Die Elfen der Dämmerung: 3 dicke Fantasy Sagas auf 1500 Seiten

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Ai'Lith, die ewige.


Es war bei weitem nicht Mazirocs erster Besuch in der Hohen Festung, doch wie stets zuvor wurde er auch diesmal wieder von der gleichen Bewunderung und dem ehrfurchtsvollen Staunen überwältigt, wie beim ersten Mal. Viele bezeichneten bereits das weitgehend aus schwarzen Basaltblöcken erbaute Cavillon als ein zwar düster anmutendes, aber dennoch unvergleichliches Weltwunder, doch die Heimstatt der Elben stellte die Ordensburg ebenso wie jedes andere Bauwerk weit in den Schatten.

Allein schon das weitläufige, von schroffen, hohen Felswänden umgebene Tal rund um die Hohe Festung mutete fast paradiesisch an. Ein kristallklares Flüsschen mit zahlreichen Kaskaden und sogar einem kleinen Wasserfall schlängelte sich hindurch und mündete in einem romantischen Weiher. Entlang des fruchtbaren Flussufers erstreckten sich Felder, auf denen Getreide, Mais und andere Nutzpflanzen angebaut wurden, im Wechsel mit Weideland, auf dem sich Pferde, Kühe, Schafe, Ziegen und andere Tiere tummelten. Dazwischen befanden sich überall riesige Beete, auf den Rosen und andere farbenprächtige Blumen bereits zu dieser frühen Jahreszeit in üppiger Blüte standen und das gesamte Tal mit süßem Duft erfüllten.

Über allem schwebte ein friedlicher Zauber wie eine unsichtbare Aura, ein feines Gespinst, das jede Pflanze, jedes Tier und sogar das Wasser des Flusses wie auch jeden Stein zu umfangen schien, doch es war eine gänzlich andere Form der Magie, als Maziroc sie kannte und selbst zu erzeugen vermochte. Sie war älter, erhabener und ungleich mächtiger, aber sie war auch auf diesen Ort begrenzt. So wie sie alles in diesem Tal umfing, so entsprang sie ihm auch.

Ihr eigentliches Zentrum jedoch war Ai'Lith, das sich inmitten des Talkessels auf einem niedrigen Hügel erhob. Dreißig, vierzig Meter hoch strebten die Mauern steil empor; Mauern, die aus titanischen, strahlend weißen Marmorquadern errichtet waren, jeder davon so groß wie ein Haus. In jedem einzelnen dieser zyklopischen Monolithen befand sich mindestens eine ergiebige Quarzader, von denen jede einzelne je nach Sonneneinfall wie ein Band aus verschiedenen vielfarbigen Edelsteinen gleißte und funkelte, sodass man nie länger als ein paar Sekunden hinblicken konnte, ohne von dem Glanz geblendet die Augen schließen zu müssen.

Der Grundriss des Bauwerks bildete ein Oktogon, ein Achteck. An jeder der acht Ecken erhob sich ein schlanker, gleichfalls aus weißem Marmor erbauter Turm, der die Mauern noch einmal um mehr als das Doppelte überragte, sodass man den Kopf weit in den Nacken legen musste, um vom Fuß bis zum Kuppeldach hinaufzublicken. Wie spitze Nadeln schienen die Türme geradewegs bis in den Himmel zu ragen, filigran und machtvoll zugleich. An manchen Tagen, wenn die Wolken besonders tief hingen, verschwanden die Spitzen der Türme sogar tatsächlich darin. Über den Zinnen spannten sich ebenso wie über sämtlichen Gebäuden Dächer und Kuppeln aus purem glänzendem Gold.

Die Unvergleichlichkeit Ai'Liths beruhte jedoch nicht nur auf ihrer strahlenden äußerlichen Pracht. Eine unbeschreibliche Wirkung, die die Seele eines jeden Betrachters zu berühren schien, ging von ihr aus, eine Aura aus Macht, Würde, Unbeugsamkeit und auch einer gewissen Fremdartigkeit, auch dies eine Wirkung des Zaubers, der über diesem Ort lag. Jeder Stein schien auszudrücken, dass die Hohe Festung kein von Menschen geschaffenes Bauwerk war. Gerüchten zufolge, die nie bestätigt oder widerlegt worden waren, sollten sogar nicht einmal die Elben die Baumeister gewesen sein, sondern Ai'Lith nur von einem der noch älteren, mythischen Völker übernommen haben, das vor Äonen ausgestorben und dessen Name längst in Vergessenheit geraten war. Wieder eine andere Sage behauptete gar, dass die Hohe Festung ein Geschenk der Götter selbst an einen der früheren Elbenkönige gewesen sein soll.

