Die Elfen der Dämmerung: 3 dicke Fantasy Sagas auf 1500 Seiten

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"Nein!", brüllte er, sprang wieder auf und versuchte, erneut nach ihr zu greifen, aber das Ungeheuer befand sich mit ihr bereits mehrere Meter über dem Boden und gewann rasend schnell weiter an Höhe. Cara strampelte mit den Beinen und bemühte sich, nach der Kreatur zu schlagen, ohne sich jedoch befreien zu können. Immer noch schrie sie, doch ihre Schreie wurden rasch leiser, als das fliegende Ungeheuer sie mit sich wegschleppte, auf den Rand des Waldes zu.

Es gab nichts, was Selon noch für sie tun konnte. Im Gegenteil, er schwebte selbst weiterhin in größter Gefahr. Rasend vor Trauer und Wut, dass er das Mädchen nicht hatte beschützen können, wie er es sich zur Aufgabe gestellt hatte, zog er sein Messer und wandte sich den übrigen beiden Alptraumkreaturen zu. Nachdem sie ihn verfehlt hatten, mussten sie einen großen Wendekreis fliegen, kamen aber bereits wieder auf ihn zu. Er wartete bis zum allerletzten Augenblick, dann erst warf er sich zur Seite und stieß gleichzeitig das Messer kraftvoll nach oben.

Im ersten Moment glitt die Klinge von dem offenbar unglaublich widerstandsfähigen Panzer am Bauch der Bestie ab, rutschte dann aber in eine Lücke zwischen zwei der Schuppen, zwischen denen es weiterglitt. Um ein Haar wäre Selon die Waffe aus den Händen gerissen worden, doch er hielt den Griff eisern fest. Von ihrem eigenen Schwung vorwärts gerissen, schlitzte sich die Bestie selbst auf. Wenige Meter von ihm entfernt stürzte sie zu Boden, schlug noch ein paarmal im Todeskampf wild mit den Flügeln um sich und blieb dann reglos liegen. Eine Lache aus dunklem, grünlichem Dämonenblut breitete sich unter ihr aus.

Selon begann zu rennen, zurück zum Wald. Nur dort, zwischen den Bäumen, konnte er Schutz finden, während sich das letzte der Ungeheuer ihm gegenüber auf dem freien Feld hier draußen im Vorteil befand. Zudem konnte es nicht mehr lange dauern, bis auch die Bestie, die Cara verschleppt und inzwischen mit allergrößter Wahrscheinlichkeit getötet hatte, zurückkehrte. Dass das Mädchen bereits tot war, daran gab es für ihn kaum noch einen Zweifel - und er allein trug die Schuld daran. Wie ein tonnenschweres Gewicht lastete diese auf ihm. Er hatte die ganze Zeit über gespürt, dass etwas nicht stimmte. Auf gar keinen Fall hätte er sie mit zum Dorf nehmen dürfen; stattdessen hätte er sie fortbringen müssen, in Sicherheit.

Er wusste nicht, mit was für Kreaturen er es hier zu tun hatte und woher sie kamen, doch allein um den Tod Caras und der anderen Bewohner Weidenaus zu rächen, hätte er sie am liebsten alle drei umgebracht, obwohl sie sicherlich nur eine Nachhut bildeten und nicht allein für das Massaker verantwortlich waren. Ohne sein Schwert und seinen Bogen hatte er jedoch so gut wie keine Chance, einen solchen Kampf zu überleben. Zwar hatte er eines der Ungeheuer getötet, doch dabei hatte ein Gutteil Glück eine Rolle gespielt, und er durfte nicht darauf hoffen, dass sich das wiederholen würde.

Noch einen weiteren verhängnisvollen Fehler durfte er nicht begehen. Wichtiger als Rache war es, andere zu warnen, mit welch einer Bedrohung sie es hier zu tun hatten.

Im Laufen blickte er immer wieder über die Schultern zurück und konnte zwei weiteren Angriffen des Ungeheuers nur mit knapper Not ausweichen. Dann hatte er den Waldrand erreicht und taumelte in den Schutz des Unterholzes. Keuchend lehnte er sich gegen einen Baumstamm, löste sich aber gleich darauf mit einem Schmerzensschrei wieder davon. Er war bislang viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, am Leben zu bleiben, als dass er sich um seinen verletzten Rücken gekümmert hätte, wo ihm die Krallen der einen Bestie die Haut zerfleischt hatten. Erst jetzt wurde er sich dieser Wunde wieder bewusst. Sie musste schlimmer sein, als er bislang gedacht hatte, und er hatte bereits eine Menge Blut verloren. Im Moment konnte er jedoch nichts dagegen tun. Er trug nichts bei sich, woraus er einen Verband dieser Größe anfertigen konnte, und ihm blieb nicht die Zeit, erst lange nach Heilkräutern und geeigneten Blättern zu suchen. Erst wenn er sein Pferd mit seinem Gepäck erreichte, konnte er die Wunde versorgen.

