lassen. Jedenfalls rutschte, so wie es mein Onkel beschrieb, ihm ‚ganz versehentlich‘ mein Bild aus seiner Jackett-Tasche, ja wirklich versehentlich, wie es familiengeschichtlich immer wieder betont wurde. Und weil das gemütliche Beisammensitzen beider Herren vor stürmischer See stattfand, erhob sich just in diesem besagten Moment eine Windböe, die mein Bildnis erfasste und es gerade auf Nimmerwiedersehen weg tragen wollte. Noch gerade im rechten Moment sprang dein Großvater in spe auf und trat mit der dicken Stiefelsohle darauf, um der Böe ihr Handwerk zu legen.“

Adelaine betrachtet ihre Großmutter, ungläubig belustigend fängt sie an wie eine ganze Horde Backfische loszukichern. „Ha, ha, ha, das ist wirklich eine lustige Geschichte! Wie geht sie denn weiter? Erzähle!“

„Dein Großvater in spe, der führte sich, wie der Onkel erzählte, ganz intensiv mein Bildnis zu Gemüte! Dann nach langer stillen Betrachtung und Begutachtung meinte er nur: Das Antlitz, wirklich gut geschnitten! Die Augen klar und vertrauensvoll! Ja, so ist er eben immer gewesen, dein Großvater! Ein Mann weniger Worte! Besonders in Bezug auf Gefühlsangelegenheiten! Das war ganz und gar nicht seine Sache!“

„Ja, und wo habt ihr euch dann zum ersten Male gesehen?“ Adelaine platzt bald vor Neugier.

„Wochen später hat Onkel John dann ein Treffen in Malta arrangiert. Meine Eltern standen dem Ganzen ganz und gar nicht ablehnend gegenüber, wie du dir ja denken kannst. Eine solche Partie für ihre Tochter, das konnten sie sich unter keinen Umständen entgehen lassen! Und dann wurde das erste Treffen arrangiert, zunächst im Beisein von Onkel John, dann gestattete man uns in großzügiger Weise das Flanieren in einer Parkanlage. Ich trug ein buntes Sommerkleid mit Bolero, Großvater in spe machte auf mich einen riesigen unvergesslichen Eindruck durch seine schicke Uniform. Später kam dann dieses Briefchen hier …“, und bei ihren letzten Worten drückt sie das vergilbte Papier fest an ihre Brust. „Und morgen erzähle ich dir weiter! Von unserer Hochzeit! Jetzt muss ich mir erst mal einen Baldriantee zubereiten. Damit ich wenigstens nach so vielen Gefühlswallungen ein wenig Nachtruhe finden kann!“

„Grandma, lass’ mich den Tee zubereiten!“

Als Adelaine schließlich mit einem Kännchen dampfenden Tees ins Zimmer tritt, staunt sie nicht schlecht. Die Großmutter liegt mit geschlossenen Augen, den Kopf fest in ihr Sessel-Kissen vergraben, und schlummert in aller Seelenruhe. Adelaines Blick schaut gebannt auf ihr Antlitz, ein von großer Erfahrung geprägtes Gesicht, dessen Furchen, Falten, Sorgen- und Lachfalten zugleich, tiefe Spuren eines spannungs- und ereignisreichen Lebens sich jenem Gegenüber auftun, das imstande ist, empfindsam in tiefere Seelenschichten einzutauchen. Adelaine, den Blick noch immer unverwandt auf das ihr so sehr vertraute Antlitz gerichtet, vertieft sich in ihre nachsinnenden Überlegungen: Wie lassen sich Grübel- von Weinfalten überhaupt unterscheiden? Grübelfalten nisten sich doch vornehmlich in der Stirn ein, oder? Beim Weinen werden andere Gesichtspartien beansprucht. Wie lassen sich überhaupt Lach- und Sorgenfalten voneinander trennen? Sicher hat Großmutter einen ganzen Fluss voller Tränen vergossen, als sie von ihrer jüngsten Tochter Abschied nehmen musste. Damals in Ägypten! Seit dem tragischen Unfall ihrer Henriette, die mit drei Jahren beim Spielen in den Parkteich gefallen und ertrunken war, darf das mit keiner Silbe von niemanden in der großen Familie erwähnt werden. Das ist ein unumstößliches Gesetz! Aber wenn ich mich in Großmamas Gesicht vertiefe, dann entdecke ich dort keinerlei Resignation. Ein Mensch, der immer wieder von Herzen lachen kann und Freude am herrlichen Blühen und Wachsen ihrer Rosen und Gartensträucher hat, ein Mensch, der immer noch regen Anteil an Wohl und Wehe jedes Einzelnen innerhalb ihrer großen Familie nimmt, der zeigt wie Großmutter ein offenes, vertrauensvolles Gesicht! Wenn Großmutter nur nicht immer wieder die Sehnsucht nach ihrem geliebten Evel übermannen würde! Er, mein Großvater, zeigte sich jederzeit als ihre große Stütze, vom ersten Kennenlernen an! Sie weiß es so genau, weil Grandma nicht müde wird, das immer und immer wieder zu betonen. Aber an jedem Geburtstag eines Enkels entging es keinem im vertrauten Familienkreis, dass sie einige Male tief seufzte, begierig nach Luft schnappte und sich mit ihrem Spitzentaschentuch eine Träne von ihren Wangen wischte.

 

„Meine Kleine, warum durfte sie nur nicht älter werden?“ Sie streichelte dabei jedes Mal Kätzchen Käthe, das genauso wie heute auch damals zu ihren Füßen lag, behaglich schnurrend! Ob das Tierchen eine Antenne dafür hat, wenn Frauchen ihren Trost braucht? Frauchen lächelte jedenfalls zaghaft, das schnurrende Kätzchen im Visier, und das zur spürbaren Erleichterung aller besorgt drein blickenden Mienen im Stuhlkreis.

„Hoch soll es leben!“ Bei jedem Enkelgeburtstag musste, sollte oder durfte, je nachdem, wie das Geburtstagskind das Hochheben und Schütteln auf der männlichen Händebrücke empfand, dieses Ritual vollführt werden. Und nun lächelte zur Freude aller sogar die Großmutter.