Maziroc wusste nicht, inwieweit einige dieser Gerüchte zutrafen oder zumindest einen wahren Kern besaßen, es war ihm auch gleichgültig. Vermutlich würde es den Menschen - und somit auch den Magiern - niemals gelingen, alle von den Elben so sorgsam gehüteten Geheimnisse um den Ursprung Ai'Liths zu lösen, und vielleicht war es auch besser so.

Bei aller Pracht und Schönheit, mit der die Heimstatt der Elben das Auge eines Betrachters abzulenken trachtete, durfte man jedoch nicht außer Acht lassen, dass die Hohe Festung ihren Namen nicht zu unrecht trug. Es war eine Festung, wahrscheinlich sogar die stärkste der bekannten Welt, und sie galt als uneinnehmbar, woran Maziroc keinerlei Zweifel hegte. Die beiden Talzugänge waren so schmal, dass kaum zehn Männer nebeneinander hindurchreiten konnten. Jeweils beiderseits davon waren auf den Klippen Felsbrocken aufgehäuft, die sich bei Bedarf in die Tiefe stürzen ließen und dabei eine Lawine auslösen würden, wodurch die Pässe völlig blockiert würden. Mit siedendem Pech und nur einer Handvoll Bogenschützen ließen sie sich anschließend problemlos auch gegen ein zahlenmäßig weit überlegenes Heer verteidigen.

Und selbst wenn es einem Angreifer gelingen sollte, überhaupt bis in das Tal vorzudringen, so bildeten die zyklopischen Mauern mit den mehrfach hintereinander gestaffelten Befestigungswällen der Hohen Festung selbst immer noch ein weiteres nach menschlichem Ermessen unüberwindliches Hindernis. Zwar lebten nur noch wenige tausend Elben in Ai'Lith, von denen nicht einmal die Hälfte Krieger waren, dennoch würden sie mit vermutlich nur geringen eigenen Verlusten in der Lage sein, ein nach Hunderttausenden zählendes feindliches Heer abzuwehren.

Angesichts der unbekannten Gefahren, die vor ihnen liegen mochten, war Maziroc froh, ein solches Bollwerk im Rücken zu haben, in dessen Schutz sie sich im Notfall flüchten konnten. Er hoffte, dass es dazu erst gar nicht kommen würde, aber das bloße Wissen um diese Möglichkeit und die Stärke Ai'Liths beruhigte ihn.

Zunächst aber genoss er genau wie alle anderen den Aufenthalt im Reich der Elben, und im Augenblick zählte für ihn nur das Versprechen von Wärme, einem Bad, einem weichen Bett, gutem Essen und Trinken und dergleichen mehr, das der Anblick der Hohen Festung mit sich brachte, allesamt Annehmlichkeiten, die Maziroc in den letzten Tagen mehr als schmerzlich vermisst hatte. Nur an einem einzigen der seit ihrem Aufbruch vergangenen Abende waren sie in einem Gasthaus eingekehrt und hatten dort übernachtet, weil sie es zufällig genau zu der Zeit erreicht hatten, als ohnehin Zeit für eine nächtliche Rast gewesen war. Die restlichen Nächte hatten sie unter freiem Himmel verbracht.

Entsprechend groß war Mazirocs Freude über den Luxus, der sich ihm in Ai'Lith bot. Zunächst gönnte er sich ein ausgiebiges heißes Dampfbad, spülte sich den Staub und Schmutz des Gewaltritts vom Körper, und entspannte seine schmerzenden Muskeln. Anschließend gab es nicht nur ein so üppiges Mahl, wie sie es seit ihrer Mittagsrast im "Wilden Eber" nicht mehr genossen hatten, sondern auch ganze Fässer des weithin als exzellent bekannten Elbenweins, während Gaukler ihre Kunststücke vorführten und Tänzerinnen zwischen den Zechern herumwirbelten.