Ohne sich um den Lärm zu kümmern, den er verursachte, hastete er durch das Unterholz. Für einen eventuellen Verfolger bildete ohnehin die Spur aus Blutstropfen, die er hinter sich zurückließ, eine deutliche Fährte. Aber von den Flugbestien war im Moment nichts mehr zu entdecken. Sie schienen nicht durch das dichte Blätterdach der Bäume dringen zu können, und außerdem standen die Bäume viel zu dicht beieinander, als dass sie ihre Schwingen hier entfalten könnten. Zumindest vorläufig war er vor ihnen in Sicherheit, deshalb brauchte er sich auch nicht zu bemühen, leise zu sein.

Allerdings bildeten sie nicht die einzige Gefahr, vor der er sich fürchtete. Cara hatte von Ungeheuern gesprochen, die ihr Dorf angegriffen hätten, und obwohl es sich bei den Flugwesen um furchteinflößende Bestien handelte, passte ihr Aussehen nicht zu der sonstigen Beschreibung des Mädchens. Offenbar handelte es sich um eine größere Zahl verschiedenartiger dämonischer Kreaturen, die geradewegs aus einem Höllenpfuhl hervorgekrochen zu sein schienen, der sich unvermutet geöffnet hatte.

Hinzu kam noch etwas ganz anderes. Bei den Wesen, die er gesehen hatte, handelte es sich offenbar um Tiere ohne nennenswerte Intelligenz. Als solche aber wären sie kaum in der Lage, Feuer zu entzünden und alle überfallenen Höfe und Dörfer systematisch niederzubrennen. Sie wären auch nicht in der Lage, taktisch bedacht eine Nachhut zurückzulassen, die nach eventuellen Überlebenden oder Spurensuchern Ausschau hielt. All das deutete darauf hin, dass hinter den Bestien noch andere standen, die sie lenkten, was die Gefahr noch um ein Vielfaches vergrößerte.

Selons Lauf ging immer mehr in ein erschöpftes Taumeln über, und immer häufiger musste er sich an Bäumen abstützen und ein paar Sekunden lang rasten, bis er endlich sein Pferd erreichte. So gut es ging, rieb er sich den Rücken mit einer Heilsalbe ein und wickelte einen dicken Verband um seinen gesamten Oberkörper. Er hoffte, dass diese Maßnahmen noch nicht zu spät kamen, denn nun spürte er deutlich, wie viel Blut er bereits verloren hatte. Er fühlte sich schwach und erschöpft, war am Ende seiner Kräfte angelangt. Immer wieder wurde ihm schwindelig, auch als er bereits im Sattel saß, sodass er ein paarmal fast wieder vom Pferd gefallen wäre.

Die nächstgelegene Stadt war Brelonia, mehr als einen halben Tagesritt im Nordwesten. Dort würde man sich um ihn kümmern, und er würde fachkundige Hilfe von einem Heiler bekommen.

Vor allem aber musste er die Menschen dort warnen. Nicht nur sein eigenes Leben hing davon ab.

Er musste es bis Brelonia schaffen.

Er musste.




Schatten am Horizont


Der Sommer war erst wenige Wochen alt, und der Tag, der sich nun allmählich seinem Ende entgegenneigte, war der bislang schönste und wärmste dieses Jahres gewesen, das als eines der schrecklichsten und blutigsten in die Geschichtsschreibung Arcanas eingehen sollte.

So wenig Maziroc, der Magier, jedoch bereits von den finsteren Schatten ahnte, die sich am Horizont zusammenballten, so wenig nahm er von der Schönheit des Tages wahr. Vorhänge an den Fenstern sperrten bereits seit den frühen Morgenstunden das Sonnenlicht aus, und die Wände waren zu dick, als dass die Wärme bereits bis in sein Zimmer in einem der schwarzen Basalttürme der Ordensburg Cavillon vorgedrungen wäre.

Lediglich dämmeriges Zwielicht erfüllte den Raum; ein geisterhafter bläulicher Schein, der von zwei Gegenständen auf einem Tisch in der Mitte des Zimmers ausging: Einem schlichten Goldring und einem Medaillon, in dessen Oberfläche zahlreiche fremdartige Symbole eingraviert waren. In tiefe Trance versunken fixierte der Magier bereits seit Stunden die beiden Skiils, versuchte, seinen Geist in Einklang mit ihnen zu bringen und sie so an sich anzupassen. Skiils waren Artefakte, die einem magisch genügend starken Träger eine bestimmte Zauberkraft verliehen. Um sie nutzen zu können, musste man jedoch eine geistige Verbindung mit ihnen eingehen, eine Art Symbiose. Es war bereits eine schwierige und aufwendige Prozedur, ein einzelnes Skiil auf sich abzustimmen. Mit zweien zugleich hatte Maziroc es noch nie versucht, denn es galt als unmöglich, doch er betrachtete es schon seit Langem als eine Herausforderung, die er nun fast gemeistert hatte. Obwohl aus leblosen Materialien bestehend, waren die Skiils fast wie störrische kleine Tiere, die sich nur widerwillig einem Träger unterwarfen, doch viel fehlte nun nicht mehr, um ihren Widerstand zu brechen.

Mit einer letzten geistigen Anstrengung drang Maziroc bis zu ihrem Kern vor und stellte die symbiotische Verbindung her. Im gleichen Moment spürte er, wie magische Energie wie ein warmer Strom, der ihn umspülte, zwischen ihm und den beiden Skiils hin und her zu fließen begann. Vom Gefühl des Triumphes erfüllt, dass er das vermeintlich Unmögliche geschafft hatte, erwachte er aus seiner Trance und schlug die Augen auf. Trotz der stundenlangen Konzentration und Anspannung fühlte er sich nicht erschöpft, sondern dank des errungenen Erfolges gestärkt und voller Tatendrang.

 

Das Leuchten der beiden Skiils begann zu verblassen, und Dunkelheit breitete sich im Raum aus. Maziroc trat an eines der Fenster und schob den Vorhang zur Seite. Geblendet musste er für ein paar Sekunden die Augen schließen, als grelles Sonnenlicht hereinströmte. Gleich darauf hämmerte jemand lautstark mit der Faust gegen die Tür.

"Was ist denn?", fragte er barsch. Er hätte sich gerne noch eine Weile im Glanz seines Erfolgs gesonnt und war entsprechend ungehalten über die Störung. Seine Reaktion wäre mit Sicherheit noch wesentlich harscher ausgefallen, wenn er durch das Klopfen zuvor aus seiner Konzentration gerissen und der Erfolg seiner Bemühungen zunichte gemacht worden wäre.

Die Tür wurde aufgerissen, und Brak, einer der jungen Dienst- und Botenjungen in Cavillon, kam hereingestürmt. Vor Aufregung war sein Gesicht gerötet. "Elben, Herr!", stieß er hervor. "Man hat Elben gesehen! Und sie sind auf dem Weg hierher!"

"Und?", murmelte Maziroc geistesabwesend.

"Aber Herr, habt Ihr denn nicht gehört? Es handelt sich um Elben!"

Maziroc seufzte. Er durfte nicht vergessen, wie jung Brak noch war. Für ihn selbst waren Elben nichts Ungewöhnliches; seine ausgedehnten Reisen hatten ihn sogar schon mehrfach bis nach Ai'Lith geführt, der Hohen Festung der Elben, und - obgleich selten - kam es immer wieder mal vor, dass Späher der Elben Cavillon einen Besuch abstatteten. Für jemanden wie Brak, der vermutlich noch nie in seinem Leben Angehörige des Alten Volkes gesehen hatte, mochte ihre Ankunft hier jedoch ein ungeheuer aufregendes Erlebnis sein. In weiten Kreisen der Bevölkerung galten Elben als fast übernatürliche, mystische Wesen.

"Doch, ich habe es gehört", antwortete er. "Aber ich fürchte, du wirst bitter enttäuscht werden, wenn du allzu hohe Erwartungen hegst. Die Elben sind keine göttergleichen Wesen, so wenig wie die Zwerge oder wir Magier, obwohl man es auch von uns gelegentlich denkt. Sie sind einfach nur ein sehr altes und weises Volk."