Als Maziroc sich gegen Mitternacht schließlich in die Abgeschiedenheit des ihm allein zugewiesenen Gemachs zurückzog, ließ er sich voller Wohlbehagen in ein weiches Bett sinken und schlief fast augenblicklich ein, ohne wie in den vergangenen Nächten durch das Schnarchen, Lachen, Reden und sonstige Lärmen zahlreicher anderer Männer um sich herum gestört zu werden.

Zu seinem Leidwesen jedoch war die Nacht tatsächlich so kurz, wie Eibon am Abend angekündigt hatte. Bereits bei der ersten Morgenröte wurde Maziroc durch lautes Klopfen an der Tür aus dem Schlaf gerissen. Zusammen mit den anderen nahm er ein ausgiebiges Frühstück ein, dann ordnete Eibon bereits den Aufbruch an.

Auch in den beiden folgenden Wochen preschten sie weiterhin im gleichen schonungslosen Tempo wie auf dem Weg zur Hohen Festung dahin, und im Verlauf der Tage begann Maziroc allmählich immer deutlicher zu spüren, dass er schon seit geraumer Zeit keine längere Reise mehr unternommen hatte. Er war es schlichtweg nicht mehr gewöhnt, so lange zu reiten. Der viel zu kurze Aufenthalt in Ai'Lith hatte längst nicht ausgereicht, in genügendem Maße neue Energie zu tanken.

Allerdings hatte er unter den Strapazen bei Weitem nicht am schlimmsten zu leiden. Dafür hatte er früher zu viele ausgedehnte Reisen unternommen, sodass sie trotz der langen seither vergangenen Zeit nicht völlig ungewohnt für ihn waren. Wesentlich schlechter erging es den vier anderen Magiern, die sich außer ihm und Charalon dieser Expedition angeschlossen hatten, und vor allem den beiden Vingala, die Cavillon bislang höchstens zu gemütlichen Ausflügen in die nähere Umgebung verlassen hatten. Alle paar Minuten verlagerten sie ihr Gewicht von einer Seite auf die andere, massierten ihre Bandscheiben, sanken im Sattel nach vorne und drückten kurz darauf ihren schmerzenden Rücken wieder durch.

Am wenigsten machte der Gewaltritt den Elbenkriegern und vor allem den Spähern zu schaffen, die ohnehin beinahe auf dem Rücken ihrer Pferde zu Hause waren. Selbst Eibon, auf den dies gewiss nicht zutraf, hielt sich trotz seines hohen Alters erstaunlich gut. Hoch aufgerichtet und majestätisch ritt er inmitten seiner Garde dahin und ließ sich nicht das Geringste von den Mühen, die dieser Ritt zweifelsohne auch ihm bereiten musste, anmerken. Mazirocs Bewunderung für ihn stieg dadurch noch, und er war nicht der Einzige, dem es so erging.

Auch Charalon, der lange Ritte ebenfalls nicht gewöhnt war, bemühte sich verbissen, es dem Elbenkönig gleich zu tun, indem er sich schon fast übertrieben aufrecht und würdevoll im Sattel hielt, ohne auch nur das kleinste Anzeichen von Schwäche zu zeigen. Die Wahrheit allerdings sah anders aus, doch war Maziroc wohl der Einzige, der erkannte, dass Charalon auf Magie zurückgriff, um diesen Eindruck zu erzeugen, wenn auch bewusst nur in ganz geringem Maße. Dabei griff er auf das gleiche Skiil zurück, das es ihm auch ermöglichte, sein wahres Aussehen hinter einer Maske zu verbergen. Es handelte sich um einen goldenen, mit fremdartigen Schriftzeichen versehenen Reif, den er an seinem linken Handgelenk trug. Das Skiil war eines der stärksten, das je entdeckt worden war. Es bildete nicht nur einen starken Schutz gegen einen Angriff mit fremder Magie, es ermöglichte es seinem Träger auch, täuschend realistische Illusionen zu erzeugen.

 

Maziroc konzentrierte sich, um das Trugbild zu durchschauen, und er sah, dass Charalon in Wirklichkeit genau wie die anderen vier Magier und die beiden Vingala halb zusammengesunken über dem Hals seines Pferdes hing.