Das war gewaltig untertrieben. Die Elben waren nicht einfach nur alt und weise, sie waren das mit Abstand älteste bekannte Volk. Schon lange, bevor es sie ersten Zwerge oder gar Menschen gegeben hatte, hatten bereits die Elben auf Arcana gelebt. Im Laufe ihrer langen Existenz hatten sie einen schier unglaublichen Reichtum an Wissen gesammelt, den sie nur äußerst selten und widerwillig mit anderen teilten. Gerade deshalb galten sie nicht nur als eines der weisesten, sondern auch als eines der geheimnisvollsten Völker. Davon jedoch erwähnte Maziroc nichts, um dem Mythos nicht noch neue Nahrung zu verschaffen.

"Wie Ihr meint, Herr", murmelte Brak, doch es klang nicht sehr überzeugend, und das Feuer der Begeisterung in seinen Augen brannte kein bisschen weniger hell. "Auf jeden Fall hat mich Charalon zu Euch geschickt. Er möchte, dass Ihr beim Empfang der Elben dabei seid."

Maziroc runzelte die Stirn. Eine solche Bitte vom Oberhaupt des Magierordens war ziemlich ungewöhnlich. Genau wie er selbst kannte auch Charalon die Elben, hatte sogar schon wesentlich öfter mit ihnen zu tun gehabt, und bislang hatte er noch nie besondere Vorkehrungen getroffen oder sonst irgendwelchen Aufwand betrieben, nur weil einige Angehörige des Alten Volkes Cavillon einen Besuch abstatteten. Wenn er es diesmal tat, dann bedeutete das, dass etwas Bedeutsames geschehen war. Oder dass wichtige Ereignisse bevorstanden.

"Gut, sag Charalon, dass ich gleich kommen werde", erklärte er. Er wartete, bis Brak das Zimmer wieder verlassen hatte, dann nahm er den Ring vom Tisch und trat erneut ans Fenster. In der Ferne konnte er bereits die Gruppe der Elben sehen, zumindest war anzunehmen, dass es sich bei den winzigen dunklen Punkten auf einem Hügelkamm um die Delegation des Alten Volkes handelte. Was ihn überraschte, das war ihre Zahl. Er hatte mit drei, vier Spähern gerechnet, doch stattdessen mussten es mindestens zwanzig bis dreißig Reiter sein. Wenn Elben in einer so großen Gruppe reisten, dann war das in der Tat etwas Besonderes. Auf jeden Fall stellte es eine gute Gelegenheit dar, das frisch angepasste Skiil zu erproben, das die Fähigkeit besaß, Entfernungen für den Blick zusammenschrumpfen zu lassen. Maziroc kniff ein Auge zu, hob den Ring vor das andere und spähte hindurch. Zunächst sah er alles nur verschwommen, und er musste sich konzentrieren, um das Skiil schärfer zu fixieren, dann schälten sich allmählich deutlichere Konturen aus dem Dunst. Er konnte die Reiter nun so klar sehen, als ob sie nur noch weniger als halb so weit entfernt wären. Es handelte sich tatsächlich um rund zwei Dutzend Elben, von denen die in grün gekleideten Späher allerdings den geringsten Teil stellten. Die übrigen trugen Kettenhemden, und ihr Wams darüber zweigte das dunkle Braun der Elbenkrieger.

Und in ihrer Mitte ...

Ungläubig ließ Maziroc den Ring sinken, blinzelte ein paarmal und starrte dann erneut durch das Skiil. Er hatte sich nicht getäuscht. Mit einem Mal ergab alles einen Sinn: die große, schwer bewaffnete Eskorte, und auch, dass Charalon ihn hatte rufen lassen, damit er bei der Ankunft der Gäste vom Alten Volk anwesend war.

Der Mann in einem schlichten sandfarbenen Gewand, der inmitten der Krieger ritt, war niemand anders als Eibon Bel Churio, der König des Alten Volkes!

Maziroc konnte es kaum glauben, aber es war kein Zweifel möglich. Bei seinem ersten Besuch in Ai'Lith hatte er den Elbenkönig gesehen, beim zweiten Mal war er bereits von ihm empfangen worden, und mittlerweile waren sie einander freundschaftlich verbunden. Der Mann war Eibon, dem man bereits wenige Jahre nach Antritt seines Amts den Ehrentitel "Bel Churio" verliehen hatte, was in der Ursprache der Elben Der Erleuchtete bedeutete. Ihm war es gelungen, den jahrhundertealten Krieg der Elben gegen die Barbaren der Südländer zu beenden und einen für beide Seiten ohne Gesichtsverlust annehmbaren Friedensvertrag auszuhandeln, der seither Bestand hatte.

Allerdings verließ Eibon die Hohe Festung nur noch äußerst selten. Wenn er nun die weite Reise auf sich genommen hatte, um persönlich nach Cavillon zu kommen, dann musste es wirklich einen extrem wichtigen Grund dafür geben.

Von einem Gefühl jähen Unbehagens erfüllt, eilte Maziroc zur Tür, hastete die Treppe des Turms hinab, eilte über mehrere Korridore und durch die gewaltige Eingangshalle des Hauptgebäudes mit ihren barocken Rundbögen und den säulengestützten, mehr als zehnfach mannshohen Fenstern, bis hinaus auf den Hof, wo sich bereits zahlreiche andere Magier und Hexen zusammengefunden hatten. Auf Anhieb entdeckte er Charalon zwischen ihnen und trat auf das Oberhaupt des Ordens zu.

Wie meist - zumindest, wenn er sich in der Öffentlichkeit zeigte - trat Charalon als ein kräftiger Hüne mir scharf geschnittenen Gesichtszügen und wallendem, angegrautem Haar auf. Das war jedoch nur eine durch Magie erzeugte Illusion. Zwar stimmte die hünenhafte Statur, doch aufgrund eines fehlgeschlagenen Experiments hatte Charalon bereits in jungen Jahren sämtliches Haar verloren, und sein Gesicht war noch immer von zahlreichen Brandnarben verunstaltet. Außer Maziroc gab es jedoch nur wenige, die ihn jemals so gesehen hatten. Nicht allein Eitelkeit trieb Charalon zu seiner Maskerade. Immerhin war er das Oberhaupt des Ordens und musste dessen Macht und Bedeutung nach außen hin repräsentieren. Die meisten, die ihn in seiner wahren Gestalt sahen, hätten jedoch beachtliche Schwierigkeiten, in ihm den vielleicht mächtigsten Magier zu erkennen, der jemals gelebt hatte. Allzu oft gingen die Menschen nur nach Äußerlichkeiten und ließen sich von diesen blenden. Diesem Umstand hatte sich Charalon mit der magischen Illusion angepasst, machte ihn sich sogar zunutze, indem er sich ein Aussehen verschafft hatte, das dem Bild anderer von einem Mann seiner Bedeutung entsprach.

"Was hat das zu bedeuten?", fragte Maziroc besorgt. "Weißt du etwas darüber?"

"Nicht mehr als du", behauptete Charalon. Seine Stimme klang volltönend und autoritätsgewohnt. "Aber wenn Eibon sich trotz seines Alters noch einmal persönlich hierher bemüht, dann muss er wichtige Gründe dafür haben. Deshalb habe ich alle zusammenrufen lassen."

"Und genau diese Gründe bereiten mir Sorgen", erwiderte Maziroc. "Es herrscht schon seit so vielen Jahren Frieden, und wir haben Wohlstand und einen wirtschaftlichen Aufschwung sondergleichen erlebt, dass es eigentlich kaum noch bedeutend besser werden kann. Wenn es also so wichtige Neuigkeiten gibt, dass Eibon meint, sie persönlich überbringen zu müssen, dann fürchte ich deshalb, dass es sich nur um schlechte Nachrichten handeln kann."

"Eine nicht unbedingt logische Folgerung. Außerdem herrscht bei Weitem nicht überall Frieden. Du bist und bleibst einfach ein unverbesserlicher Schwarzseher."

"Nur Realist", korrigierte Maziroc schmunzelnd. "Und manchmal sogar Optimist, weil Glaube bekanntlich Berge versetzen kann. Etwas Vergleichbares ist mir gerade gelungen. Ich habe es endlich geschafft, zwei Skiils gleichzeitig auf mich abzustimmen."

"Du hast ..." Charalon brach ab, starrte Maziroc ein paar Sekunden lang ungläubig an, dann lachte er kopfschüttelnd und schlug ihm ein paarmal kräftig auf die Schulter. "Maziroc, mein Freund, du bist unglaublich. Ich war fest davon überzeugt, dass du nur einem Phantom nachjagen würdest. Was du geschafft hast, ist selbst mir noch nie gelungen. Allmählich machen deine magischen Fähigkeiten sogar mir fast schon Angst."