Auch diese Nacht verbrachten sie wieder im Freien. Kaum hatte Eibon das Zeichen zum Halt gegeben, rutschten die meisten von ihnen von ihren Pferden und ließen sich an Ort und Stelle zu Boden sinken. Zumindest die Elben bewiesen jedoch genügend Disziplin, sich nach wenigen Minuten des Ausruhens sofort wieder aufzuraffen. Einige von ihnen kümmerten sich um die Pferde, andere suchten das Holz für die Lagerfeuer zusammen. Auf einen Befehl Bayrons hin schlossen sich ihnen kurz darauf auch die menschlichen Soldaten an, wenn auch mit matten, unsicheren Bewegungen, die deutlich ihre Schwäche verrieten.

Maziroc wünschte sich nichts mehr, als sich ebenfalls einfach dort, wo er stand, zu Boden sinken zu lassen, eine Kleinigkeit aus seinem Vorratsbeutel zu essen und anschließend sofort einzuschlafen. Er widerstand diesem Verlangen jedoch, obwohl es ihm höllisch schwer fiel. Seine Gelenke waren fast steif geworden, seine Muskeln schmerzten, und seine Knie zitterten so stark, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Selbst sein leichtes Gewand schien plötzlich Tonnen zu wiegen und ihn nach unten zu zerren. Aber es war wichtig, dass er mit Charalon sprach, auch wenn es ihn noch so viel Überwindung kostete, weil schon der bloße Gedanke daran, jetzt ein womöglich auch noch längeres Streitgespräch zu führen, ihn abschreckte. Dennoch sammelte er seine noch verbliebenen Kräfte, trat zu Charalon, der an einen umgestürzten Baumstamm gelehnt auf dem Boden saß und nahm neben ihm Platz. Das um sie herum herrschende Halbdunkel verwandelte das Gesicht des alten Magiers in eine Landschaft aus zerschrundenen Schatten und harten Linien.

"Stolz kann eine anstrengende Angelegenheit sein", begann Maziroc das Gespräch und konnte es sich nicht verkneifen, spöttisch hinzuzufügen: "Sei nur vorsichtig, dass du dich nicht zu sehr verausgabst, sonst wird er womöglich noch peinlich."

Es dauerte einen Moment, bis Charalon verstand, wie die Bemerkung gemeint war, dann weiteten sich seine Augen vor Überraschung, und ein zerknirschter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.

"Du hast es also gemerkt", murmelte er und starrte auf das Skiil an seinem Handgelenk. "Dabei habe ich mich bemüht, es so unauffällig wie möglich zu tun."

"Keine Sorge, ich glaube nicht, dass es außer mir jemandem aufgefallen ist", beruhigte Maziroc ihn. Er bewegte seine Schultern ein paarmal vor und zurück und ließ seinen Kopf kreisen, um die verkrampften Schultermuskeln zu entspannen. "Im Gegenteil, du bist dabei, eine Menge Eindruck zu schinden."

"Na ja, schließlich repräsentiere ich gewissermaßen den Orden, und es würde kein besonders gutes Licht auf uns werfen, wenn ich mich wie ein Schwächling hängen lassen würde. Ich bin überzeugt, dass es auch Eibon schwerfällt, seine Haltung zu bewahren, aber er schafft es, und ich will nicht hinter ihm zurückstehen. Selbst wenn ich es nur durch Magie schaffe."

"Aber Eibon kann nicht auf entsprechende Tricks zurückgreifen, und genau das macht mir Sorgen", kam Maziroc auf das eigentliche Thema zu sprechen, über das er sich mit Charalon beraten wollte. "Er hat in Cavillon nicht übertrieben. Mit seiner Gesundheit steht es wirklich nicht zum Besten, aber er will sich keinerlei Schwäche anmerken lassen. Eine Anstrengung wie diese kann ihn leicht ins Grab bringen. Er hätte besser in Ai'Lith bleiben sollen. Ich begreife nicht, warum er diese Expedition unbedingt persönlich anführen will und dafür diese Strapazen auf sich nimmt."