"Das sollten sie auch, denn du hast mir alles beigebracht, was du weißt, aber ich habe noch eine Menge dazugelernt, wovon du nicht einmal etwas ahnst", behauptete Maziroc scherzend. Lächelnd fügte er hinzu: "Außerdem habe ich einen großen Vorteil auf meiner Seite. Ich lebe allein und kann mich meinen Experimenten beliebig lange und intensiv hingeben, während du den Großteil deiner freien Zeit deiner Frau widmest."

"Aus deren Liebe ich aber wiederum mehr Kraft schöpfen kann, als du auch nur für möglich halten würdest", konterte Charalon.

Seine Worte waren wie dieses ganze Gespräch nur scherzhaft gemeint, dennoch schmerzte die Bemerkung Maziroc, obwohl er sie sogar selbst aus Unachtsamkeit provoziert hatte. Vor vielen Jahren hatte auch er einst von ganzem Herzen geliebt. Cyra, seine Angebetete, war eine Prinzessin am Kaiserhof von Aslan gewesen. Auch sie hatte ihn geliebt, und die Verbindung hatte den Segen ihres Vaters erhalten. Bevor sie jedoch hatten heiraten können, hatte es in Aslan einen Umsturzversuch gegeben, während Maziroc in Cavillon geweilt hatte. Zwar war der Aufstand niedergeschlagen worden, doch in den Wirren der Revolte war Cyra von einem unbekannt gebliebenen Attentäter erdolcht worden. Ihr Tod hatte Maziroc das Herz gebrochen. Aus immer noch andauernder Liebe zu Cyra und um ihr Andenken zu ehren, hatte er den Frauen und der Liebe seither entsagt.

Charalon hingegen war seit vielen Jahrzehnten glücklich verheiratet, auch wenn die Ehe zu seinem größten Bedauern kinderlos geblieben war. Sicherlich hatte er mit seiner Bemerkung keine alten Wunden neu aufreißen wollen, und Maziroc bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, welchen Stich sie ihm versetzt hatten.

"Dann vergiss dabei vor allem aber eines nicht", setzte er die Flachserei fort. "Ich bin noch halbwegs jung, während du deine beste Zeit längst schon hinter dir hast, alter Mann. Schon allein deshalb werde ich dich irgendwann einholen und deine Fähigkeiten noch übertreffen."

"Ach ja? Wir können ja demnächst wieder einen kleinen Wettkampf veranstalten, dann wird der alte Mann dir mal zeigen, wozu er noch immer imstande ist. Und statt herumzuprahlen, erzähl mir lieber, um was für Skiils es sich gehandelt hat."

"Ein Ring, mit dem man in die Ferne schauen kann, und ein Medaillon, das die Gesundheit stärkt", berichtete Maziroc. "Ein recht leichtes und ein mittelschweres also. Der Trick war, erst die beiden Skiils miteinander in Einklang zu bringen, was das Schwerste war. Anschließend konnte ich sie mir beide zugleich anpassen."

Ein heller Fanfarenstoß von einem der Türme beendete ihr Gespräch, als die Elben durch das weit geöffnete Tor ritten. Sie bildeten ein beidseitiges Spalier, durch das Eibon herankam. Unmittelbar vor Charalon und Maziroc zügelte er sein Pferd und stieg ab. Wie alle Elben sah er trotz seines extrem hohen Alters immer noch jung, fast jugendlich aus, und auch sein Haar war immer noch voll und strahlend weiß. Lediglich ein Blick in seine grünen Augen, in denen ein ungeheuerer Schatz an Wissen und Lebenserfahrung geschrieben stand, vermochte einem aufmerksamen Beobachter eine Ahnung davon zu vermitteln, wie alt der Elbenkönig in Wahrheit war.

 

"Ich grüße Euch, Eibon Bel Churio. Seid uns in Cavillon herzlich willkommen", begrüßte Charalon ihn und deutete eine Verbeugung an.

"Gruß auch Euch, Charalon, Oberhaupt des Ordens der Magier. Wir nehmen Eure Gastfreundschaft mit Freude und Dankbarkeit an", erwiderte Eibon den rituellen Gruß. Gleich darauf umarmten sich die beiden Männer freundschaftlich.

"Du warst schon lange nicht mehr hier", stellte Charalon fest, nun sämtliche Formalitäten bei der Anrede fallen lassend.

"Ich habe die Hohe Festung überhaupt schon lange nicht mehr verlassen", erklärte der König der Elben. "Allmählich macht mir das Alter doch immer stärker zu schaffen. Meine Gesundheit ist längst schon nicht mehr die beste, und dies wird mit Sicherheit mein letzter Besuch hier sein. Ich werde sterben, mein Freund, schon bald. Aber vorher wollte ich Cavillon noch einmal sehen."