Charalon lächelte flüchtig. "Ich denke, das kann ich wesentlich besser nachvollziehen als du", sagte er. Er griff nach einem dünnen Zweig und begann, ihn in kleine Stückchen zu zerrupfen, die er achtlos auf den Boden rieseln ließ. "Weißt du, Eibon ist nun mal eine lebende Legende, aber das ist er in erster Linie aufgrund von Leistungen, die er vor langer Zeit erbracht hat, als er die Friedensverträge mit den Barbaren ausgehandelt hat. Seither hat er nichts Bedeutsames mehr vollbracht. Seine Regentschaft war weitgehend unauffällig. Weise und von Frieden und Wohlstand geprägt, aber ohne besondere Höhepunkte, die in die Geschichte eingehen werden."

"Und was ist daran auszusetzen, ein Volk weise und friedfertig zu regieren?", fragte Maziroc und runzelte irritiert die Stirn. "Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst."

"Auszusetzen ist daran gar nichts. Aber ein Mann wie Eibon, der schon kurz nach Beginn seiner Regentschaft solche historischen Taten vollbracht hat, möchte nicht ewig nur von früherem Ruhm zehren. Er weiß, dass sein Leben sich dem Ende zuneigt, und gerade jetzt droht anscheinend eine Gefahr noch unbekannten Ausmaßes. Statt sich nur noch zurückzulehnen und auf sein Ende zu warten, möchte er sich dieser Bedrohung noch einmal aktiv stellen und persönlich dazu beitragen, sie zu bezwingen, um seinem Leben auf diese Art ein weiteres Glanzlicht zu setzen und seinen Ruhm vielleicht unsterblich zu machen."

Nachdenklich ließ Maziroc sich die Worte noch ein paarmal durch den Kopf gehen. Von dieser Seite hatte er das Verhalten des Elbenkönigs noch gar nicht betrachtet. Er konnte die von Charalon aufgeführte Denkweise einigermaßen nachvollziehen, doch richtig verstehen konnte er sie nicht. Dafür war sie ihm zu fremd, was möglicherweise - höchstwahrscheinlich sogar - an seinem Alter lag. Gemessen an normalen menschlichen Maßstäben war er mit seinen mehr als sechzig Jahren auch selbst bereits alt, doch er war schließlich ein Magier, und als solcher hatte er gerade erst einmal die Hälfte seiner zu erwartenden Lebensspanne erreicht. Im Vergleich zu Charalon, der bald sein hundertzehntes Lebensjahr vollenden würde, war er sogar fast noch ein junger Hüpfer und hatte noch viele Jahrzehnte vor sich. Vielleicht machte er sich deshalb über so abstrakte Begriffe wie Ruhm und dergleichen noch keine Gedanken. Seine Zeit, sich einen Platz in den Geschichtsbüchern zu erobern, würde erst noch kommen, wenn er irgendwann selbst an die Spitze des Magierordens trat. Dann konnte er sich damit beschäftigen.

"In gewisser Hinsicht geht es mir selbst nicht anders", ergänzte Charalon leise und riss ihn damit aus seinen Gedanken. "Was glaubst du, warum ich ebenfalls unbedingt persönlich an dieser Expedition teilnehmen wollte?"

Seine Worte überraschten Maziroc nicht einmal mehr, nicht wirklich. Aufgrund der Leidenschaftlichkeit, mit der Charalon ihm gerade die Denkweise des Elbenkönigs geschildert hatte, war deutlich geworden, dass er auch von sich selbst sprach.

"Es wird dir und auch Eibon wenig nutzen, wenn ihr halbtot seid, wenn wir unser Ziel erreichen", murmelte er. "Und alle anderen auch, wenn wir in diesem selbstmörderischen Tempo weiterreiten." Er schwieg einen Moment und blickte zu den Pferden hinüber. Sie hatten doppelt so viele Tiere dabei, wie sie selber waren. So konnten sie immer wieder wechseln, und eines der Pferde konnte sich etwas erholen, während das andere seinen Reiter trug. Dennoch war auch den Tieren die Erschöpfung mittlerweile deutlich anzumerken. "Selbst die Pferde halten das Tempo nicht mehr lange durch", fügte Maziroc nach einer kurzen Pause hinzu. "Noch ein, zwei solche Tage, dann werden die ersten kurzerhand unter ihren Reitern zusammenbrechen.