"Du übertreibst wie üblich", widersprach Charalon. "Ich bin fest davon überzeugt, dass du noch viele Jahre vor dir hast."

"Nein, nein, diesmal nicht", erklärte Eibon. "Machen wir uns nichts vor. Aber ich habe ein langes und erfülltes Leben gehabt, dazu noch ereignisreicher als das vieler anderer, sodass mich der Gedanke an den Tod nicht schreckt. Es gibt wesentlich Schlimmeres, und das ist der zweite, der Hauptgrund, aus dem ich persönlich hergekommen bin."

"Wir dachten uns bereits, dass Ihr schlechte Nachrichten bringt", mischte sich Maziroc ein, obwohl er sich in diesem Punkt gerne geirrt hätte. "Allerdings ist ..."

Er wurde unterbrochen, als sich von hinten eine Frau mit langen, dunklen Haaren zwischen ihm und Charalon hindurch zwängte. "Der Bund der Vingala möchte Euch ebenfalls in Cavillon willkommen heißen", wandte sich Shalana, die Sprecherin der Hexen, an den Elbenkönig. Mit ihrer schlanken Figur und ihrem liebreizenden Gesicht hätte sie eine wunderschöne Frau sein können, wenn sich nicht ein ständiges Misstrauen und eine Streitlust in ihre Züge gegraben hätten, die sie bereits frühzeitig verhärmt aussehen ließen. "Außerdem verlangen die Vingala, an allen wichtigen Besprechungen teilnehmen zu können."

"Auch Eure Gastfreundschaft nehmen wir mit Freude und Dankbarkeit an", erwiderte Eibon. Wenn ihn das Verhalten der Hexe verwunderte, so zeigte er es zumindest nicht. "Und wir hegen keinerlei Wunsch, Euch in irgendeiner Form auszugrenzen. Was wir zu besprechen haben, betrifft jeden, nicht nur hier in Cavillon, sondern möglicherweise in ganz Arcana." Er wandte sich wieder an Charalon. "Deshalb möchte ich dich bitten, möglichst schnell eine Versammlung einzuberufen. Ich bringe wichtige Kunde."

"So soll es geschehen", erklärte Charalon mit einem Nicken. "Man wird dir und deinen Begleitern eure Quartiere zeigen, damit ihr euch frisch machen und kurz erholen könnt, und in einer Stunde treffen wir uns alle im großen Sitzungssaal."

*


Gespanntes Schweigen erfüllte den riesigen Saal mit dem gläsernen, von marmornen Pfeilern gestützten Kuppeldach, durch das helles Sonnenlicht hereinfiel. Mehr als achtzig Magier und rund dreißig Hexen hatten sich an einem langen, ovalen Tisch versammelt, und die meisten hatten sich dem Anlass entsprechend herausgeputzt. Widerwillig hatte auch Maziroc sein mit zahlreichen Bordüren und sonstigen Verzierungen besetztes Festgewand angelegt, obwohl er es nur äußerst ungern trug. Er war kein großer Freund von Pomp und förmlicher Etikette, außerdem spannte das Gewand mittlerweile ziemlich an den Hüften. Es lag Jahre zurück, dass er es zuletzt getragen hatte, und obwohl er es sich nur widerwillig eingestand, war er längst nicht mehr so schlank wie früher, sondern hatte gerade in den letzten Jahren deutlich zugenommen.

Nur vereinzelt war leises Getuschel im Saal zu hören, aber auch das brach schlagartig ab, als Eibon den Raum betrat. Er hatte sich ebenfalls umgezogen; anstelle der sandfarbenen Kutte trug er nun das weiße, mit zahlreichen Goldstickereien versehene Prachtgewand der Elbenkönige, und er hatte auch auf eine größere Eskorte verzichtet. Lediglich zwei seiner Krieger begleiteten ihn, doch auch diese hatten ihre Kettenhemden und die Waffen abgelegt. Sie blieben in respektvollem Abstand hinter ihrem König stehen, als dieser seinen Platz neben Charalon an einem der Kopfenden des Tisches einnahm.