"Ich weiß", murmelte Charalon. Gleich darauf zuckte er die Achseln und warf Maziroc ein verzeihungheischendes Lächeln zu. "Aber Eibon leitet diese Expedition nun mal, und damit gibt er auch das Tempo vor. Wir haben uns ihm nur angeschlossen. Ich werde den Teufel tun und mich da einmischen. Entweder würde man es für Schwäche von mir halten, oder es sähe so aus, als ob ich seine Autorität untergraben wolle."

"Dann werde ich eben mit ihm sprechen", erklärte Maziroc entschlossen und stemmte sich in die Höhe. Es gelang ihm nicht, seine Verdrossenheit völlig aus der Stimme heraus zu halten. "Ich sehe absolut nicht ein, warum wir alle darunter leiden und den Sinn dieser Expedition gefährden sollen, dass sich zwei alte Sturköpfe unbedingt einen möglichst großen Platz in der Geschichtsschreibung sichern wollen."

Seine Worte taten ihm fast augenblicklich wieder leid, nicht das was er gesagt hatte, sondern die bewusst verletzende Art, in der er es getan hatte. Durch ein einfaches Lächeln hätte er den Worten die Schärfe nehmen können, aber er brachte es nicht über sich, sondern drehte sich fast überhastet um und stapfte davon, auf Eibon zu, der ein Stück entfernt stand und hitzig mit Bayron und zwei der Elbenkrieger sprach. Als sie ihn bemerkten, unterbrachen sie ihr Gespräch und wandten sich ihm zu. Fragend blickte Eibon ihn an.

"Ich würde Euch gerne einen Moment allein sprechen", bat Maziroc. Unter vier Augen würde es ihm vermutlich eher gelingen, den Elbenkönig von seinem Anliegen zu überzeugen, als vor Zeugen.

"Ich wollte sowieso gerade gehen und nach meinen Männern sehen", behauptete Bayron. Seine Stimme klang gereizt; offenbar hatte auch er mit Eibon gerade eine kleine Meinungsverschiedenheit ausgetragen. Verdrossen wandte er sich um und stapfte davon. Auch die beiden Elbenkrieger verschwanden im Dunkel der Nacht.

"Um was geht es?", erkundigte sich Eibon. Er lächelte. "Wenn Ihr darum bittet, allein mit mir sprechen zu können, dann muss es sich um etwas Wichtiges handeln, wie ich Euch kenne, Maziroc."

"Es geht möglicherweise um unser aller Leben, speziell aber um Eures", erwiderte der Magier. "Die Leute sind dem Tempo, das Ihr von ihnen verlangt, nicht mehr gewachsen, und auch die Pferde nicht. Wir werden sie zuschanden richten, und ihre Reiter werden zu Tode erschöpft sein, wenn wir das gefährliche Gebiet erreichen. Möglicherweise ist es bei Euren Elbenkriegern anders. Ihr habt Eure Eskorte in Ai'Lith ausgetauscht. Erholte Männer und frische Pferde. Wir aber sind nun schon seit beinahe einem Monat unterwegs."

"Merkwürdig", antwortete Eibon. Sein Lächeln war nicht verloschen, hatte sich sogar noch vertieft. "Bayron kam zu mir, um mit mir über genau dasselbe Thema zu sprechen, und ich werde Euch dieselbe Antwort wie ihm geben. Es ist richtig, dass ich meine Eskorte ausgetauscht habe, aber Ihr dürft nicht vergessen, dass sie bereits den doppelten Weg hinter sich hatte, während Ihr uns nur auf dem Rückweg von Cavillon zur Hohen Feste begleitet habt. Auch ich selber bin bereits von Anfang an dabei, und ich leite diese Expedition auch weiterhin. Allerdings sollte Charalon sich fragen, ob er wirklich die richtigen Leute ausgesucht hat, wenn sie nicht einmal einer Belastung gewachsen sind, die ein alter Mann wie ich über einen wesentlich längeren Zeitraum hinweg aushält."

"Ist es so?", fragte Maziroc leise. Aufgrund seiner Erfahrung, seines Selbstbewusstseins und nicht zuletzt aufgrund seiner kräftigen körperlichen Statur strahlte er eine Stärke aus, der die meisten Menschen sich beugten, sobald sie ihm begegneten. Hier jedoch war es genau anders herum. Eine Aura von Macht, Selbstsicherheit und Autorität umgab den greisen Elbenkönig, gegen die Maziroc sich nur mit Mühe behaupten konnte, weil sie ihn sich plötzlich klein und unbedeutend fühlen ließ. Er spürte, dass er diese Diskussion schon verloren hatte, noch bevor sie richtig begann, weil Eibons bloße Präsenz ihn bereits in die Defensive drängte. "Genau das ist ein weiterer Grund, weshalb ich gekommen bin", fügte er hinzu. "Ich sagte, es ginge möglicherweise auch um Euer Leben, denn ich fürchte, Ihr überschätzt Eure Kräfte."

"Ach ja? Fürchtet Ihr das?", fragte Eibon mit plötzlich geradezu hohntriefender Stimme. Der zuvor sanfte Spott war ätzendem Sarkasmus gewichen, und Zorn flammte in seinem Blick auf. Der Widerschein eines der Lagerfeuer tanzte über sein Gesicht und ließ es für einen Moment wie eine dämonische Fratze aussehen. "Ich denke, das solltet Ihr getrost meine Sorge sein lassen. Ich habe schon wesentlich bedeutsamere Entscheidungen getroffen, lange bevor Ihr überhaupt auf der Welt wart, und ich glaube, ich weiß selbst am besten, wie viel ich mir zumuten kann."

 

"Was soll das?", murmelte Maziroc, irritiert über die plötzliche Aggressivität des Elbenkönigs. "Wir sind ausgezogen, um gemeinsam die Hintergründe einer möglicherweise immensen Gefahr zu ergründen." Auch in seine Stimme mischte sich nun Ärger. "Aber stattdessen habe ich im Moment das Gefühl, in einen Wettkampf zwischen kleinen Kindern geraten zu sein, die sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchen. Ihr und Charalon und wer sonst noch immer, die sich beweisen wollen, wozu sie noch in der Lage sind. Begreift Ihr denn nicht, dass es hier um weitaus Wichtigeres geht? Anderenfalls bin ich hier wohl fehl am Platz und sollte nach Cavillon zurückreiten."

"Das ist ...", zischte Eibon, brach dann aber ab. Der Zorn verschwand aus seinem Blick, und für einen Moment blickte er fast betreten zu Boden. "... richtig", vollendete er den begonnen Satz und lächelte beschämt. "Ich fürchte, Ihr habt recht. Ich mag es nur einfach nicht, wenn man mich behandelt, als ob ich bereits zum alten Eisen gehören würde, deshalb habe ich vielleicht gerade ein wenig heftig reagiert. Bitte entschuldigt. Aber dennoch ist es wichtig, dass wir unser Ziel so schnell wie möglich erreichen. Jede Stunde, die wir vertrödeln, kann weitere Menschenleben kosten."

"Das sehe ich ein, aber es ändert nichts daran, dass vor allem unsere Pferde dieses mörderische Tempo nicht mehr lange durchhalten werden, und wenn wir sie verlieren, dann kommen wir erst recht langsam voran."

Eibon seufzte. "Ich hätte Euch in Ai'Lith gerne ausgeruhte Tiere gegeben, aber Ihr wisst, dass kein Elbenpferd einen menschlichen Reiter duldet."

"Gerade deshalb müssen wir unsere eigenen Pferde schonen, und außerdem auch unsere Leute", beharrte Maziroc unnachgiebig. "Alles wäre kein Problem, wenn wir nur etwas langsamer reiten und ein paar kurze Pausen mehr einlegen würden. Wir würden nicht einmal nennenswert viel Zeit verlieren, und wenn wir angegriffen würden, wären wir jederzeit kampfbereit. Gegenwärtig jedoch wäre kaum einer von uns in der Lage, einem überraschend auftauchendem Angreifer auch nur irgendwelchen nennenswerten Widerstand entgegenzusetzen."

Mit einem Mal lächelte Eibon erneut.