"Ich habe diese weite Reise unternommen und diese Versammlung einberufen lassen, um euch von einer gefährlichen Entwicklung zu berichten, die sich im Süden der Nordermark und möglicherweise sogar bis hinunter in die Barbarenländer angebahnt hat", begann er, nachdem er seinen Blick einige Sekunden lang über die Anwesenden hatte schweifen lassen. "Bereits vor über einem Monat haben wir die ersten Gerüchte gehört, dass einige Höfe und kleinere Dörfer in dieser Gegend überfallen und niedergebrannt worden sein sollen. Deshalb haben wir mehrere Späher in dieses Gebiet geschickt. Wir dachten zunächst, es würde sich um einen ausgedehnteren Raubzug der Hornmänner handeln, von denen man in letzter Zeit immer wieder hört. Die Überfälle trugen ihre Handschrift."

"Verzeiht, wenn ich Euch unterbreche, aber was versteht Ihr unter der Handschrift der Hornmänner?", ergriff Shalana das Wort. Maziroc war davon überzeugt, dass sie sehr genau wusste, wovon Eibon sprach, dass sie die günstige Gelegenheit aber nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte, sich selbst wieder in den Vordergrund zu drängen. Er kannte sie inzwischen gut genug, und dergleichen war bei ihr durchaus nicht ungewöhnlich.

In den vergangenen Jahren, vor allem aber in den letzten Monaten, hatte es immer wieder Konflikte zwischen den Magiern und den Hexen gegeben, die sich innerhalb des Ordens unterrepräsentiert und diskriminiert fühlten. Das war der Grund gewesen, weshalb sie sich zu einem eigenen Bund zusammengeschlossen hatten. Unter der Führung der streitbaren Shalana bildeten die Vingala schon jetzt beinahe einen eigenen Orden innerhalb des Ordens, und wenn diese Tendenzen sich fortsetzten, stand zu befürchten, dass es im ungünstigsten Fall irgendwann zu einer Abspaltung und einer damit verbundenen Schwächung kommen würde.

"Im Gegensatz zu anderen Plünderern oder Räuberbanden hinterlassen die Hornmänner niemals Überlebende", antwortete Eibon. "Sie töten jeden, den sie finden, gleichgültig, ob es sich um Kinder, Greise oder Frauen handelt."

"Ich protestiere energisch gegen diese Formulierung", ereiferte sich Shalana. Sie sprang auf und deutete anklagend auf den Elbenkönig. "Der Tod von Frauen wiegt kein bisschen schwerer oder weniger schwer als der von Männern, seien sie nun alt oder jung."

Irritiert blickte Eibon sie an. Er wusste nichts von den Hintergründen des zwischen Magiern und Hexen schwelenden Streits und konnte Shalanas Äußerung deshalb auch nicht entsprechend einordnen. Charalon hingegen war über ihr Verhalten sichtlich wütend und bewahrte nur noch mit Mühe die Beherrschung. Auch Maziroc war nicht gerade glücklich darüber, dass Shalana ausgerechnet diesen Moment dazu nutzte, die Standpunkte der Vingala zu propagieren, ganz egal, wie richtig oder falsch diese sein mochten. Anderseits jedoch konnte er sie verstehen.

Es gab beträchtlich weniger Hexen als Magier, und zudem waren ihre magischen Fähigkeiten meist erheblich schwächer, beschränkten sich hauptsächlich auf die Heilkunst. Aus diesem Grund hatten sie innerhalb des Ordens lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Erst in den vergangenen Jahren hatten sie unter der Führung Shalanas begonnen, aktiver für mehr Rechte und eine größere Beteiligung an allen Entscheidungsprozessen zu kämpfen. Allerdings schossen sie nach Mazirocs Meinung dabei oftmals über das Ziel hinaus, und er hatte beträchtliche Zweifel daran, ob sie den richtigen Weg einschlugen. Anerkennung, Einfluss und Bedeutung erhielt man nicht aufgrund von Forderungen geschenkt, sondern man erwarb sie sich durch Weisheit, durch entschlossenes und umsichtiges Handeln, wenn es darauf ankam, und indem man bereit war, Eigeninitiative zu entwickeln und Verantwortung zu übernehmen. Das Problem war nur, dass - von wenigen Ausnahmen abgesehen - kaum eine Hexe in früheren Zeiten daran Interesse gezeigt hatte. Nun schlug dies ins genaue Gegenteil um; innerhalb kürzester Zeit versuchten sie fast schon gewaltsam, die bestehenden Verhältnisse umzukehren. Vielen von ihnen schien es dabei leider mehr auf eine Gelegenheit zur Profilierung anzukommen, als darauf, ob eine von wirklich die geeignetste Person für die entsprechende Aufgabe war.