"Glaubt Ihr wirklich, das wüsste ich nicht?", entgegnete er. "Haltet Ihr mich wirklich für einen so schlechten König und Anführer?" Er schüttelte mit mildem Tadel den Kopf. "Wisst Ihr, Maziroc, im Grunde ist dieses ganze Gespräch unnötig. Das hätte ich auch Bayron erklärt, wenn Ihr nicht dazwischengekommen wäret. Von morgen an werden wir ohnehin langsamer vorrücken, weil mir das Gebiet allmählich zu unsicher für einen so raschen Vormarsch erscheint. Ich möchte nicht mit unserer ganzen Truppe in einen Hinterhalt reiten. Aus diesem Grund werde ich Scouts vorausschicken, die das Gelände erkunden. Währenddessen werden die Übrigen langsam nachrücken und genug Gelegenheit haben, sich zu erholen und frische Kräfte zu sammeln. So hatte ich es von Anfang an vor. Seid Ihr nun zufrieden?"

"Und warum habt Ihr das dann nicht gleich gesagt?", fragte Maziroc, ohne auch nur zu versuchen, seine Verärgerung zu verbergen. "Dann hätten wir uns dieses Gespräch wirklich sparen können, und die Männer hätten erst gar nicht begonnen, an Euren Entscheidungen zu zweifeln."

Eibon legte ihm die Hand auf die Schulter.

"Nehmt es mir nicht übel", bat er. "Aber ich wollte hören, was und vor allem wie Ihr mir etwas zu sagen habt. Bayron muss im Interesse seiner Männer sprechen und übertreibt deshalb womöglich. Ihr jedoch habt keinen Grund dazu, und wenn Ihr trotzdem mit solchem Nachdruck darauf drängt, Pferde und Reiter zu schonen, dann scheinen wirklich die meisten am Ende ihrer Kräfte angelangt zu sein. Ihr Menschen seid wesentlich weniger belastbar als wir Elben, sodass es mir manchmal schwerfällt, Eure Grenzen zu erkennen."

"Und deshalb ..."

"Hören wir auf zu streiten", fiel Eibon dem Magier ins Wort. Einige Sekunden lang musterte er ihn prüfend. "Es gibt nur wenige, die es wagen, mich offen zu kritisieren oder auch nur meine Beschlüsse in Frage zu stellen", sagte er. "Euch jedoch scheint das nicht zu kümmern. Ungeachtet meines Ranges und meines Rufs widersprecht Ihr auch mir offen und geradeheraus, wenn Ihr anderer Meinung seid. Dafür verdient Ihr meinen Respekt und meine volle Hochachtung." Er schwieg einen Moment und schüttelte plötzlich den Kopf, als hätte er sich eine Frage gestellt und sie im gleichen Augenblick selbst beantwortet. "Ihr wart noch ein junger, hitzköpfiger Mann, als wir uns vor vielen Jahren das erste Mal begegneten, aber schon damals wusste ich, dass Ihr etwas ganz Besonderes seid. Ihr werdet es einmal weit bringen, Maziroc. Ich bin davon überzeugt, dass noch große Aufgaben auf Euch warten."

Maziroc schwieg, was hätte er auch sagen sollen? Die Worte des Elben machten ihn lediglich verlegen. Er hielt sich keineswegs für etwas Besonderes, und es war auch nicht sein Ziel, große Taten zu vollbringen. Er bemühte sich lediglich, das in seinen eigenen Augen Richtige zu tun und gemäß seinen eigenen Wertmaßstäben zu leben. Schon früh hatte er erkennen müssen, dass man es ohnehin nie allen recht machen konnte, und seither ließ er sich nur noch selten von seiner Umwelt beeinflussen. Den einen war er zu reformfreudig, den anderen zu konservativ, den einen zu streitbar, den anderen zu zurückhaltend, den einen zu barsch, den anderen zu freundlich. Er kümmerte sich nicht darum und eiferte auch keinem anderen nach. Und was seinen Platz in der Geschichtsschreibung betraf, so hatte er erst vor wenigen Minuten festgestellt, wie wenig ihn dies bislang interessierte.

"Vielleicht ist dies sogar schon eine dieser großen Aufgaben", fügte Eibon nach ein paar Sekunden nachdenklich hinzu, als er erkannte, dass Maziroc ihm nicht antworten würde. Er drehte sich halb herum, bis sein Gesicht direkt nach Süden gewandt war, und starrte so intensiv in die Dunkelheit, als ob er sie mit seinen Blicken durchdringen könnte. "Was erwartet uns bloß?", flüsterte er wie im Selbstgespräch, so leise, dass Maziroc ihn kaum verstehen konnte. "Was um alles in der Welt verbirgt sich dort draußen?"